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Die große Lücke von Mattersburg

Von Bernd Vasari

Wirtschaft
Der ehemalige Chefsessel von Martin Pucher. Wer wird seinen Platz einnehmen?
© Wiener Zeitung/Sternisa

Nach der Pleite der Commerzialbank stand Mattersburg unter Schock. Ein Jahr danach herrscht noch immer betretenes Schweigen unter den Einwohnern. Zu Besuch in einem Ort, den die Vergangenheit zu erdrücken droht.


Vor einem Jahr fiel in Mattersburg die Sonne vom Himmel. Die Pleite der örtlichen Commerzialbank am 14. Juli beendet mit einem Schlag die Erfolgsgeschichte, die den burgenländischen Ort in ganz Österreich bekannt machte. Im Zentrum dieser Erfolgsgeschichte stand Martin Pucher, großzügiger Mäzen, Fußball-Präsident und Chef der Commerzialbank. Der Erfolg war jedoch auf Sand gebaut. Fantasie-Kredite, gefälschte Bankguthaben, Schwarzgeld. Aktuelle Schätzungen nennen einen Schaden von bis zu 690 Millionen Euro. Die Hintergründe werden Gerichte noch Jahre beschäftigen. Doch wie geht es nun in Mattersburg weiter? Wer füllt die Lücke, die Pucher hinterlassen hat?

Träge und verschlafen präsentiert sich die 7600 Einwohner große Stadt südlich des Neusiedlersees. Das Ortsbild prägen ein Eisenbahnviadukt aus den 1840er Jahren, ein Hochhaus mit Gemeindewohnungen, ein Teppich aus Einfamilienhäusern in bunten Farben und eine Menge Banken. In Mattersburg gibt es pro Einwohner mehr Geldhäuser als sonstwo in Österreich. In 15 Minuten kann das Zentrum zu Fuß umrundet werden, der Autoverkehr dominiert. Eine Baustelle erregt die Aufmerksamkeit des Besuchers. Hier soll der in einem Schacht vergrabene Fluss Wulka wieder an die Oberfläche gebracht werden. Zumindest stückweise.

Misstrauische Blicke und Löcher in der Fassade

Die Aufmerksamkeit erregen in diesen Tagen auch Männer in blauer Einheitskleidung, die in Gruppen durch das Zentrum spazieren. Sie sind Mitarbeiter der steirischen Auktionsfirma Aurena und organisieren die Versteigerung der Lagerbestände der Commerzialbank. Der Anblick der Männer führt den Mattersburgern jeden Tag ihre Vergangenheit vor Augen. Eine Vergangenheit, über die hier nicht gerne gesprochen wird. Misstrauisch blicken sie auf das einstöckige rosa Haus in der Judengasse 11, wenn sie daran vorbeigehen. Sie blicken auf die Löcher an der Fassade, an der früher das Logo der Commerzialbank hing und sie blicken auf all die Menschen, die Gegenstände ersteigern wollen und in Scharen in das Haus strömen.

In das Haus, aus dem der Geldstrom scheinbar nie versiegte. Kunden der Bank bekamen Blumensträuße, literweise Wein und 100 Gramm schwere Silber- und Goldstücke, wenn sie runde Geburtstage hatten. Die Sparzinsen waren höher und die Kreditraten niedriger als anderswo.

Reges Treiben vor dem ehemaligen Bankhaus in der Judengasse 11.
© Wiener Zeitung/Sternisa

In den schmalen Gängen und Büroräumen herrscht geschäftiges Treiben. Kisten werden durchwühlt, Stühle begutachtet. Zwischen den Käufern und den Männern in blau entwickeln sich die immer gleichen kurzen Dialoge: "Wo ist Nummer 37?" "Ein Bürocontainer, der ist unten im Erdgeschoß." "Und wo ist 421?" "Im nächsten Zimmer rechts." 756 Gegenstände werden in der ehemaligen Bank zur Versteigerung angeboten. Die Nachfrage ist groß. Von Schirmständern, über Werbetafeln, Schrankanlagen, bis hin zu Tresoren reicht das Angebot.

Puchers Mitarbeiterin ändert den Kontostand

Martin Pucher wuchs in Mattersburg auf, besuchte die Handelsschule, ging zur Raiffeisenbank, wo er Leiter der Filiale Schattendorf-Zemendorf-Stöttera-Krensdorf-Hirm-Loipersbach-Draßburg-Baumgarten wurde. Eines Tages bittet er seine Mitarbeiterin den Kontostand zu ändern, um damit Zinserträge überhöht darzustellen und Differenzen von Krediten auszugleichen. Das war ungefähr 1994, wie sich seine Mitarbeiterin heute erinnert. 

