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Mjam-Chef: "Ich löse auch nicht das Welthungerproblem"

Von Jan Michael Marchart

Wirtschaft
Mjam-Chef Artur Schreiber im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
© Stanislav Kogiku

Artur Schreiber über Mjam als Niedriglohnsektor und Milliarden-Bewertungen ohne Gewinn.


Wien. Artur Schreiber ist verärgert. Der 32-jährige Berliner ist Chef der Essenzuliefererplattform Mjam, die kürzlich Foodora gekauft hat. Die Gewerkschaft stelle sein Mjam als "Ausbeuter" dar, weil die radfahrenden Essenzulieferer mit ihrer Gage keine vierköpfige Familie ernähren könnten. Das sei aber nie der Plan gewesen. Wie prekär sind die Jobs wirklich? Die "Wiener Zeitung" hat Schreiber für ein Interview getroffen.

Wiener Zeitung: Herr Schreiber, Sie haben einmal gesagt, wenn Sie die Forderungen der Gewerkschaft erfüllen, dann wäre ihr Geschäftsmodell am Ende. Warum halten Sie an Ihrem Geschäftsmodell fest, wenn Sie Ihre Fahrer nicht ordentlich bezahlen können?

Artur Schreiber: Wenn ich meine Mitarbeiter auf echte Dienstnehmer mit Kollektivvertrag umstellen würde, mache ich mit jeder Essenauslieferung Verluste. Daher muss ich auf andere Möglichkeiten ausweichen.

Dieser andere Weg führt allerdings über niedrige Löhne.

Es ist ein Niedriglohnsektor, das habe ich nie bestritten. Wir sind aber in der Gastronomie. Da werden keine astronomischen Gehälter gezahlt, weil es einfach nicht möglich ist. Ab und zu gibt es einen Euro Trinkgeld. Kein Gastronom, kein einzelnes Restaurant ist steinreich, außer die großen Ketten. Das muss auch die Gewerkschaft verstehen, dass wir uns an diesem Niveau orientieren müssen. Nur weil die Leute es nach Hause geliefert bekommen, zahlen sie nicht doppelt so viel für den Burger. Wenn wir die Preise verdoppeln, ist unser Geschäftsmodell tot und alle Fahrer sind arbeitslos. Dasselbe passiert, wenn ich fünf Euro Liefergebühr verlange. Das zahlt niemand.

Auf ein besseres Auskommen ist Mjam also nicht ausgelegt?

So gut wie alle unsere Fahrer arbeiten nicht Vollzeit. Das ist kein Vollzeitjob. Der Großteil unserer Fahrer liefert nebenher Essen aus. Von uns zu fordern, mit der Essenauslieferung eine vierköpfige Familie ernähren zu können, das geht nicht. Das rechnet sich nicht. Das ist auch nicht mein Anspruch. Ich löse auch nicht das Welthungerproblem. Wer eine Familie ernähren muss oder auf 2000 Euro im Monat angewiesen ist, der muss sich einen anderen Job suchen. Ich biete Studenten einen Job, bei dem sie bis zu 14 Euro brutto in der Stunde plus Trinkgeld verdienen können, wenn sie gut sind. Das ist mehr als die 8,18 Euro, die ich früher an der Kasse im Supermarkt verdient habe. Für Asylwerber ist es neben der Gastro oft der einzige Job, den sie finden. In der Gastro scheitern sie oft, weil sie kein Deutsch sprechen. Bei uns ist das kein Kriterium, weil die kurze Interaktion mit dem Kunden und dem Restaurant auch auf Englisch geht.

Verdient man meist nicht weniger?

Bei uns bekommen die Fahrer mindestens acht Euro in der Stunde, vier Euro gibt es pro Bestellung. Der Durchschnittsverdienst liegt irgendwo bei zehn Euro. Es gibt kaum einen Stundentenjob oder einen Job in der Gastronomie, bei dem das möglich ist.

Aber es heißt, dass Ihre freien Fahrer nicht versichert sind.

Das stimmt nicht. Es sind alle unfallversichert. Wenn sie über die Geringfügigkeitsgrenze kommen, sind sie auch sozialversichert. Deshalb sind es auch keine Freiberufler. Die müssen sich auch nicht selbst bei der Gebietskrankenkasse anmelden. Das machen wir alles. Wir führen auch Abgaben ab, wenn es welche gibt. Wir können jemandem auch nicht sagen, dass er jetzt mal zwei Monate nicht fährt, wenn er einen 10-Stunden-Vertrag hat. Die einzige Flexibilität, die es gibt, ist, dass Fahrer am Stück beispielsweise 20 Stunden arbeiten und die Woche darauf frei machen.

In der Plattformökonomie wird alles in einen Topf geworfen. Die richtigen Probleme werden übersehen. Clickworker warten daheim bis sie einen Auftrag bekommen. Da gibt es einmal keinen, dann verdienen sie 3,60 Euro pro Stunde. Das ist für mich ein heikles Arbeitsverhältnis. Darauf muss geschaut werden. Das ist bei uns aber nicht so.

Wie viele Fahrer befinden sich unter der Geringfügigkeitsgrenze?

Das sind derzeit etwa 70 Prozent, wobei jeder Fahrer selbst entscheidet, ob er über oder unter der Geringfügigkeitsgrenze bleiben möchte.

Bei der Sozialversicherung ist die SVA für die meisten Selbständigen ein Problem.

Da müsste dann der Gesetzgeber ran und die Beiträge für Niedriglöhne senken. Das ist kein Problem unserer Branche, sondern generell ein Thema im Niedriglohnsektor. Dort sind wir nur ein ganz kleiner Player.

