Damals, in den späten 1970er Jahren, schlängelten scharenweise Arbeiter auf der steilen schmalen Straße vom Bahnhof hinauf in die Bude, wie die Steyr-Werke genannt wurden. Die Arbeiter wiederum waren die Werndler, benannt nach dem Steyrer Unternehmer und Waffenproduzenten Josef Werndl. Der Weg hinauf zum Werktor auf der Ennsleite war ein kurzer, in sechs Minuten war man oben, vorbei an den Gleisen, an drei Trafiken und anderen kleinen Geschäften.

Blick auf das Areal der alten "Steyr-Werke", wo sich heute MAN und ZF Friedrichshafen AG niedergelassen haben. - © Jo Kerviel
Blick auf das Areal der alten "Steyr-Werke", wo sich heute MAN und ZF Friedrichshafen AG niedergelassen haben. - © Jo Kerviel

Heute kommen die meisten Arbeiter mit dem Auto, von den drei Trafiken ist noch eine über, Geschäfte sucht man vergeblich und die Steyr Werke, die gibt es auch schon lange nicht mehr. Mit dem Ende der Verstaatlichten Industrie wurden Ende der 1980er, Anfang der 1990er aus dem drittgrößten Industriebetrieb der Zweiten Republik mit bis zu 17.000 Beschäftigten kleine Zweigwerke großer Konzerne. Sie übernahmen Teile der Produktion von Autos, Mopeds, Fahrrädern, Lkw, Traktoren, Wälzlager - oder beendeten sie.

Einer dieser Konzerne ist die MAN, die auf einem rund 500.000 Quadratmeter großen Teil des alten Werkgeländes Lkw und Lkw-Fahrerkabinen produziert. Zerstückelt wurde nämlich nicht nur die Steyr Daimler Puch AG, sondern auch das riesige Werksareal, das heute zugleich ein bemerkenswertes Stück Industriegeschichte ist: Viele verschiedene Produktionshallen aus den vergangenen Jahrzehnten reihen sich aneinander, darunter die der alten Waffenfabrik von 1913 samt Palais für die Fabrikdirektoren. Unübersehbares Wahrzeichen aus dieser Zeit sind die beiden alten Schornsteine. Sie gehören heute zum Areal des deutschen Zulieferers ZF Friedrichshafen AG.

Der Schornstein der MAN kam in den 1990er Jahren hinzu. . - © Jo Kerviel
Der Schornstein der MAN kam in den 1990er Jahren hinzu. . - © Jo Kerviel

In den 1990er Jahren kam von MAN ein dritter Schornstein hinzu, der Lackierturm, damals einer der modernsten in Europa. Und erst im Vorjahr wurde weiter modernisiert, 60 Millionen Euro in eine neue Lackierhalle, die größte Lackieranlage Europas für Lkw-Kunststoffanbauteile, investiert. Im selben Jahr feierte man 100 Jahre Bestehen der Lkw-Produktion am Standort Steyr. Dass das Werk von Trucks & Bus in Steyr nun bis Ende 2023 stillgelegt werden und große Teile nach Polen und in die Türkei verlegt werden sollen, versteht von der Belegschaft niemand, erzählt ein Arbeiter der MAN der "Wiener Zeitung". Er arbeitet seit fast 30 Jahren im Betrieb, hat als Lehrling dort begonnen. Was motiviert einen noch, in so einer Situation wie gewohnt arbeiten zu gehen?

"Das Schicksal der Autoindustrie ist das Schicksal dieser Stadt"

Gemeinderat 28.12.1928

"Jetzt erst recht", sagt er. "Wir arbeiten ganz normal weiter und machen die Arbeit, für die wir unseren Lohn bekommen. Wir wollen uns nicht aus der Ruhe bringen lassen." Ruhig sind allerdings nicht alle, erzählt er weiter. Viele seiner Kollegen haben finanzielle Verpflichtungen, viele haben Angst. Aber es gebe unter den 2.300 Beschäftigten, davon sind 300 Frauen, auch Optimisten - und Neutrale. Und daneben gibt es auch Stolz - auf die Lehrlingskapelle, die MAN in Black, etwa, oder auf die Lehrwerkstatt, in der die Facharbeiter ausgebildet werden. Sie ist die größte Ausbildungseinrichtung für Lehrlinge in der Region, derzeit sind rund 180 Burschen und Mädchen beschäftigt, nicht nur für MAN. Aber haben junge Leute in diesem Industriezweig überhaupt noch eine Zukunft?