Wo früher die Fußballer-Autos parkten, steht heute der Wagen der Auktionsfirma.
© Vasari

Ein Jahr später sagt er: "Unsere Bank gibt es seit 70 Jahren und wir haben immer nur bezahlt für Fehler und Dummheiten anderer. Die anderen haben an uns mitverdient. Letztendlich stellt man sich die Frage, ob das nicht sehr teuer ist, dass man sich diesen Verbund leistet." Gesagt, getan. Er löst seine Filiale aus dem Raiffeisensektor heraus und gründet die damals noch lautende Commerzbank. Und seine Mitarbeiterin Franziska Klikovits wird zur Komplizin und Bankvorständin.

"Das Thema ist dann immer mehr geworden in den Jahren und damit sind auch die Fake-Kredite gestiegen", sagt sie heute. Zu Beginn sei es vor allem um das Bilanzbild gegangen, "dass man sich besser darstellt, was sicher auch im Zusammenhang mit der Loslösung von Raiffeisen gestanden ist", sagt die Ex-Bankvorständin. "Aus realen Geschäften war natürlich keine gewinnbringende Bilanzierung möglich", betont Klikovits.

Erfundene Spareinlagen, Luftbuchungen, fingierte Kredite, Vorwürfe der Bilanzfälschung und Untreue. In knapp 30 Jahren vertuschten die beiden erfundene Geschäfte, im Volumen von zuletzt 688 Millionen Euro. Bei jeder Prüfung habe sie Angst gehabt, dass die Malversationen aufgedeckt werden. Doch nichts passierte. Bis zum 14. Juli vor einem Jahr. Eine Vor-Ort-Prüfung der Finanzmarktaufsicht (FMA) stellte fest, dass angebliche Kreditnehmer und angebliche Bankguthaben gar nicht existieren. Pucher und Klikovits erstatteten Selbstanzeige.

Die Commerzialbank-Filialen in Mattersburg, Forchtenstein, Zemendorf, Hirm, Krensdorf, Baumgarten, Loipersbach, Schattendorf und Draßburg mussten auf der Stelle schließen. Von heute auf morgen konnten die rund 13.500 Bankkunden ihre Bankomatkarte nicht mehr verwenden und auch das Geld, das sie eingelegt hatten, war plötzlich weg.

Ehrfürchtige Besucher

Im ersten Stock des ehemaligen Bankhauses steht der grüne Chefsessel von Pucher, so als hätte er ihn gerade verlassen. Fast ehrfürchtig betreten die Besucher sein ehemaliges Büro. Manch einer nimmt Platz. "Ist schon bequem", sagt ein Grazer. Kaufen werde er den Sessel aber nicht. "Den haben wir schon gezahlt mit unserem Steuergeld", sagt der Mann und lacht. 

"Es gibt im Ort eine große Schuldbehaftung, weil ja jeder mitgemacht hat", sagt Psychotherapeutin Blumental.
© Bernd Vasari

Ob er einen persönlichen Bezug zu Pucher habe? "Ja", sagt er. Puchers Treiben habe bis nach Graz ausgestrahlt, antwortet er geheimnisvoll. Dann sagt er: "Ich bin Sturm-Anhänger, Mattersburg war immer ein harter Gegner, da waren ein paar bittere Niederlagen dabei."

Der Fußball-Klub SV Mattersburg war Puchers Herzstück. Hier kamen die Menschen zusammen, hier konnte man stolz auf die Mannschaft sein, hier zeigte Pucher, dass er auf seine Leute schaut, dass er sie glücklich macht. 1988 übernahm er den Verein, damals noch in der unteren regionalen 2. Liga Mitte. Pucher investierte Millionenbeträge, 40 Millionen Euro habe er aus der Bank unrechtmäßig entnommen, gab er an. Er kaufte den damaligen österreichischen Teamspieler und Mattersburg Urgestein Dietmar Kühbauer, mit dem der Aufstieg in die Bundesliga gelang, baute ein Stadion für 15.700 Zuschauer.

In der ersten Bundesliga-Saison kamen im Schnitt mehr als 11.000 Menschen. Pucher kaufte auch noch Champions League Sieger Carsten Jancker, der Verein erreichte zwei Mal das Cupfinale und spielte sogar im Europacup. Es handle sich um Sponsorengelder, log Pucher die Funktionäre beim SV Mattersburg an. Aus seiner Sicht habe beim SV niemand erkannt, woher das Geld komme. Jedenfalls habe ihn niemand danach gefragt.

