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Lehrlingskrise in den Unternehmen

Von Bernd Vasari

Wirtschaft
"Für viele Jugendliche sind Vision des Arbeitgebers und der Sinn der Arbeit wichtiger geworden", sagt Mario Derntl, Geschäftsführer von "Zukunft Lehre Österreich".
© gettyimages

Immer weniger Jugendliche wollen eine Lehre machen. An den Schulen wird kaum dafür geworben.


In den Betrieben werden gerade die Lehrplätze ausgeschrieben. Bis Ende des Jahres vergeben sie die meisten ihrer Lehrstellen. Es ist der große Prozess der Anwerbung, der seit Jahrzehnten zu dieser Zeit stattfindet. Lehrlings- und Berufsmessen durchziehen dann das ganze Land, bei denen sich Jugendliche mit ihren künftigen Arbeitgebern austauschen und ein Gefühl dafür bekommen, welcher Beruf für sie in Frage kommt.

Doch dieses Mal wird nichts daraus - wieder nichts. So, wie im vergangenen Jahr verhängte die Regierung einen Lockdown. Die Tore der Messehallen müssen verschlossen bleiben.

Die Maßnahmen der Regierung sind aufgrund der hohen Corona-Zahlen wohl alternativlos, doch sie vertiefen die Sorgenfalten in Österreichs Betrieben. Ihre Produkte werden weltweit nachgefragt, viele Unternehmen zwischen Vorarlberg und Burgenland sind in ihren Bereichen Weltmarktführer. Doch für die hohe Nachfrage fehlt das nötige Personal. Händeringend suchen sie ohnehin schon nach Fachkräften - und jetzt schwindet auch noch die Anzahl der Lehrlinge.

Derzeit gibt es laut dem Arbeitsmarktservice (AMS) 15.102 offene Lehrstellen, das sind um 3.001 (24,8 Prozent) offene Stellen mehr als im vergangenen Jahr zur selben Zeit. Gleichzeitig suchen nur 8.834 Menschen eine Lehrstelle. Das sind noch dazu um 447 (4,8 Prozent) weniger als vor einem Jahr. Das Ergebnis: 6.268 Lehrstellen können nicht besetzt werden, um 3.448 Stellen (122,3 Prozent) mehr als im vergangenen Jahr.

Die abgesagten Lehrlings- und Berufsmessen sind nur die Spitze des Eisbergs. Der Grund für die schwindende Zahl der Lehrlinge liegt tiefer.

Über Lehrberufe gibt es immer noch eine Menge an Vorurteilen, sagt Mario Derntl. Man würde nichts im Leben erreichen und wenig Geld verdienen, warnen viele Eltern ihre Sprösslinge.

Das dieses Vorurteil nicht stimmt, widerlegt er selbst. Derntl war Mechatronik-Lehrling bei der Voestalpine und studierte danach Betriebswirtschaft. Seine Vita ist Programm: "Mit der Lehre kann man sehr wohl was erreichen und Geld verdienen", sagt er. "Ein gelernter Industriekaufmann hat etwa ein höheres Lebenseinkommen als jemand mit abgeschlossenem Psychologiestudium." Das würden Studien belegen.

"Faßmann hat die Lehre zu wenig am Schirm"

Seit zwei Jahren ist Derntl Geschäftsführer von "Zukunft Lehre Österreich", der größten branchenübergreifenden Lehrlingsinitiative des Landes. Eltern mit Vorurteilen sind das eine, der größte Knackpunkt liegt für Derntl aber an den Schulen. "Bildungsminister Faßmann hat die Lehre zu wenig am Schirm", kritisiert er. "Es gibt keine Bildungs- und Berufsorientierung in der Unterstufe", sagt er. Es hänge allein vom Lehrer ab, ob dieser motiviert sei über mögliche Berufe zu unterrichten, oder nicht. Derntl fordert daher ein eigenes Pflichtschulfach "Berufsorientierung" in der dritten und vierten Klasse der Unterstufe.

In der Corona-Pandemie hat sich das Problem verschärft: "In unsicheren Zeiten setzen Eltern auf den vermeintlich sicheren Hafen Schule", erklärt Derntl. Begünstigt wird dieser Trend durch die Corona-Aufstiegsklausel. Schüler mit negativen Schulnoten können in die nächsthöhere Klasse aufsteigen.