"Malerische Stadt des Elends"

Das Josef-Werndl-Denkmal des Bildhauers Viktor Tilgner ist weltweit womöglich das einzige, das an einen Waffenproduzenten erinnert. Es steht am Beginn der Promenade beim Schlosspark. - © Jo Kerviel
Das Josef-Werndl-Denkmal des Bildhauers Viktor Tilgner ist weltweit womöglich das einzige, das an einen Waffenproduzenten erinnert. Es steht am Beginn der Promenade beim Schlosspark. - © Jo Kerviel

Es wäre nicht das erste Mal, dass man sich in Steyr völlig umorientieren müsste. Paradoxerweise sollte vor rund hundert Jahren just die Autoindustrie aus der Sackgasse führen, in die man durch die Waffenindustrie geraten war. Lange Zeit war nämlich neben den Pilsner Skodawerken in Böhmen die Steyr-Werke der größte Rüstungsbetrieb der Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg und den Friedensverträgen von St. Germain war Schluss damit.

Die Steyr-Werke setzten ab sofort exklusiv auf Autos - auf hochpreisige Luxusgefährte. 1926 startete in Steyr auch die Fließbandproduktion und ein Vorläufer des Käfers, das Steyr-Baby, wurde hier entwickelt. Doch der Markt für die teuren Automobile war zu klein und der Absatz zu gering.

Die Weltwirtschaftskrise katapultierte Steyr in ein noch tieferes Loch. 1930 beschäftige das Werk nur mehr 1.960 Personen. Zum Vergleich: Ein Jahr zuvor waren es noch 6.500 gewesen. Von den 22.000 Einwohnern lebten im Jahr 1932 gar mehr als die Hälfte von der öffentlichen Fürsorge. Fast alle Kinder waren unterernährt, es herrschten schlimme sanitäre und hygienische Zustände, die Tuberkulose wütete. Eine US-Zeitung titelte damals in einer Reportage über Steyr: "Österreichs Detroit, Malerische Stadt des Elends".

Die Spuren der Österreichischen Waffenfabriksgesellschaft (ÖWG) - © Jo Kerviel
Die Spuren der Österreichischen Waffenfabriksgesellschaft (ÖWG) - © Jo Kerviel

"Das Schicksal der Autoindustrie ist das Schicksal dieser Stadt", steht schon in den Gemeindesratsprotokollen Ende des Jahres 1928 geschrieben. Und heute? "Das wäre ein Wahnsinn", sagte der Chef des AMS OÖ Gerhard Straßer vorige Woche der "Kronen Zeitung" zur geplanten Schließung des MAN-Werks. "Würde das so kommen, muss man rechnen, dass noch einmal so viele Beschäftigte bei anderen Betrieben arbeitslos werden." Nur die Industrie kann diese Anzahl an Arbeitslosen absorbieren. Aber welche?

Die monoindustrielle Ausrichtung könnte der Stadt erneut auf den Kopf fallen. Hat man aus der Geschichte gelernt? "Die Region Steyr hat schon bewusst andere Wirtschaftszweige hochgezogen, zum Beispiel im Bereich EDV. Und die Offene Arbeitsstiftung hat uns schon durch kleinere Krisen hindurchgeholfen", sagt der SPÖ-Politiker Markus Vogl, der selbst lange Zeit bei MAN gearbeitet hat und dort auch im Betriebsrat war. Das helfe zwar bei den ganz großen Krisen alleine nicht, sagt er der "Wiener Zeitung", aber es sei ein Instrument von vielen, um Krisen zu bekämpfen. Vogl soll im nächsten Herbst die Nachfolge von Bürgermeister Gerald Hackl antreten.

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"Besser wird’s nimmer"

Ortswechsel. Stadtteil Münichholz gleich an der Grenze zu Niederösterreich, rund 30 Gehminuten vom Bahnhof Steyr entfernt. Es ist kurz nach 14 Uhr, bald ist Schichtwechsel im Werk. Eine kleine Gruppe von Arbeitern, zum Teil in Arbeitskluft, steht - mit Abstand - beisammen. Die Männer, alle rund um 40, rauchen und plaudern noch, bis ihre Arbeit im größten Dieselmotorenwerk der BMW beginnt. In der Kfz-Industrie ist der deutsche Automobilkonzern mit rund 4.700 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber in Österreich, nach Magna, wo fast 10.000 Menschen beschäftigt sind. Rund 70.000 Menschen insgesamt arbeiten laut Angaben der WKO in Österreich in der Kfz-Fließbandproduktion, davon in Oberösterreich und in der Steiermark jeweils ein Drittel, der Rest verteilt sich auf Österreich.