Auf der Seite der gewöhnlichen Menschen

Die Atmosphäre im Stadion war in Österreich einzigartig. Hier bestimmten nicht Ultras den Fanblock, ein Matchbesuch im Pappelstadion war vielmehr ein Familienausflug. Neben einer gut bezahlten Mannschaft verschaffte sich Pucher auch mit anderen Mitteln jede Menge Sympathien bei den Mattersburgern. Während in gewöhnlichen Stadien Politiker, Sponsoren und sonstige VIPs die besten Plätze unter Dach bekommen, mussten sie im Pappelstadion mit einer einfachen Tribüne ohne Dach Vorlieb nehmen. Sie schwitzten, wenn die Sonne schien und waren nass, wenn es regnete. Pucher demonstrierte damit, dass er nicht auf sie angewiesen ist, und dass er auf der Seite der gewöhnlichen Menschen steht. Der direkte Kontakt war dabei sehr wichtig. Der Vorverkauf erfolgte ausschließlich an den Kassahäuschen beim Stadion oder in seiner Bank. Onlinetickets gab es nicht. Der SV Mattersburg machte die Stadt österreichweit bekannt, die Bewohner waren stolz auf ihren Verein.

Schnäppchenjäger und Sammler ersteigern die Bestände der Commerzialbank.
© Wiener Zeitung/Sternisa

Der Bilanzskandal um die Commerzialbank riss auch den Fußballklub in die Tiefe. Der Verein musste Konkurs anmelden, der Spielbetrieb wurde mit sofortiger Wirkung eingestellt. Mittlerweile wurde der Verein neu gegründet und spielt wieder in den regionalen Fußball-Niederungen.

Von den glanzvollen Zeiten ist im Pappelstadion nicht mehr viel zu sehen. Der Rasen vergilbt, die Tore, Sitze und zwei Tribünen sind abmontiert. Der Fernsehturm wurde auch versteigert. An der Werbebande hängen noch die Schilder einiger Sponsoren, darunter die Dachdeckerei Zimmermann, der Malereibetrieb Stangl und der Florianihof, ehemals gesellschaftlicher Treffpunkt der Mattersburger. Sie alle mussten schließen oder wurden übernommen. Was wussten sie? Waren sie Teil des Systems Pucher?

Zurück im ehemaligen Bankhaus in der Judengasse 11. Ein Rechtsanwalt, der Geschädigte vertritt, hat die analoge Rechenmaschine von Pucher ersteigert. "Mit der hat er alle seine Gfrastereien gedreht", sagt er, während er das Stromkabel aus dem Schreibtisch fädelt. Der Chefsessel bleibt aber unangetastet.

Auch ein Pensionist aus dem Waldviertel interessiert sich nicht dafür. "Ich mache ja kein Museum auf", sagt er. Der Mann fuhr 190 Kilometer, um einen CO2-Feuerlöscher, einen Monitor und ein Laminiergerät "zum Dokumente laminieren" zu kaufen. Er verlässt hastig das Büro. "Ich muss ja weiter, muss heute noch 190 Kilometer zurückfahren."

Die stärkste Region im Burgenland

Mattersburg wird dem Nordburgenland zugerechnet. Laut Wifo stieg das BIP pro Kopf zwischen 2000 und 2018 um 3,3 Prozent von 19.200 Euro auf 33.500 Euro. Das Nordburgenland ist damit die stärkste Region im Bundesland. "Das Ende der Commerzialbank wird sich auf diesen Trend nur moderat auswirken", sagt Regionalökonom Oliver Fritz. Spüren wird man die Pleite hingegen bei den Investitionsausfällen. "Am stärksten wird die Bauwirtschaft und Nebengewerbe darunter leiden", sagt er. Ob es Auswirkungen auf die Beschäftigung gibt, kann in Zahlen nicht gemessen werden. "Das Coronavirus überlagert alles." Im Vergleich zu anderen Orten wie Eisenstadt, Oberwart, Oberpullendorf gebe es aber keine auffälligen Veränderungen.

Schnäppchenjäger, Sammler, Eltern mit ihren Kindern, die gerade ausziehen und auf der Suche nach Möbel sind. Die Bandbreite der Käufer ist groß. Die Aufmerksamkeit gilt den Gegenständen, weniger der Geschichte dahinter. "Der Kasten passt super ins Wohnzimmer, die Beschädigungen kann man abschleifen, ist ja Massivholz." Nur der Chefsessel bleibt unangetastet.

Pucher hatte große Pläne für Mattersburg, wie ein Modell zeigt, dass auf einer Ablage hinter dem Chefsessel steht. Um 30 Millionen Euro sollte ein neues Stadtzentrum errichtet werden, mit einem neuen Rathaus und einer neuen Bankfiliale. Die Abriss- und Räumungsarbeiten wurden bereits durchgeführt. Was mit der gigantischen Baulücke mitten in Mattersburg passieren wird, ist unklar.

