"Wiener Zeitung": Inwiefern sind Unternehmen aufgrund der Corona-Krise gezwungen, sich neu zu erfinden?
Oliver Suchocki: Im Zuge der Corona-Krise hat sich bei den Führungskräften die Spreu vom Weizen getrennt. Manche sind untergetaucht, andere haben proaktiv reagiert und ihre Mitarbeiter sowohl auf inhaltlicher als auch auf emotionaler Ebene abgeholt. Das Thema Employer Experience (Arbeitgebererfahrung, Anm.) ist mit einem Schlag essenziell geworden und ist sicherlich gekommen, um zu bleiben. Die Prozesse in Unternehmen werden viel stärker mitarbeiterzentriert ablaufen. In derselben Manier, wie man sich heute unter dem Begriff Customer Experience um einen Kunden kümmert – Analysen, personalisierte Ansprache, Zielgruppenansprache et cetera –, werden sich Unternehmen künftig um ihre Mitarbeiter bemühen. Jene, die das verstehen, werden eine Vorreiter-Rolle einnehmen.

Warum werden sich Unternehmen künftig mehr um ihre Mitarbeiter bemühen müssen?
Unternehmen haben bereits mit dem Eintritt eines Mitarbeiters in ihren Betrieb viel investiert – vom Recruiting über Schulungen, Weiterbildungen sowie alleine die tägliche Zusammenarbeit in Teams ist eine zeitliche und auch finanzielle, versteckte Investition, die in keiner Bilanz vermerkt wird. Abgesehen von drohenden Unternehmensschließungen und Kündigungen in Wirtschaftsbereichen, die möglicherweise ohne Selbstverschulden getroffen werden, gibt es sicherlich auch viele "tote Wirtschaftspferde", die in den letzten Jahren schon immer am Existenzminimum gelebt haben und sich nie strategische Gedanken über einen Plan B gemacht haben. Diese zählen sicher auch zu den unglücklichen Verlierern der Krise. Dennoch gibt es genügend Betriebe, die einen Aufschwung erlebt haben beziehungsweise diejenigen, die als kritische Infrastruktur einen wichtigen Platz im Wirtschaftsleben haben. Diese werden sich ihre Mitarbeiter genau anschauen und sie weiterentwickeln, um sie zu behalten.
Es werden auch bald Momente kommen, in denen sich Unternehmen bewusst nach neuen Mitarbeitern umsehen, um einen qualitativen Austausch vorzunehmen. Mit dem Kurzarbeitsmodell ist das nun rascher möglich geworden. Man muss die guten Mitarbeiter halten und sie durch Kommunikation, gelebte Wertschätzung und Vertrauen an das Unternehmen binden. Viele eigentümergeführte Unternehmen machen das automatisch, aber eine große Anzahl anderer Betriebe war sich oft zu selbstsicher.
Welche Rolle hat Homeoffice gespielt und wird es künftig spielen? Im Moment arbeiten ja zehn Prozent der Erwerbstätigen in Österreich ständig im Homeoffice.
Mit dem erzwungenen Umstieg vieler Unternehmen auf das Homeoffice wurde ein Meilenstein gesetzt, Unternehmen haben sich damit in Teilbereichen bereits neu erfunden. Während Betriebsräte vor der Krise anzweifelten, ob Homeoffice überhaupt zulässig ist, fielen plötzlich die Hürden. Laut einer aktuellen Studie von Eset (Unternehmen für Sicherheitssoftware, Anm.), möchten 60 Prozent der Mitarbeiter nicht mehr so rasch in ihr "Office" zurückkehren. So verlockend digitale Meetings und effizientes Arbeiten von zu Hause aus sind, bin ich überzeugt, dass es zu einem vernünftigen Mix kommen wird. Die persönlichen Treffen, der informelle Austausch in der Kaffeeküche und speziell das Wir-Gefühl sind für den Menschen einfach zu wichtig. Zum Vergleich: Ob Sie Fußball auf der Konsole spielen oder wirklich am Platz, löst auch andere Emotionen aus. Das Homeoffice wird einen wichtigen Stellenwert behalten, um gewisse Themen und Aufgabenstellungen zu erledigen wie Konzeption oder Administration, ein überwiegender Teil wird jedoch nach wie vor in der Büro-Infrastruktur ablaufen müssen. Sonst leidet darunter auch die Identifikation mit dem Unternehmen. Ich traue mich, einen Mix von 60 zu 40 oder 70 zu 30 für Office versus Homeoffice zu prognostizieren.
