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Die Musik spielt nicht in Wien

Von Karl Leban und Victor Vecsei

Wirtschaft

Im Vergleich zu anderen Börsenindizes wie Dow Jones, DAX oder Nikkei dümpelt der heimische ATX seit mehr als einem Jahrzehnt als "Underperformer" vor sich hin. Warum das so ist, hat triftige Gründe.


Eine Ewigkeit ist es her: Seine mit Abstand beste Zeit hatte der ATX in den Jahren 2002 bis 2007. Da ging es für den Wiener Börsen-Leitindex, der 1991 bei 1.000 Punkten gestartet war, nicht zuletzt dank der Osteuropa-Fantasie, die österreichischen Aktien damals hohes Wachstum verhieß, rasant nach oben - auf einen Höchststand von 5.010,93 Punkten, der am 9. Juli 2007 im Handelsverlauf markiert wurde. Binnen rund fünf Jahren konnte sich der ATX somit fast verfünffachen. Doch nach dem globalen, von Herbst 2008 bis ins Frühjahr 2009 anhaltenden Absturz der Börsen infolge der Finanzkrise ist er im Gegensatz zu vielen anderen internationalen Aktienindizes nie mehr so richtig in die Gänge gekommen.

Während etwa der Dow Jones und der DAX ihre früheren Rekordstände aus 2007 und 2008 längst deutlich übertroffen haben und trotz Corona-Crashs inzwischen wieder in der Nähe ihrer zu Jahresbeginn 2020 erreichten Allzeithochs notieren, ist der ATX mit derzeit rund 2.240 Punkten nicht nur "meilenweit" entfernt von seinem historischen Höchststand aus 2007, sondern auch von jenem Niveau, das er mit rund 3.200 Punkten vor dem Corona-Absturz im März innehatte.

Deutlich abgeschlagen

Bereits mehr als ein Jahrzehnt hinkt der Wiener Leitindex mit seiner Performance anderen Börsen nach. Seit seinem Tiefstand vom Frühjahr 2009 hat er zwar zugelegt, aber nur um etwas mehr als 51 Prozent. Der Dow Jones, das weltweit wichtigste Marktbarometer, kletterte indes um 318 Prozent nach oben, der japanische Nikkei-Index um 228 Prozent und der Frankfurter DAX um 243 Prozent. Der DAX ist allerdings ein sogenannter Performance-Index, bei dessen Berechnung zusätzlich zu den Kursveränderungen auch Dividendenzahlungen berücksichtigt werden. Auf Basis dieser Berechnungsmethode ist der ATX seit dem Frühjahr 2009 zwar rund 110 Prozent im Plus, aber vergleichsweise immer noch deutlich abgeschlagen.

Demnach verhält es sich bei Österreichs wichtigstem Aktienbarometer so, dass es in guten Börsenzeiten nicht in dem Maß dazugewinnt wie andere Indizes, in schlechten Börsenzeiten aber vergleichsweise stärker verliert. Über Jahre hat sich auf diese Weise eine "Underperformance" verfestigt. Als einer der Hauptgründe dafür gilt unter Fachleuten, dass die relativ kleine Wiener Börse nicht gerade zu den besonders liquiden Aktienmärkten zählt. Das bedeutet, dass Profi-Investoren, die bei Aktienwerten meist größere Volumina im Auge haben, bei Titeln in Wien tendenziell eher schwer rein- und wieder rauskommen. Wien wird von ihnen deshalb als Randmarkt behandelt.

Ein weiterer Punkt ist: Der ATX setzt sich aus den 20 größten österreichischen Unternehmen mit Börsennotierung zusammen. Da diese Konzerne größtenteils aus traditionellen Branchen mit bewährten Geschäftsmodellen kommen, kann man beim ATX auch von einem konservativen Index sprechen. Drei der fünf höchstgewichteten Unternehmen, der Öl- und Gaskonzern OMV sowie die beiden Banken Erste Group und Raiffeisen Bank International (RBI), haben zusammen mehr als 30 Prozent Gewichtung. Das zeigt, wie rohstofflastig und zyklisch der Index ist. Konkret bedeutet dies, dass der ATX von der Konjunktur stark abhängig ist, im Boom also rasant steigt und in der Rezession ebenso stark fällt.