Sehr zum Ärger von Derntl. "Alle verlieren: Der Schüler, der nicht mitkommt. Die Eltern, die Unmengen an Nachhilfe bezahlen. Die Lehrer, die diese Schüler mitschleppen müssen", sagt Derntl. Dabei würden sie am Arbeitsmarkt fehlen.

Auch Herbert Weiss, Vorsitzender der AHS-Lehrergewerkschaft, ist gegen die Aufstiegsklausel. "Die Schüler schleppen ihre Defizite weiter", sagt er.

Ebenso wie Derntl kann sich Weiss "Berufsorientierung" als Pflichtschulfach vorstellen. "Zusätzliche Stunden für Berufsorientierung würden sicher etwas bringen", sagt er, "etwa mit Schnuppertagen in Betrieben."

Auf Kosten von anderen Fächern lernt der AHS-Gewerkschafter aber ab. "Die Lehrer müssen immer mehr Inhalte in weniger Zeit unterbringen. Sie sind am Limit mit den Inhalten."

Berufsorientierung wird kein Pflichtfach

Zuständig für Lehre und Schulen ist Bildungsminister Heinz Faßmann. Seit 1998 gibt es "Berufsorientierung" als verbindliche Übung in der AHS-Unterstufe. "Mit der Berufsorientierung erhalten Schülerinnen und Schüler eine wesentliche Unterstützung, ihre Berufs- und Bildungswegentscheidungen zu treffen", sagt der Bildungsminister.

"Derzeit entsteht ein neuer Lehrplan für 2023/24, wo Berufsorientierung entsprechend verankert werden wird." Statt "Berufsorientierung" soll die verbindliche Übung dann "Übergang in weiterführende Schulen" heißen. Zum Pflichtschulfach wird es nicht. Abgeschafft wird jedoch die Corona-Aufstiegsklausel: "Dieses Schuljahr sind die Schulen offen, daher sind zum jetzigen Stand keine Sonderregelungen erforderlich", sagt Faßmann.

Neben Eltern und Bildungssystem stehen aber auch die Unternehmen in der Verantwortung. "Für viele Jugendliche sind Vision des Arbeitgebers und der Sinn der Arbeit wichtiger geworden", sagt Derntl. "Auch die Rolle des Mentors sollte geklärt werden."

Eines der wenigen erfolgreichen Unternehmen bei der Lehrlingsanwerbung ist A1 Telekom. 2020 nahm das Mobilfunkunternehmen 60 Lehrlinge auf, 2300 haben sich beworben. Ein Wert, der in der österreichischen Unternehmenslandschaft seinesgleichen sucht. Doch warum ist der Andrang auf A1 Telekom so hoch?

Britta Schindler ist die Leiterin der Lehrlingsausbildung im Unternehmen. Eine Frau, die vor Begeisterung sprüht, wenn sie über ihren Job spricht. "Wir sind überall dort, wo Jugendliche auch sind. Auf Snapchat, Discord, Spotify", sagt sie. "Wir sind aber auch überall dort, wo die Eltern sind. Wir informieren auf der Homepage und in eigenen Austauschterminen, bewerben die Lehre bei A1 in Zeitungsinseraten."

Zudem gibt es die Möglichkeit sich mit Lehrlingen auszutauschen. "Es ist wichtig, die Sprache der Lehrlinge zu sprechen. Neben einem guten Gehalt kann man bei uns auch Spaß haben, coole Leute kennenlernen und zum Beispiel neue Programmiersprachen lernen", erklärt Schindler.

Und dann gibt es noch eine Prämie für hauseigene Lehrlinge. "Wer einen Lehrling anwirbt, der das erste Jahr schafft, bekommt 1000 Euro", sagt die Lehrlings-Chefin. Das Ergebnis: "Von allen Lehrlingen, die wir aufgenommen haben, sind nur fünf Prozent abgesprungen."

Der Aufwand von A1 Telekom wird sich wahrscheinlich auch bei der Lehrlings-Anwerbung in diesem Jahr auszahlen. Um das heimische Interesse an der Lehre aber wieder flächendeckend zu wecken, werden auch die Eltern und die Schule gefragt sein.