"Dienstreisen werden eingeschränkt stattfinden"
Welche Probleme könnte ein verstärktes Homeoffice mit sich bringen – und zwar für beide Seiten?
Mitarbeiterseitig kann es je nach Typus Mensch zu einer Vereinsamung kommen, aber auch zu einer schleichenden Art von Ineffizienz in manchen Abläufen. Eine kontinuierliche Ausrichtung der eigenen Person und der "sportliche Vergleich" innerhalb der Unternehmensstruktur ist für einen Mitarbeiter schon wichtig und richtig. Außerdem müssten sich Unternehmen bei einer Verstärkung des Homeoffice viele neue Fragen stellen: Wird noch so viel Bürofläche benötigt, Infrastruktur, soziale Leistungen wie Essensmarken, freier Kaffee, Obstkorb, et cetera. Dies alles ist in Frage zu stellen und könnte sich generell zulasten der Identifikation des Unternehmens auswirken.
Wie wird man es in Zukunft mit persönlichen Kontakten halten?
Dienstreisen via Flugzeug werden nach der Krise eingeschränkter stattfinden. Die Ticketpreise werden wieder steigen, und Fliegen wird wieder mehr als etwas Besonderes wahrgenommen – nicht wie vor Corona, als man für jede Kleinigkeit in das Flugzeug gestiegen ist. In jeder Branche, in der es um Customizing, also Anpassung, geht und man individuelle Anforderungen des Kunden verstehen muss, ist der persönliche Kontakt mittelfristig wichtig – außer bei Standardprodukten. Verhandlungen können vorab virtuell stattfinden, aber für das Unterzeichnen der Verträge werden sich Führungskräfte nach wie vor persönlich treffen.
Wird sich etwas an der generellen Denkweise der Unternehmen schlechthin verändern müssen?
Vor allem digitale Führung wird nach der Krise gefragt sein. Das können allerdings noch die wenigsten. Führungskräfte brauchen neue Leistungsindikatoren, die in die digitale Welt passen. Es geht nicht mehr darum, stundenbasiert Leistungen zu erbringen, sondern darum, zielorientiert zu arbeiten. Wichtig ist, dass man das Ziel erreicht – auf welchem Weg, spielt eine untergeordnete Rolle. Damit geht auch agile Arbeitseinstellung einher. Im Umkehrschluss bedeuten diese Veränderungen auch, dass Regularien wie Arbeitszeitgesetze angepasst werden müssen.
Welche Funktionen und Bereiche eines Unternehmens werden an Bedeutung gewinnen?
Nach Ende der Kurzarbeit kommen viele qualifizierte Arbeitskräfte wieder auf den Markt. Teilweise, weil sie von ihrem Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt wurden, teilweise aber auch, weil sie das Unternehmen verlassen möchten, bevor es alle anderen tun. Letzteres ist besonders in kritischen Branchen, die über kurz oder lang von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein werden, der Fall. Nach dem Wiederaufrichten der Wirtschaft werden sich Veränderungen vor allem im vertrieblichen Bereich abspielen, aber es wird generell einen Austausch von Qualifikationen geben. Um es wieder wie beim Fußball auszudrücken: Unternehmen werden sich ihre aktuelle Mannschaft anschauen und gleichzeitig ein Auge auf den Spieler-Markt werfen, um Zukäufe neuer, starker und gerade verfügbarer Spieler in Betracht zu ziehen.
"Es wird zu weniger Jobangeboten kommen"
Welcher Typ Mitarbeiter hat sich in der Krise bewährt – und kann man daraus für die Zukunft lernen?
In einer Krise müssen alle an einem Strang ziehen, erfahrene wie weniger erfahrene Kollegen. Die Seniors, die schon mehrere Krisensituationen erlebt haben, sind in vielen Unternehmen fokussiert geblieben und haben Ruhe in die Organisation gebracht. Aufgrund ihrer Erfahrung haben sie gewisse Richtungsweisungen vorgenommen. Für die jüngeren Mitarbeiter war die Situation sicherlich ein Lernprozess, der auch Bescheidenheit und Demut lehrt. Statt an einen Dienstwagen zu denken, wie zuvor häufig bereits in der Recruiting-Phase zu beobachten, rückt der Wert eines intakten Angestelltenverhältnisses wieder in den Vordergrund.