Kaum Wachstumsaktien

"Der ATX dient vor allem mittel- bis langfristigen Anlegern, die auf eine stabile, langfristige Dividendenstrategie setzen", erklärt RBI-Chefanalyst Peter Brezinschek. Denn der österreichische Nationalindex sei vor allem von sogenannten Value-Aktien geprägt. Diese locken Anleger mit günstigen Aktienpreisen und konstanten, vergleichsweise hohen Dividendenzahlungen. Im Gegensatz dazu stehen die sogenannten Growth-Aktien, die potenziell höheres Wachstum versprechen, aber oftmals keine Dividenden auszahlen.

Massives Corona-Minus

Um nun zu verstehen, weshalb der ATX seit mehr als einem Jahrzehnt schlechter performt als DAX, Dow Jones oder Nikkei, muss man auch die Corona-Krise heranziehen. Tatsächlich hat der Wiener Leitindex nämlich seit der Beginn der Krise rund 30 Prozent Minus gemacht, so viel, wie er im Boom des Jahres 2017 in etwa dazugewonnen hat. 2017 war übrigens auch das Jahr, in dem der ATX DAX, Dow Jones und Nikkei in der Performance überflügelte. "Die zyklische Zusammensetzung lässt den ATX aktuell stärker sinken, sorgt jedoch in anderen Marktphasen für überproportionalen Aufschwung", erklärt der Chef der Wiener Börse AG, Christoph Boschan, dazu.

Nichtsdestotrotz befindet sich der ATX derzeit ungefähr auf dem gleichen Stand wie im Jahr 2004, während DAX oder Dow Jones schon wieder in der Nähe ihrer alten, erst zu Jahresbeginn erreichten Bestmarken notieren und auch in der Corona-Krise weniger stark gefallen sind als der ATX.

Laut Brenzinschek liegt dies auch an der großen Nachfrage an Growth-Aktien in den vergangenen Jahren. Während im ATX nur der Leiterplattenhersteller AT&S als Growth-Aktie bezeichnet werden kann, sind in Deutschland und den USA - etwa mit Siemens, MTU, SAP, Apple, Merck oder Walmart - weit mehr Growth-Aktien in den National-Indizes vertreten. Auch jetzt in der Krise sind Growth-Aktien beliebter, da viele Value-Aktien aufgrund finanzieller Erschwernisse ihre Dividendenzahlungen verringern oder sogar einstellen, was dazu führt, dass weniger Investoren in ATX-Werte investieren.

Nur 20 Werte im ATX

Generell spielen auch die Zusammensetzung und Berechnung der Indizes eine Rolle. Während der ATX nur 20 Firmen abbildet, sind es beim Dow Jones und DAX je 30. Mehr inkludierte Firmen sorgen für mehr Diversifikation und Risikostreuung sowie für weniger starke Kursabschwünge.

Im Vergleich zu anderen National-Indizes spielt auch die Branchenzusammensetzung des ATX bei dessen Performance eine große Rolle. Während etwa beim Dow Jones 72 Prozent der Gewichtung auf den Tech- und Healthcare-Sektor entfallen und nur 23 Prozent Finanz- und zyklische Sektoren, ist der Tech- und Healthcare-Bereich beim ATX so gut wie nicht vorhanden, dafür aber der im Regelfall besonders konjunktursensible Finanz- und Industriebereich überproportional stark vertreten.

"So kommen wir auf andere Chartmuster", erklärt RBI-Experte Brezinschek. Chartmuster, die vor allem für die Amerikaner von Vorteil sind, da die Aktien in Tech- und Healthcare- Sektoren in der Krise anders als Aktien des Finanzsektors Wachstum zu verzeichnen hatten. Das ist ein weiterer Grund, weshalb der ATX schlechter performt hat in den letzten Jahren als die amerikanischen Indizes.

Einig sind sich Brezinschek und Boschan, was zu tun wäre, um den ATX zu stärken: nämlich voll auf Finanzbildung und die Förderung einer Aktienkultur in Österreich zu setzen. "Wir haben eine historische Resistenz gegenüber dem Finanzmarkt", sagt Brezinschek. Auch eine Öffnung der Wiener Börse für "Hidden Champions" - Firmen, die in Marktnischen tätig und dort führend sind - könnte für den heimischen Kapitalmarkt eine "nette Bereicherung" sein, meint Brezinschek. Für Boschan wären indes die Wiedereinführung einer Behaltefrist, ab der Kursgewinne von Aktien steuerfrei sind, die Stärkung von Finanz- und Wirtschaftsbildung in der Bevölkerung sowie Erleichterungen für Firmen bei der Kapitalbeschaffung positive Impulse.