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Die Kehrseite des Tourismusbooms

Von Simon Rosner

Wirtschaft

Erstmals widmet sich ein Regierungsprogramm dem Phänomen des "Übertourismus". Die Interessen der lokalen Bevölkerung sollen künftig stärker berücksichtigt werden, doch die Optionen, Fremdenverkehr zu beschränken, sind begrenzt.


Manche Ideen erscheinen derart abstrus, dass sie eigentlich nur den Gedanken eines Schelms entsprungen sein können. Drehkreuze bei den Zugängen zu einem öffentlichen Platz? Soll das ein Scherz sein? Beim Markusplatz in Venedig ist das Realität geworden, und es ist überhaupt nicht lustig gemeint. Ein anderes Beispiel: Das pittoreske Corenno Plinio am Comer See wird ab März Eintritt von Touristen verlangen, die den Ort besuchen wollen. Und in Wien wurde ja erst kürzlich, wenn auch in diesem Fall nicht ganz ernst, über eine Wiener-Quote in Cafés diskutiert, vor denen Touristen derzeit Schlange stehen.

Die Ursache ist da wie dort eine Entwicklung, die den Begriff des "Overtourism" schuf - und der nun auch Eingang ins Regierungsprogramm fand. Gleich an mehreren Stellen wird im Tourismuskapitel auf ihn verwiesen. So ist davon zu lesen, dass "massentouristischen Phänomenen entgegengewirkt" werden soll und man "Wachstum nicht mehr ausschließlich an Nächtigungszahlen" messen will. Die Auswirkungen des Tourismus auf Landwirtschaft und Bevölkerung sollen künftig stärker in Betracht gezogen werden.

In früheren Regierungsprogrammen las sich das noch anders. 2013 nahmen sich SPÖ und ÖVP vor, die Zahl der Nächtigungen von 131 auf 140 Millionen pro Jahr zu steigern. Das wurde übertroffen. Vor zwei Jahren machten sich ÖVP und FPÖ dann Sorgen, dass Österreich Marktanteile im Tourismus verliert. Neue Märkte sollten erobert werden, die Umsatzsteuer für Übernachtungen wurde von 13 auf 10 Prozent herabgesetzt.

In der vergangenen Legislaturperiode wurde dann aber auch ein Masterplan für den Tourismus durch das Ministerium von Elisabeth Köstinger erarbeitet: der "Plan T". In diesem ist der Paradigmenwechsel festgeschrieben. Wörtlich heißt es. "Wir müssen umdenken und das Verhältnis zwischen Gästen und Einheimischen neu denken." Und weiter: "Es wird daher in Zukunft erforderlich sein, wichtige touristische Entscheidungen unter stärkerer Einbindung der Bevölkerung zu treffen und darauf zu achten, dass möglichst alle Menschen in einer Destination vom Tourismus profitieren." Dieser Satz findet sich nun auch fast identisch im Regierungsprogramm von Türkis-Grün.

Das ist dann doch schnell gegangen. Das Mehrmehrmehr, das bei den Tourismusstrategien Feder führte, ist binnen weniger Jahre, scheint es, obsolet geworden. Auch Wien hat seine Strategie angepasst. "Wir bekennen uns weiter zu Wachstum, aber nicht um jeden Preis", sagt Bürgermeister Michael Ludwig. Ein rein quantitatives Nächtigungsziel gibt es in Wien im Vergleich zu früher nicht mehr.

Und es ist auch nachvollziehbar. Im Jahr 2003 verfügte Wien über knapp 42.000 Gästebetten im Sommer, im Vorjahr waren es mehr als 81.000, also rund doppelt so viele. Ein Land steht prototypisch für diese Entwicklung: China. In Wien ist die Anzahl der Touristenankünfte aus China binnen zehn Jahren um rund 500 Prozent nach oben geschnellt.

"Reisen sind ein Luxusgut, die Einkommenselastizität der Nachfrage ist hoch", sagt Oliver Fritz vom Wirtschaftsforschungsinstitut. Anders formuliert: Wenn die Grundbedürfnisse einmal abgedeckt sind, kann man sich auch um Luxus wie Reisen kümmern. Und das ist etlichen ehemaligen Schwellenländern der Fall, in denen eine Mittelschicht erwachsen ist und immer weiter wächst.

Interessenskonflikte: Wer profitiert wie vom Tourismus?