Gewerkschaft und Wirtschaftskammer verhandeln einen Kollektivvertrag für Fahrradzusteller. Sie lehnen einen Kollektivvertrag nicht ab, fordern aber, dass er aus "Business-Sicht" Sinn machen soll. Was meinen Sie damit?

Ich darf keine Details nennen. "Business-Sicht" heißt aber für mich, dass ich schon auf den Arbeitnehmer schaue. Auf viele Punkte sind wir auch eingegangen. Das führt zwar für mich zu Mehrkosten, die finde ich aber fair. Die Gewerkschaft verlangt aber nach den Zugeständnissen noch mehr. Ich kann ein bisschen mehr ausgeben, als ich einnehme, weil ich mir sicher bin, dass wir weiter wachsen werden. Die Lösung kann aber nicht ein Kollektivvertragsgehalt sein, das sich für uns nicht rechnet und wir schließen müssen. Davon hat auch der Arbeitnehmer nichts.

Ohne KV haben Ihre Mitarbeiter keinen Urlaubs-, Krankenstands- oder Mutterschutzanspruch.

Von den 900 Fahrern bei uns sind 90 Prozent freie Dienstnehmer, 10 Prozent sind fest angestellt. Ich möchte keines der beiden Arbeitsverhältnisse aufgeben. Die Festangestellten tragen unsere Grundlast. Sie haben nicht die Flexibilität wie die Freien, die auch eine Schicht absagen können. Dafür haben sie Urlaubsanspruch und Mutterschutz. Es gibt aber auch Leute, denen das egal ist. Die würden schon auch gerne einmal daheim bleiben und trotzdem Geld verdienen. Man kann aber nicht das beste aus beiden Welten auf Kosten des Arbeitgebers haben. Was nicht passieren darf, ist, dass alles in freie Dienstverhältnisse übergeht. Da bin ich voll bei der Gewerkschaft. Das ist aber auch nicht mein Ziel. Es muss aber auch nicht jeder 40 Stunden arbeiten.

Wie sind ihre fixen Arbeitnehmer momentan angestellt?

Sie unterliegen keinem Kollektivvertrag, weil es für die Branche noch keinen gibt. Die Gehälter werden individuell ausgemacht. Echte Dienstnehmer kommen auf knapp über 9 Euro.

Werden Sie den Kollektivvertrag nutzen, sobald es einen gibt?

Ich glaube nicht, dass es für uns zwingend notwendig ist, so wie es immer dargestellt wird. Wir haben ohne Betriebsrat für freie Dienstnehmer die Gehälter erhöht und die Ausrüstung für alle verbessert. Aber wenn es Sinn macht und wir unser Business damit führen können, natürlich. Ich kann verstehen, dass das dem Teil der Fahrer, der das braucht, Sicherheit gibt.

Wie werden die Schichten eingeteilt? Die kalten, verregneten Sonntage werden ja nicht so beliebt sein. Gibt es hier Unterschiede zwischen freien und fixen Fahrern?

Wir versuchen, jede Woche mittels historischer Daten abzuschätzen, wie viele Bestellungen wir zu jeder Stunde haben werden. Nach dieser Kurve vergeben wir die Schichten. Die echten Angestellten sind fix eingeteilt, die freien Dienstnehmer melden sich für jene Schichten an, die wir via App ankündigen. Sonst gibt es keinen Unterschied. Das Wetter können wir noch nicht vorhersagen. Bei einem Regenschauer haben wir aber locker bis zu 20 Prozent mehr Bestellungen.

Sie haben kürzlich ihren Mitkonkurrenten Foodora übernommen. Dort gab es auch einen Betriebsrat. Ist dieser noch aktiv?

Von Foodora wurde alles übernommen. Das Einzige, was sich geändert hat, ist die Farbe.

Die Fahrräder müssen von den Fahrern selbst zur Verfügung gestellt werden?

Wir denken über eine eigene Flotte nach. Aber ich weiß von vielen Mitarbeitern, dass sie mit ihrem eigenen Fahrrad fahren wollen. Da haben sie die Kontrolle, die Sicherheit, weil sie ihr Fahrrad kennen. Viele von unseren Zulieferern sind leidenschaftliche Fahrradfahrer, die wollen nicht umsteigen.

Mjam macht bis heute keinen Gewinn. Dennoch wird die Mutterfirma "Delivery Hero" mit mehr als sechs Milliarden bewertet. Wie realistisch ist diese Bewertung ?

Die Zulieferung ist sehr schwer profitabel hinzubekommen. Die Kosten um den Service herum sind zu hoch. Was Geld bringt, ist die aber App-Plattform, über die wir die Restaurants online schalten. Für den Service verlangen wir pro Bestellung 15 Prozent Provision. Bei einer Bestellung von 20 Euro bleiben da abzüglich direkter Kosten fast drei Euro übrig. Insgesamt macht uns auch der Wettbewerb unprofitabel. Wir haben mit Lieferservice einen starken Konkurrenten. Das ist eine Werbeschlacht. Darüber hinaus stecken wir all unser Geld ins Wachstum, also in Marketing und Eröffnungen in anderen Ländern, um marktrelevant zu bleiben.

Die Bewertung halte ich für gerechtfertigt. Wir haben einen Umsatz von einer Milliarde Euro und wachsen um bis zu 60 Prozent jedes Jahr. Wenn man das auf zehn Jahre hochrechnet, wird unser Umsatz über diesen mehr als sechs Milliarden liegen.