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Legistischer Exportartikel aus 1812

Von Elisabeth Berger*

Wirtschaft

Am 1. Jänner 1812, also vor 190 Jahren, trat das österreichische Zivilgesetzbuch in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt konnte die am 1. Juni 1811 als "Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie" kundgemachte Privatrechtskodifikation bereits auf eine bemerkenswert lange, nämlich knapp 60 Jahre währende Entwicklung zurückblicken.


Bereits 1753 hatte Kaiserin Maria Theresia eine Gesetzgebungskommission beauftragt, für alle ihre Länder (mit Ausnahme Ungarns) ein einheitliches, allgemeines bürgerliches Recht auszuarbeiten. Da das 1766 vorliegende Ergebnis dieser Arbeiten, der Codex Theresianus, nur sehr bedingt auf Zustimmung stieß, ordnete sie 1772 dessen Umarbeitung an.

Diese mündete 1786 unter Kaiser Josef II. in das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, mit dem allerdings vorerst nur der erste Teil des Gesetzes zur Kundmachung kam - zur Unterscheidung vom gleichnamigen ABGB von 1811 wurde dieses Gesetz in der Folge "Josefinisches Gesetzbuch" genannt. Die beabsichtigte Sanktion des zweiten und dritten Teils des Entwurfs wurde durch den plötzlichen Tod des Monarchen verhindert. Mit dem ebenfalls 1786 erlassenen Erbfolgepatent und dem Teil-ABGB verfügten die deutschen Erbländer und Galizien über ein einheitliches Personen-, Familien- und Erbrecht.

Das Bemerkenswerte daran ist, dass damit in der Habsburgermonarchie schon vor dem Inkrafttreten der anderen europäischen Naturrechtskodifikationen - dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794 und dem Code Civil von 1804 - eine zumindest partielle Privatrechtsvereinheitlichung stattfand.

Auf diesen Vorarbeiten aufbauend begann 1790 unter der Leitung von Karl Anton von Martini die zweite Kodifikationsphase: Der 1796 vorgelegte sogenannte "Entwurf Martini" wurde, geringfügig umgearbeitet, 1797 zunächst für Westgalizien und kurz darauf für Ostgalizien kundgemacht und trat 1798 in ganz Galizien und Buchenland (Bukowina) in Kraft. Mit dem Galizischen Bürgerlichen Gesetzbuch (meist unzutreffend Westgalizisches Gesetzbuch genannt) verfügte die Habsburgermonarchie nach dem unvollständigen Teil-ABGB 1786 nunmehr in einem Teil des Reiches - quasi als Vorläufer für die Gesamtmonarchie - über die erste vollständige europäische Privatrechtskodifikation. (Das kurz davor in den preußischen Ländern in Kraft getretene ALR enthielt demgegenüber neben privatrechtlichen Regelungen auch noch Öffentliches Recht.)

Unter der maßgeblichen Mitwirkung Franz von Zeillers wurde das Galizische Gesetzbuch als sogenannter "Urentwurf" weiter überarbeitet. Das Resultat war unser heutiges Zivilgesetzbuch, das 1812 in Kraft gesetzte ABGB. Als, wie sein Titel schon sagt, "allgemeines" Gesetzbuch sollte das ABGB in den habsburgischen Ländern - zunächst mit Ausnahme der ungarischen Länder - ein formell einheitliches Recht schaffen. Was in einem multinationalen Staat wie der Habsburgermonarchie nur durch die Unabhängigkeit von unterschiedlichen Landesrechten und nationalen Besonderheiten zu erzielen war, die demgemäß auch kaum Eingang in das Gesetzbuch fanden.

Zahlreiche Übersetzungen

Um allen Staatsangehörigen die Kenntnis des Gesetzestextes zu ermöglichen, wurde der Rechtstext u. a. ins Polnische, Tschechische und Italienische übersetzt. Infolge der Rechtsvereinheitlichung im gesamten Kaisertum Österreich ab 1849 und der Ausdehnung des Geltungsbereichs des ABGB 1852/53 auf Ungarn und dessen Nebenländer kam es zu Übersetzungen ins Ungarische, Serbische und Kroatische. Später wurden auch Übersetzungen ins Hebräische, Englische und Französische vorgenommen.