Und warum auch nicht? Venedig sollte man schon einmal gesehen haben. Es gibt ja auch kaum einen Literat oder eine Literatin, die sich nicht irgendwie von dieser Stadt inspiriert zeigte. Das Problem aber ist Venedigs Kleinheit und die enorme Größe der Weltbevölkerung. Tourismusforscher Fritz publizierte im November im Wifo-Monatsbericht einen Artikel zum Phänomen des Übertourismus, in dem er auf das "Allmende-Problem" hinwies. Die Schönheit touristischer Destinationen ist grundsätzlich allen zugänglich, sie ist ein öffentliches Gut, das aber darunter leidet, wenn es überbeansprucht wird. Der Markusplatz in Venedig lässt sich nicht genießen, wenn man ihn vor lauter Menschen nicht mehr sehen kann.

Ein Problem ist auch, dass die Kosten für die Erhaltung und die Müllbeseitigung steigen. Beides wird von der öffentlichen Hand, also den Steuerleistungen der Bevölkerung getragen. Fritz schreibt: "Sind verschiedene Gruppen involviert (touristische Anbieter auf einen, die Wohnbevölkerung auf der anderen Seite), dann verstärkt sich dieses Allmende-Problem. Wenn eine Gruppe stärker vom Tourismus profitiert als eine andere, treten Interessensunterschiede auf, die auch eine politische Lösung des Allmende-Problems erschweren", heißt es dem Wifo-Artikel. Auf dieses Problem nimmt auch die Regierung Bezug, wenn sie "möglichst alle Menschen in einer Destination" vom Tourismus profitieren lassen will.

Fritz sagt: "Gerade bei den indirekten Effekten bekommen es die Leute aber nur schwer mit, dass sie vielleicht doch profitieren. Viele Museen in Wien gäbe es ohne Touristen nicht mehr." Die Verteilung des Nutzens, also wer von den Gästen wie profitiert, ist in Tourismusgemeinden ein Thema, dessen Bedeutung zunimmt und zu Konflikten führt.

Doch was tun? Und vor allem: Was kann eine Bundesregierung für Maßnahmen setzen? Ökonom Fritz schreibt: "Die Möglichkeiten einer Destination, die Zahl der Besucherinnen und Besucher zu regulieren, sind begrenzt." Noch mehr gilt das für die Ebene des Bundes. In dem Artikel listet Fritz Maßnahmen auf, die bereits ergriffen wurden. Eine Option ist die Beschränkung von Transportkapazitäten. Auch Hallstatt in Österreich hat dies bei Reisebussen getan, dennoch ist die Belastung der Gemeinde nach wie vor enorm.

Beschränkungen funktionieren nur sehr bedingt

Die Einschränkung der Bettenkapazität ist ein anderer Ansatz, den etwa Barcelona verfolgt. "Aber die Stadt hat keinen Einfluss darauf, was in den Vororten passiert", sagt Fritz. Dass in Wien die Bettenkapazität verdoppelt wurde, erhöht die Knappheit auf dem Wohnungsmarkt, wenn Miethäuser zu Hotels werden. Zudem nehmen Ferienwohnungen, die über Plattformen wie Airbnb angeboten werden, ebenfalls Wohnraum weg. Auch das wird im Tourismus-Kapitel des Regierungsprogramms angesprochen. Vermieter sollen sich künftig verpflichtend registrieren müssen. Zudem sollen die Ferienwohnungen maximal für 90 Tage für touristische Zwecke vermietet werden dürfen.

Wo der Bund einen Einfluss nehmen kann, ist bei Förderungen. Es gibt direkte wie indirekte Subventionen in den Tourismus. Sie werden in Form von Investitionszuschüssen, Krediten und/oder Haftungen über die Hotel- und Tourismusbank (ÖHT) gewährt. Die Förderungen sollen 2021 neu ausgerichtet werden, ist im Regierungsprogramm zu lesen. Die Förderwirkungen zu beurteilen, ist jedoch schwierig, wie Wifo-Ökonom Fritz sagt, da auch die Länder und Gemeinden Betriebe subventionieren. Wie viel der Tourismus dem Staat jedes Jahr wert ist, lässt sich nicht sagen. Die Transparenzdatenbank könnte da nützlich sein - wenn sie konsequent befüllt werden würde. Das ist nicht der Fall, hat sich die Regierung aber erneut vorgenommen.

Es gibt aber auch indirekte Subventionen. Dazu reicht ein Blick auf die regionalen Arbeitslosenzahlen. In den vom Tourismus geprägten Bundesländern Vorarlberg, Tirol, Kärnten und Salzburg waren im November 2019 fast 25000 Personen in der Gastronomie und Beherbergung arbeitslos gemeldet, im Dezember waren es plötzlich nur mehr 7500. Es ist kein Wunder passiert, sondern die Ski-Saison hat begonnen. Die Kosten der saisonal so unterschiedlichen Nachfrage nach Arbeitskräften werden von der Allgemeinheit getragen.