Ist es somit wenig effizient, die älteren und daher meist teureren Mitarbeiter zu kündigen?
Eine Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil die Kündigung eines älteren Mitarbeiters oft auch verdeckte, inoffizielle Gründe trägt. Es ist allerdings ratsam für Unternehmen, sicherzustellen, dass sie mit solch einer Kündigung nicht einen zu großen Know-how-Transfer bedingen und sich somit in der Organisation selbst benachteiligen.
Wird der Kampf um den Job für die Jungen nach der Krise noch härter werden?
In vielen Bereichen durchaus – weil es zu weniger Jobangeboten kommen kann beziehungsweise wird. Eine stärkere Lokalisierung wie die Produktionsansiedlung könnte wieder einen Aufschwung bringen, allerdings sind hier noch klare politische Signale und Rahmenbedingungen gefordert.
Welchen Ratschlag würden Sie Arbeitsuchenden geben?
Wichtig ist es, sich seiner wirklichen Stärken bewusst zu sein und diese in mehreren persönlichen Gesprächen herauszuarbeiten. Ebenfalls ist es empfehlenswert, am Arbeitsmarkt neue wichtige Kompetenzen zu zeigen – neben den fachlichen vermehrt die persönlichen. Auch wenn der Markt noch ein paar Monate verhalten reagieren wird, werden die Mitarbeiter zunehmend nach sozialen Kompetenzen ausgewählt.
Inwiefern ändert sich das Verhältnis Arbeitgeber zu Arbeitnehmern?
Das ist eine spannende Frage. Viele Betriebe werden nach der Krise nicht mehr am Markt präsent sein beziehungsweise in anderer Form. Es wird sowohl aufseiten der Arbeitgeber als auch aufseiten der Arbeitnehmer starke Einbußen geben, der Markt wird sich komplett neu mischen. Österreich hat aufgrund der Thematik Kurzarbeit die dramatische Arbeitslosigkeit sehr gut abgefangen. Daher fehlt es hierzulande auch oft am Verständnis für die schlimmere Lage in anderen Ländern – in den USA verliert man im Falle einer Kündigung beispielsweise auch die Sozialversicherung.
Wie schlägt sich Europa als Wirtschaftsmacht im weltweiten Vergleich?
Prinzipiell orte ich im großen globalen Wettkampf ein Abschwingen der europäischen Wirtschaftskultur. Viele Fragen werden nur im nationalstaatlichen Kontext beantwortet, die EU hat sich in den vergangenen acht bis neun Wochen nicht präsent gezeigt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass manche Prozesse intern nur schwer umsetzbar sind. Trotzdem war es ein überraschender Kahlschlag und zeigt einmal mehr den Mangel an politischen Charakteren auf europäischer Ebene. Europa ist noch nicht auf der Ebene, auf der es sein sollte, um im globalen Wettstreit mitzuspielen.
China hat es geschafft, trotz Verursacherrolle durchgehend Dominanz zu zeigen. Generell bin ich der Meinung, dass China dieses Jahrhundert dominieren wird. Ob Europa oder die USA sich auf dem zweiten Platz positionieren, hängt unter anderem vom Ausgang der US-Wahlen ab. Dieser Wettstreit ist Politik gemünzt mit Wirtschaft.
Es wird eine stärkere Regionalisierung in Unternehmen geben, die mit einer Entschleunigung der Globalisierung einhergeht. Es wird aktuell versucht, existenzrelevante Produktionseinheiten nach Europa zurückzugewinnen (Nearshoring, Anm.) – die Kapazitäten und das Know-how dazu sind auch vorhanden. Das stellt eine Chance für den europäischen Binnenmarkt dar, um Europa für eine Re-Industrialisierung und Re-Digitalisierung fit zu machen und wesentliche Produktionsstränge zurückzuholen. Wir schlagen uns also nicht so gut, wie wir es könnten, was aber auch damit zu tun hat, dass wir nicht aus einem Sprachrohr sprechen und viele lokale Interessen immer wieder aufschlagen – das schwächt einfach. Zunehmende Regionalisierung wird zukünftig auch die Unternehmen selbst betreffen: Derzeit sind die meisten sehr stark global ausgerichtet. Der Fokus lag auf dem globalen Headquarter, während regionale Einheiten ausgedünnt wurden. Künftig werden Letztere allerdings wieder stärker und haben die Möglichkeit, den Markt entsprechend zu dominieren.