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"Hier ist der Wilde Westen unterwegs"

Von Marina Delcheva

Wirtschaft
ÖGB-Chef Wolfgang Katzian spricht sich gegen weitere Kürzungen bei Arbeitslosen aus.
© Christoph Liebentritt

ÖGB-Chef Wolfgang Katzian fordert Lohnabschlüsse über der Inflation und ist gegen eine generelle Impfpflicht.


Wolfgang Katzian kann Klassenkampf, er führt ihn schon seit mehr als 40 Jahren. Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Gewerkschaftsbundes über neue Klassen, Impfpflicht, Ökosteuern und darüber, was man Jobsuchenden zumuten darf.

Wiener Zeitung: Aktuell treffen 282.000 Arbeitslose auf mehr als 100.000 offene Stellen, die zum Teil längere Zeit nicht besetzt werden können. Warum ist das so?

Wolfgang Katzian: Es gibt noch immer deutlich mehr Arbeitslose als offene Stellen. Ich bin dennoch froh, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt einigermaßen entspannt hat. Der Unsicherheitsfaktor ist der Herbst. Wir haben - mit Schulungen - mehr als 180.000 Langzeitarbeitslose. Ältere haben es schwieriger, wieder einen Job zu finden. Die Wirtschaft sucht im Idealfall ganz viele junge Leute mit viel Erfahrung. Da geraten viele Ältere einfach unter Druck. Zweitens vermitteln viele Unternehmen über das AMS Jobs, die einfach schwer zu nehmen sind. Ein Beispiel: Eine Frau, die alleinstehend ist und Betreuungspflichten hat, sucht einen Vollzeitjob in der Gastronomie. Hier findet sie keinen. Sie kann aber nicht nach Tirol ziehen, weil sie eben hier Betreuungspflichten hat.

In der Pandemie haben viele das Gastgewerbe (Lockdown-bedingt, Anm.) auch verlassen. Die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sind dort nicht besonders attraktiv. Viele haben die Chance genutzt, sich etwas anderes zu suchen, und viele werden nicht mehr zurückkehren. Das ist auch wichtig in der Diskussion um den Fachkräftemangel, die einige bewusst vorantreiben. Wer gute Arbeitsbedingungen und faire Bezahlung bietet, wird auch Arbeitskräfte finden. Das sehen viele nicht ein, stattdessen will die Wirtschaft die Mangelberufeliste weiter aufmachen und billige Arbeitnehmer aus Drittstaaten holen. Das kann es nicht sein.

AMS-Chef Johannes Kopf will Nebenjobs für Arbeitslose streichen, Arbeitsminister Martin Kocher hat sich zuletzt für ein degressives Arbeitslosengeld ausgesprochen. Was sagen Sie zu solchen Vorschlägen?

Im Moment geistern Schlagworte durch die Medien, ich kenne keine konkreten Vorschläge. Daher halte ich nichts davon, da jetzt einzelne Punkte herauszunehmen und zu diskutieren. Das schafft Verunsicherung, und damit wird kein einziger Arbeitsloser in einen Job gebracht. Wenn jemand über eine Reform des Arbeitslosengeldes als Gesamtpaket reden möchte, sind wir gerne bereit. Ich sage aber auch klar: Wer nur Kürzungen im Sinn hat, wird bei uns auf massiven Widerstand stoßen. Das Arbeitslosengeld ist eine Versicherungsleistung, die haben sich die Arbeitnehmer selbst erarbeitet. Außerdem bekommen schon jetzt neun von zehn Arbeitslosen einen Betrag unter der Armutsschwelle, der Großteil davon Frauen. Was es braucht, ist eine Debatte insgesamt, wie man das Arbeitslosengeld gestaltet und mit dem Ziel von 55 Prozent auf 70 Prozent des letzten Einkommens zu erhöhen. Das fordern wir schon lange.

Wieso nehmen Menschen Jobs, die sie eigentlich brauchen, nicht an?

