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Der neue Klassen-Konsens

Von Marina Delcheva

Wirtschaft

In der Krise zeigt die Sozialpartnerschaft Stärke. Ihre Strukturen stoßen in der neuen, digitalen Welt aber an Grenzen.


Eine Runde, eineinhalb Stunden, 1,45 Prozent Gehaltsplus. So schnell einig waren sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch nie. Im September haben sich die Vertreter der metallverarbeitenden Industrie darauf geeinigt, die Löhne der Beschäftigten um die Inflation zu erhöhen. Mehr ist gerade nicht drin, weniger wäre nicht fair. Natürlich wurde vieles im Vorfeld verhandelt und natürlich sind Lohnrunden von beiden Seiten immer gekonnt inszeniert worden. Man muss der eigenen Klientel ja etwas bieten.

"Es war jedem klar, dass es nicht die Zeit des langen Feilschens ist", sagt Karlheinz Kopf, Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Ähnliches sagt auch sein Gegenüber auf der Arbeitnehmerseite, Christoph Klein, Direktor der Arbeiterkammer (AK): "Es gibt ein breites Bewusstsein dafür, dass die Situation sehr ernst ist." Heuer, im Corona-Jahr samt massivem Wirtschaftseinbruch, ist vieles anders.

Die österreichische Sozialpartnerschaft ist ein Unikum. Ihre Träger sind auf der Arbeitgeberseite die WKO und die Landwirtschaftskammer und auf der Arbeitnehmerseite die AK und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB), wobei nur für den ÖGB keine Pflichtmitgliedschaft besteht.

Entstanden ist die Sozialpartnerschaft 1957, in einem Brief zwischen dem damaligen Bundeskanzler Julius Raab und dem ÖGB-Präsidenten Johann Böhm. Seitdem gilt sie als Österreichs Nebenregierung, hat Gesetze geschrieben und die Regierungsarbeit dominiert. Kurz: Ohne regiert es sich nicht so einfach. Die Sozialpartnerschaft sieht sich als Garant für den sozialen Frieden und Wohlstand in Österreich. Kritiker bezeichnen sie als träge, starr und als Innovationshemmnis.

Vertrauen gestiegen

Der sonst nicht immer freundliche Umgangston zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite klingt heuer mehr nach Konsens als nach Klassenkampf. "Die Krise hat vielen Akteuren bewusst gemacht, dass man leichter durchkommt, wenn man miteinander spricht", sagt Klein. Wobei die Kommunikation und der Umgang "auf Branchenebene immer sehr gut funktioniert haben", meint Kopf. Gleiches gelte für die betriebliche Ebene. Das liege daran, dass sich die Menschen innerhalb der Branche kennen und über Jahre miteinander verhandeln.

Fast genauso schnell wie die Lohneinigung im Vormonat haben die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Frühjahr die Kurzarbeit auf den Weg gebracht. "Wir haben uns an einem Nachmittag bis in die Nacht hinein zusammengesetzt und am nächsten Tag der Regierung einen Vorschlag präsentiert, mit dem mittlerweile einige 100.000 Kündigungen verhindert werden konnten", so Kopf nicht ohne Stolz.

Auch 2009, im Zuge der Finanzkrise, haben die Sozialpartner ein Kurzzeitarbeitsmodell für die damals stark betroffene Industrie auf den Weg gebracht. Krisen scheinen überhaupt gut zu sein für das Modell Sozialpartnerschaft.

Laut einer Umfrage des Sora-Instituts hat das zuletzt gesunkene Vertrauen in die Sozialpartner-Institutionen in der Corona-Krise zugenommen (siehe Grafik). "Es war wieder sichtbar, wer sie sind. Die Kurzarbeit hat gezeigt, dass sie es noch können", sagt Sora-Forscherin Martina Zandonella.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass Staaten mit sozialpartnerschaftlichen Strukturen wirtschaftlich gesehen besser durch die Finanzkrise 2008 gekommen sind. "Die Sozialpartnerschaft wirkt als Stabilisator", sagt Studienautor Thomas Leoni.

Und sozialpartnerschaftlicher als Österreich ist kein anderes Land in Europa. Jeder Unternehmer und Selbständige ist Mitglied der Wirtschaftskammer, jeder Landwirt ist bei der Landwirtschaftskammer und jede und jeder unselbständig Beschäftigte ist AK-Mitglied. Die kollektivvertragliche Durchdringungsrate liegt bei 98 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es lediglich 60 Prozent. Allerdings ist die Sozialpartnerschaft dort anders organisiert, und es gibt auch keine Pflichtmitgliedschaften.