Beim Haupteingang der BMW in Steyr-Münichholz. - © Jo Kerviel
Beim Haupteingang der BMW in Steyr-Münichholz. - © Jo Kerviel

Das BMW-Werk hat seit der Grundsteinlegung Ende der 1970er Jahre viele Ausbaustufen hinter sich. Es dehnt sich neben dem Gelände der SKF in die Länge. Das alte Kugellagerwerk der Steyr-Daimler-Puch AG war ebenso wie das Werk in St. Valentin für Panzer bzw. später Traktoren während der NS-Diktatur errichtet worden. Ob BMW wie schon einmal ein Netz sein könnten, das die Kollegen aus der MAN aufnehmen könnte? Das werde schwer, sagt einer der Arbeiter aus der Runde. "Wir müssen selber schauen, dass wir zurechtkommen." "Was bei MAN passiert, das ist tragisch," sagt ein anderer in blauer Montur. "Besser wird’s nimmer", ergänzt er. Auch mit den E-Autos, sind sich die Arbeiter einig, komme man nicht weit. Man brauche für die Produktion viel weniger Leute. Und davon abgesehen, komme das große Sicherheitsrisiko hinzu: "Wenn so ein Auto brennt, geht sicher keine Feuerwehr hin."

Beschleunigter Strukturwandel

Aber Dieselmotoren werden nicht so schnell von der Piste verschwinden, betont Dieter Angerer, Geschäftsführer von Steyr Motors. Das kleine Unternehmen ist aus dem alten Gewebe der Steyr-Daimler-Puch AG entstanden und versucht nach einigen turbulenten Jahren nun, sich zu stabilisieren. "Steyr Motors hat sich auf Nischenprodukte spezialisiert", erzählt Angerer, "unsere Spezialmotoren werden in Einsatzfahrzeugen eingesetzt, in Generatoren oder Lokomotiven. Dort, wo sehr viel Kraft auf kleinem Raum nötig ist." Der Betrieb mit 140 Mitarbeitern soll durch Forschung neue Wege einschlagen, es wird vor allem zum Thema Dieselmotoren, Hybride und synthetische Treibstoffe geforscht.

Vor dem Eingang zum Verwaltungsgebäude der MAN. - © Jo Kerviel
Vor dem Eingang zum Verwaltungsgebäude der MAN. - © Jo Kerviel

Dass es in der Automobilbranche zu gravierenden Änderungen kommen wird, ist schon lange bekannt. Die Gründe dafür sind laut einer aktuellen Studie der Universität Wien vielseitig: Die Nachwehen des Dieselskandals, die Senkung der Emissionswerte durch die EU, aber auch die Fridays-Bewegung zählen dazu. "Corona beschleunigt den Strukturwandel nur. Es ist zu befürchten, dass es zu einem Change durch Desaster kommt und nicht zu einem allmählichen Wandel", sagt Heinz Högelsberger, Mitautor der Studie. "100 Jahre lang ist trotz Dellen und Krisen alles gut gegangen. Anfang 2019 herrschtenoch ein relativer Optimismus, die Zahlen schauten gut aus, die Beschäftigung war o.k." Zu lange habe man sich in Sicherheit gewähnt, trotz Wirtschaftswachstum waren die Konzerne nicht bereit, Teile der Rendite in die Forschung zu stecken, kritisiert er. E-Autos allein könnten keine Wende herbeiführen. Es seien mehr Anstrengungen vonnöten. Zum Beispiel durch mehr öffentlichen Verkehr und allen voran durch Branchen, die auch Auffangnetz für Beschäftigte sein können, wie etwa die Bahnbranche oder KTM.

"Das sind Themen, die das Land allein nicht heben kann", betont dazu SP-Politiker Vogl. "Detroit war einmal eine boomende Stadt. Als die Autoindustrie wegbrach, ist die Stadt gestorben, ganze Stadtviertel wurden abgeriegelt. Wenn dieser Wechsel nicht gestaltet wird, wenn sich niemand darum kümmert, dann ist das gefährlich. Von allein passiert gar nichts. Darum braucht es Industriepolitik." Eine Forderung, der auch der Geschäftsführer von Steyr Motors etwas abgewinnen kann. Gerade was Innovationen betrifft, wäre es wünschenswert, dass da mehr von der Politik kommt.

Und die Arbeiter? Von der hohen Politik habe er noch nichts vernommen, sagt der langjährige MAN-Arbeiter: "Wir sind schon enttäuscht. Wir wollen arbeiten und keine Stiftung."

- © Jo Kerviel
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