Es ist nicht so, dass das alles faule Hunde sind! Sie nehmen Jobs nicht an, weil sie zum Beispiel weit weg sind und sie umziehen müssten, aber Betreuungspflichten haben. Weil die Arbeitszeiten nicht passen. Weil die Bezahlung schlecht ist. Wir haben nach wie vor Branchen mit einem Mindestvollzeitlohn von unter 1.700 Euro brutto. Und es ist auch eine Frage der Belastung. In der Pflege brauchen wir in den kommenden acht Jahren 75.000 zusätzliche Arbeitskräfte. Zudem stehen viele selbst kurz vor der Pension. Wir müssten viel mehr ausbilden, um den Bedarf zu decken. Da haben wir eine bundesweite Pflegestiftung vorgeschlagen. Die Ausbildung dauert zwei Jahre, aber wenn jemand aktuell in der Arbeitslosigkeit diese Ausbildung macht, gibt es 55 Prozent vom Letztgehalt, das halten viele finanziell nicht durch. In einer Stiftung würden die Menschen zusätzlich einen Zuschuss bekommen. Hinzu kommt, dass die Arbeit in der Pflege psychisch und körperlich extrem belastend ist. Das halten viele Pflegekräfte beim aktuellen Arbeitszeitmodell einfach nicht lange aus.

Noch ein Grund für den Fachkräftemangel ist Frauen-Teilzeit. Über alle Schichten hinweg reduzieren Frauen, die Kinder bekommen haben, ihre Arbeitszeit empfindlich und fallen so für Führungspositionen oder höher qualifizierte Jobs weg. Warum schafft es Österreich im EU-Vergleich so schlecht, Mütter in Beschäftigung zu halten?

Wenn es genug Kinderbetreuungsangebote gibt, haben Mütter die Wahl. Wenn in einzelnen Bundesländern die Kindergärten zu Mittag zusperren, dann hat man nicht viele Möglichkeiten. Hinzu kommt das gesellschaftliche Bild. Da hat sich zwar viel getan, die Geschlechterrollen haben sich aber nicht signifikant geändert. Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgebern ein Positionspapier zum Ausbau der Kinderbetreuung erarbeitet. Und wir müssen die Altersarmut bei Frauen bekämpfen. Es geht nicht, dass in einer Beziehung eine nichts und der andere ganz viel arbeitet. Deshalb haben wir ein zeitlich befristetes Teilzeitmodell, wo beide Partner um etwa 20 Prozent reduzieren, vorgeschlagen.

Die Inflation hat deutlich angezogen, zuletzt auf 2,9 Prozent. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die Lohnverhandlungen?

Übers Jahr gesehen hatten viele Arbeitnehmer weniger Einkommen, weil sie in Kurzarbeit waren. Die Leute müssen den Kaufkraftverlust, den sie hatten, möglichst kompensiert bekommen. Lohnabschlüsse unter der Inflation wird es mit uns nicht geben. Die zweite Komponente ist das Wirtschaftswachstum und die Frage, wer davon profitiert. In jüngster Zeit lesen wir, dass die Entwicklung sehr gut ist, dass die Industrie das Vorkrisenniveau überschritten hat. Und da hätten die Arbeitnehmer gern auch etwas davon.

Welche Erwartungen haben Sie an die angekündigte öko-soziale Steuerreform?

Die kalte Progression wird ja nicht abgegolten (das Aufsteigen in höhere Steuerklassen durch eine Lohnerhöhung, Anm.), und da sind seit 2016 vier Milliarden Euro zusammengekommen. Hier ist die Anforderung, dass der Großteil davon an die Arbeitnehmer zurückfließen muss, unabhängig davon, was auf der ökologischen Seite passiert. Ich habe nämlich die Sorge, dass mit einer CO2-Bepreisung viele Arbeitnehmerinnen unter Druck kommen, die pendeln müssen. Und wenn die Arbeitnehmer dann einen Öko-Bonus bekommen, die kalte Progression aber nicht, haben sie sich das ja wieder selbst finanziert. Wir können natürlich über eine CO2-Bepreisung sprechen, aber es braucht echte Alternativen. Und zu sagen, der Bus kommt dann zweimal statt einmal in meinen Wohnort, ist keine Alternative. Auf der einen Seite wird verlangt, dass die Menschen flexibel sind, dann arbeiten, wenn gerade viel zu tun ist, sie sollen aber nicht mit dem Auto fahren, und wenn sie auf dem Land wohnen, kommt der Bus nur alle heiligen Zeiten vorbei. Das geht nicht.