Arbeitswelt im Wandel

Der Klassenkampf ist nicht mehr das, was er einmal war. Hier die gierige Unternehmerklasse, dort die ausgebeutete Arbeiterschaft - das stimmt so nicht mehr. Wohlstand, soziale Sicherheit und Status werden längst nicht mehr über die Frage definiert, ob man Unternehmer oder Angestellter ist. Das bekommen auch die staatlichen Interessensvertreter zu spüren. Und immer öfter stoßen ihre Strukturen an Grenzen.

Die Arbeitswelt ist heute diverser, globaler. Corona hat den Trend zur Digitalisierung verstärkt und die Ungleichheit wachsen lassen. "Die traditionelle Arbeiterklasse macht heute nur noch 20 Prozent der Arbeitenden aus", erklärt die Sozialforscherin Patricia Oberluggauer.

Stark gewachsen ist in den letzten Jahren hingegen die weniger qualifizierte und damit schlechter bezahlte Dienstleistungs- und Serviceschicht, Personenbetreuer, Kellnerinnen, Verkäufer. Hinzu kommt eine wachsende Gruppe prekär Beschäftigter, zum Teil Selbständige mit niedrigen Einkommen, wie etwa Uber-Fahrer oder Paketzusteller. Diese Gruppe mache mittlerweile 23 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Österreichs aus.

Das bestätigt auch Zandonella vom Sora-Institut. "Der klassische Fabriksarbeiter hat innerhalb der Gewerkschaft die beste Lobby und hat mittlerweile auch sehr gute Arbeits- und Lohnbedingungen." Für die andere Gruppe, die im Lockdown als systemrelevant beklatscht wurde und der sehr viele Frauen angehören, werde realpolitisch sehr wenig getan, kritisieren beide Forscherinnen.

Trennlinie verschwimmt

Während früher Erbe und Vermögen den sozialen Status bestimmten, ist es heute vermehrt die Bildung, erklärt Oberluggauer. Sie plädiert für ein differenzierteres Klassenschema, das nicht nach der Art der Beschäftigung fragt, sondern andere Parameter für den wirtschaftlichen Erfolg heranzieht. Oder: Ein Imbissbetreiber arbeitet und lebt unter ganz anderen Bedingungen als ein hoch qualifizierter Programmierer, der sich seine Arbeitgeber rund um den Globus aussuchen kann.

Für die Kammern wird dieser Umstand zunehmend zur Herausforderung. Mehr als die Hälfte der WKO-Mitglieder sind Ein-Personen-Unternehmer. Sie ist neben Betreibern großer Industriebetriebe oft die gesetzliche Interessenvertretung von Personenbetreuerinnen und Paketboten, wenn diese selbständig sind. Umgekehrt sind hochqualifizierte Führungspersonen in Managementfunktionen AK-Mitglieder.

"Es ist kein Platz mehr für Klassenkampf - wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert", sagt der WKO-Generalsekretär. "Die klassischen Gruppengrenzen lösen sich auf", sagt auch Klein. Viele prekär beschäftigte Selbständige würden mit den gleichen Problemen kämpfen wie der klassische Arbeiter. Deshalb hat die Gewerkschaft begonnen, aktiv um diese Gruppe zu werben. Christopf Lipinski von der Gewerkschaftsinitiative "vidaflex" meint, dass es österreichweit etwa 400.000 EPUs gibt. Gut ein Drittel von ihnen seien Personen, die sowohl irgendwo angestellt sind, als auch selbständig etwas dazu verdienen. Gut 80.000 Menschen, schätzt das Wifo, sind sogenannte neue Selbständige, die von keiner Kammer erfasst sind, kritisiert Lipinski. Oft seien das Boten, Fahrer, Grafiker, die wenig verdienen und keine politische Lobby hätten. Klein plädiert für einen österreichweiten Mindeststundensatz auch für die selbständige Arbeit.

Immerhin, einen gemeinsamen Klassenfeind haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Google, Facebook & Co gefunden: global agierende Digitalunternehmen, mit einer de facto konkurrenzlosen Marktmacht und der Möglichkeit, steuerschonend Gewinne zu verschieben. Beide Seiten prangern das an, sowohl Kopf als auch Klein begrüßen die Bemühungen um eine globale Digitalsteuer auf OECD-Ebene.