Obwohl die Arbeiten an den großen naturrechtlichen Kodifikationen relativ zeitgleich erfolgten, wiesen sie doch ganz erhebliche, aus dem jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Umfeld entspringende, Unterschiede auf: Im Gegensatz zu den den Grundsätzen der Französischen Revolution verpflichteten "revolutionären" und "liberalen" Code Civil aus 1804 war das ALR aus 1794 noch in jeder Hinsicht als "konservatives" und "ständisches" Gesetz ausgestaltet.

Das ABGB nahm eine Art Zwischenstellung ein. Es enthielt - ebenso wie seine Vorläufer aus 1786 und 1797 - eine Reihe von spezifisch ständisch gebundenen Rechtsinstituten, wie z. B. das Geteilte Eigentum, die adeligen Familienfideikommisse und die bäuerliche Erbpacht. Dies stand allerdings einer legistischen Weiterentwicklung hin zu einem "allgemeinen", d. h. für alle gleichen, Gesetzbuch nicht im Wege, weshalb auch heute noch ein relativ hoher Prozentsatz seiner ursprünglichen Paragraphen in Geltung steht.

Seine beeindruckende Lebenskraft, die das ABGB seit nunmehr 190 Jahren überzeugend unter Beweis stellt, hat mehrere Gründe: Rechtstechnisch betrachtet bestach es in seiner ursprünglichen Fassung durch seine kurze und prägnante, jedwede Kasuistik vermeidende Ausdrucksweise sowie durch seine schlichte, allgemein verständliche, ja geradezu volkstümliche Sprache. Das lag vor allem daran, dass das ABGB als eine Art "Rechts-Lexikon" für den gebildeten Bürger gedacht war, der sich ohne juristischen Beistand, Sachregister oder Marginalien Rechtskenntnisse verschaffen können sollte.

Zum leichteren Verständnis trug weiters die - v. a. Franz von Zeiller zu verdankende - vernunftrechtliche und daher logische Konstruktion des Gesetzbuchs bei. Neutralität und Elastizität seiner Regelungen ermöglichten es, den wechseln-den Anforderungen nahezu mühelos gerecht zu werden. Ernsthaft gefährdet war der Bestand des ABGB vor allem gegen Ende des 19. Jhs., als man unter dem Eindruck des eben fertiggestellten deutschen BGB eine Gesamtrevision der österreichischen Zivilrechtskodifikation erwog, die jedoch schlussendlich zugunsten der Teilrevision des ABGB von 1914-1916 unterblieb.

Vorbildwirkung in Europa

Nicht nur die lange Geltungsdauer, sondern auch der Blick auf die legislatorischen Leistungen der Gegenwart belegen in überzeugender Weise, dass es sich beim ABGB um eine gesetzgeberische Leistung ersten Ranges handelt. So verwundert es nicht, dass es in zahlreichen europäischen Ländern als Vorbild diente. Dabei handelte es sich sowohl um monarchische Einzelstaaten des Deutschen Bundes, als auch um liberale wie konservative Kantone der Schweiz. Auch das Fürstentum Liechtenstein setzte im Februar 1812 - ungeachtet seiner damaligen Zugehörigkeit zum Rheinbund - nicht den Code Civil, sondern (bis 1846 mit Ausnahme des Erbrechts) das ABGB in Kraft.

Die solcherart vielfach erprobte Anpassungsfähigkeit und Vorbildwirkung lassen keinen Zweifel daran, dass das österreichische ABGB als bestes Beispiel für ein universelles Produkt europäischer Gesetzeskultur dienen kann. Es wird daher auch seinen 200. Geburtstag im Jahr 2011 sowie das 200-Jahr-Jubiläum seines Inkrafttretens 2012 "in alter Frische" begehen.