Der Klimawandel schreitet voran, wir müssen den CO2-Ausstoß empfindlich senken. Das wird wohl nicht ohne Bepreisung gehen. Wie schafft man das sozial verträglich?

Es gibt viele Maßnahmen und Ausgleichssysteme, die diskutiert werden. Was nicht sein kann, ist, dass die Arbeitnehmerinnen den ökologischen Umbau selbst stemmen. Sie zahlen heute schon 80 Prozent des Steueraufkommens über die Lohnsteuer, die Umsatzsteuer, während die großen Vermögen nur einen sehr geringen Beitrag leisten.

Wie stehen Sie zur Impfpflicht?

Ich bin gegen eine generelle Impfpflicht. Das führt zu einer massiven Spaltung in der Gesellschaft. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man die 3G-Regelung auch auf der betrieblichen Ebene ausweitet, um Arbeitnehmerinnen zu schützen.

Und in besonders vulnerablen Bereichen, wie in der Pflege und der Kinderbetreuung?

Hier haben wir jetzt schon viele Möglichkeiten, auch auf Länderebene. In manchen Spitälern ist es so, dass neu Eintretende geimpft sein müssen. Bestehenden Mitarbeitern zu sagen: "Du musst dich impfen lassen", geht nicht.

Thomas ist Programmierer, er kann sich seine Arbeitgeber de facto selbst aussuchen und dank Homeoffice auch den Arbeitsort. Ahmed ist selbständiger Lieferant für Amazon und arbeitet unter prekären Bedingungen für wenig Geld. Er kommt erst gar nicht in den Genuss eines Kollektivvertrags. Sind die Lagerzuschreibungen selbständig und unselbständig im neuen Klassenkampf noch treffsicher?

Es stimmt, dass zwischen beiden Blöcken - hier der lohnabhängige Arbeitnehmer, da der selbständige Unternehmer - eine Grauzone entstanden ist. Neue Selbständige sind zum Teil genauso abhängig von einem Auftraggeber. Wir haben aber nach wie vor 98 Prozent der Arbeitnehmer, die durch einen KV abgesichert sind.

Aber ja, wir müssen genauer hinschauen, wie sich die Zustände in gewissen Bereichen entwickeln. Und der Zustellsektor ist jener, wo die gewaltigsten Umbrüche passieren und die Leute in einer Art und Weise ausgebeutet werden, die man sich nicht vorstellen kann. Ich habe letzte Woche einen Vertrag mit einem Essenszusteller in die Hände bekommen: Der Dienstnehmer muss sein eigenes Fahrrad mitbringen und wird nur nach geleisteter Fahrt bezahlt. Unterm Strich kommt da ganz, ganz wenig raus. Viele sind gar nicht angestellt. Hier ist der Wilde Westen unterwegs. In dem Maß, in dem der Online-Handel zunimmt, bekommt die letzte Meile aber eine besondere Bedeutung. Und die Frage ist: Wo setzen wir im Arbeitskampf an?

Wie erreicht man Menschen, die keine Betriebsstätten haben oder im Homeoffice sitzen?

Diese Menschen gewerkschaftlich zu organisieren, ist ganz schwierig, und wir haben uns das verstärkt als Ziel gesetzt. Wir entwickeln uns dabei auch ständig weiter. In einer Fabrik kannst du Leute anders organisieren als selbständige Radfahrer. Manche aus der Community wenden sich direkt an uns, und wir zeigen Missstände öffentlich auf, dadurch entsteht auch Kontakt.

Zur Person~Wolfgang Katzian ist Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB) und SPÖ-Politiker.