"Dort passiert sicher etwas", sagt Bürgermeisterin Ingrid Salamon. "Es gibt neue Besitzer, die die Innenstadt planen werden." Was genau geplant ist, könne sie nicht sagen. "Aber die werden sicher keinen Park bauen, denn Grund und Boden ist heute Gold wert." Sie wünscht sich weiterhin ein neues Rathaus, ob es gebaut werde, wisse sie aber nicht.

Salamon ist seit 1999 Bürgermeisterin von Mattersburg und wird Ende des Jahres ihr Amt zurücklegen. Bis dahin versucht sie den Ball flach zu halten. "Mattersburg besteht auch als anderen Dingen als der Commerzialbank", sagt sie. Und: "Wir sind nicht die Einzigen, die so etwas erleben mussten. Ja, das ist passiert, Corona ist auch passiert." Das Leben gehe normal weiter. Und die Geschädigten? "Man darf nicht die Vielen vergessen, die ihr Geld zurückbekommen haben. Schließlich gab es eine Einlagensicherung von 100.000 Euro. Und bei den Betroffenen arbeitet das die Justiz auf."

Mattersburg, ein Ort des Stillschweigens

Durchtauchen, so tun, als wäre nichts gewesen, am liebsten die Ära Pucher unter den Teppich kehren. "Ja nichts reden, ja nichts anstoßen", sagt Maria Blumental, Psychotherapeutin aus der Region, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, "Mattersburg ist ein Ort, der vieles in Stillschweigen austrägt." Egal, ob es um die Freilegung der Wulka geht, oder um die Frage, woher das Geld von Pucher kam.

Doch Verdrängung sei keine Lösung, sagt Blumental. Denn alles Verdrängte würde irgendwann einmal hochkommen. Immer mehr Menschen melden sich bei ihr, sehr viele leiden an Depression. "Sie schämen sich, weil sie sich blenden ließen. Es gibt im Ort eine große Schuldbehaftung, weil ja jeder mitgemacht hat. Vom Freibier bis zu größeren Geldsummen."

Pucher sei ein guter Onkel gewesen, der immer was zu verteilen hatte. Er sei ein klassischer Narzisst, seine Bedürftigkeit stehe im Mittelpunkt, werde aber durch Größenwahn zugedeckt. In der Schule sei er immer der Ausgestoßene gewesen, bis er draufkam, dass er gemocht wird, wenn er eine Cola zahlt. So wurde er zum großen Gönner. "Er war immer und überall, als Person, als Sponsor, als Stadtgespräch.

Doch wie geht es weiter in Mattersburg? Kann der Schock überwunden werden? Wird Mattersburg von einem Ort der Sonne, zu einem Ort der Resignation?

"Das Grundgefühl hilflos und ohnmächtig zu sein, hat immer dramatische Auswirkungen auf unser Befinden und unser Verhalten", sagt Blumental. "Viele Fragen stehen im Raum, die beantwortet werden müssten: Wo holen sich Menschen ihre Sicherheit zurück? Was geht in den Familien ab?"

Keine Hilfe für psychische Folgen

Sie kritisiert, dass die Mattersburger mit ihren Problemen allein gelassen werden. Es gebe zwar eine Einlagensicherung, aber keine Hilfe für die psychischen Folgen. Blumental warnt daher vor einem Kollateralschaden, wenn den Mattersburgern die Ängste nicht genommen werden, wenn die Ära Pucher nicht aufgearbeitet, sondern unter den Teppich gekehrt wird. "Auf Hoffnung folgt Resignation. Das führt zu Apathie und Aggression, die nicht mehr gesteuert werden können."

Martin Pucher und Franziska Klikovits sind beide voll geständig, für sie gilt, wie für jeden Beschuldigten, die Unschuldsvermutung. Laut Puchers Anwalt Norbert Wess befindet sich der ehemalige Bankchef auf freiem Fuß in seinem Haus. "Es besteht ja keine Fluchtgefahr", sagt Wess. Derzeit ermittelt der Staatsanwalt, der Sachverständiger arbeitet an seinem Gutachten. "Das wird noch dauern, es müssen 25 Jahre aufgearbeitet werden", sagt Wess. Sein Mandant kooperiere vollumfassend. "Alles was er gesagt hat, hat sich so bestätigt. Es gibt daher keine Irritationen."

Die Versteigerung neigt sich dem Ende zu. Ein Mattersburger, der an dem ehemaligen Bankhaus vorbeigeht, blickt kurz auf. Dann sagt er: "Leichenfledderei." Und geht weiter.

Der Chefsessel wurde mittlerweile verkauft. Um 496 Euro. Wer die Lücke füllen wird, bleibt ungewiss.