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Die große Angst vor der Lehre

Von Bernd Vasari

Wirtschaft
206.000 Stellen können in Österreich derzeit nicht besetzt werden.
© getty images

"Wer ein Handwerk lernt, ist zu dumm für die Schule" - mit dieser Ansicht stehen Eltern oft ihren Kindern im Weg.


Und wer was werden will, geht in die AHS, HAK oder HTL. So sprach der Klassenvorstand zu Laura Davidowicz und ihren Mitschülern. Die damals 15-jährige Gymnasiastin befolgte den Rat, maturierte später an der AHS und inskribierte danach an der Uni. "Ich hatte keine Ahnung, dass es auch andere Möglichkeiten gab", sagt sie heute. Die Lehre kam nicht infrage, das sei ein Abstieg in eine ungewisse Zukunft, wurde ihr in der Schulzeit eingeschärft.

Die frühe Berufsausbildung ist der Horror für viele Eltern und Lehrer, ein Weg, den Schulabbrecher nehmen, weil sie es nicht besser können, die es im Leben zu nichts bringen werden. Doch diese weitverbreitete Ansicht führt mittlerweile zu ernsthaften Problemen für den österreichischen Wirtschaftsstandort. Zuletzt konnten 206.000 offene Stellen nicht besetzt werden - es fehlt an Fachkräften.

Mit der Matura in der Tasche begann Davidowicz, was alle erwarteten. Sie schrieb sich ein für ein Studium und wählte Physik. Mit bescheidenem Erfolg: "Das war alles zu theoretisch", erinnert sie sich, "ich wollte aber sehen, wie es funktioniert und daran arbeiten." Dann sah sie eine Werbeschaltung von Siemens auf ihrem Instagram-Account. Das Angebot: Lehre mit Studium. Sie nahm das Angebot an.

Heute absolviert die 20-Jährige eine Lehre in Mechatronik und studiert Informatik. "Ich hatte mit 15 oder mit 18 absolut keine Ahnung, dass ich eine Lehre mit Matura oder mit Studium machen könnte", sagt sie. "Hätte ich die Anzeige nicht gesehen, wäre ich wahrscheinlich weiterhin nur Studentin geblieben."

Laura Davidowicz erfuhr von der Kombination Lehre und Studium auf Instagram.
© Siemens

Ihre Eltern sind beide Akademiker, die Mutter ist Magistra der Kunstgeschichte, der Vater arbeitet als Uni-Professor. "Ich bin also die Erste in meiner Familie, die eine Lehre macht", sagt sie.

"Corona wird seinen Schrecken verlieren, die Energiepreise werden auch irgendwann sinken", sagt Werner Steinecker, Generaldirektor der Energie AG, "der Fachkräftemangel wird uns aber weiter begleiten." Die einzige Möglichkeit, dem Mangel entgegenzuwirken, sei ein besseres Image für die Lehre.

Geprägt von der Kaiserzeit

Gemeinsam mit anderen Unternehmen, darunter Verbund, Uniqa, FACC und Kapsch, gründete er vor fünf Jahren den Verein "Zukunft Lehre Österreich", um für die frühe Berufsausbildung zu werben. "Wir sind in Österreich geprägt von unserer DNA aus der Kaiserzeit, in der jemand nur als hoher Beamter gesellschaftliche Anerkennung erfährt", sagt er. "Das ist bei uns noch immer tief verankert. Gymnasium ist gut, die Lehre ist schlecht."

Er verweist auf die Schweiz. Laut einer Studie der Universität St. Gallen entscheiden sich 80 Prozent der Schweizer Jugendlichen für eine Lehre. "Das Thema Lehre ist in der Schweiz bedeutungsvoll, die Familien sind stolz, wenn ihre Kinder eine Lehre beginnen", sagt Steinecker.

In Österreich entscheiden sich 50 Prozent der Jugendlichen für eine Lehre - am wenigsten in den östlichen Bundesländern. Ende 2021 befanden sich in Wien 17.354 Menschen in einer Lehrausbildung, 3.351 Ausbildungsbetriebe gibt es in der Stadt. Sowohl die Anzahl der Lehrlinge als auch die Zahl der Ausbildungsbetriebe stagniert seit Jahren.

Marco Obritzberger (r.) war von der HTL enttäuscht: "Zu theoretisch."
© Lipiarski

Auch der Wiener Marco Obritzberger ist Lehrling. Er programmiert Anlagen, damit sie etwa Zuckerldosen farblich sortieren. "Ich habe immer schon gerne gebastelt", erzählt er. Eine Lehre stand vorerst jedoch nicht zur Diskussion. Obritzberger wechselte nach der Sport-Mittelschule auf die HTL. "Von den Noten her hat es gepasst, ich habe aber im zweiten Jahr mit der HTL aufgehört, weil es mir viel zu theoretisch war", sagt er. "Mich hat es geärgert, dass ich es theoretisch lerne, aber keinen Praxisbezug habe. Da ging der Spaß verloren."

Die Entscheidung für die Lehre resultierte wie bei Laura Davidowicz durch einen Zufall. "Mit 16 kaufte ich mir ein Moped", erzählt der heute 18-Jährige. Der Verkäufer machte gerade eine Mechaniker-Lehre. "Das hat mich inspiriert", sagt Obritzberger, "der war nicht viel älter als ich, und konnte sich aber ein Auto leisten. Das war für mich ein wichtiges Argument."

Langeweile im Gymnasium

Die Matura macht er neben der Lehre. "Am Mittwoch hatte ich den schriftlichen Teil der Deutsch-Matura, am Freitag habe ich den mündlichen." Die Lehrer kommen ins Unternehmen.

Tobias Meyers Weg in die Lehre war ein direkter. Der 18-Jährige absolviert seine Ausbildung bei IGO Industries, der künftige Elektrotechniker entlüftet Heizungen, verlegt Kabel, tauscht Leuchten auf LED aus.

Auch ihm war langweilig im Gymnasium, doch seine Eltern waren ebenso Lehrlinge, der Bezug und die Unterstützung waren da. "Ich schnupperte in mehrere Unternehmen rein, bis ich das richtige fand", erzählt er. Im kommenden Februar wird er seine Lehrabschlussprüfung machen.

Für Schulkollegen mit höherem Bildungshintergrund wurde er zum Vorbild. "Als ich im zweiten Lehrjahr war, wollten die anderen auf einmal auch", sagt er. "Die haben gesehen, dass ich schon Geld verdiene und sie noch nicht."

Der Bildungsaufstieg in der Zweiten Republik war einer der Grundlagen für den heutigen Wohlstand. Man war stolz auf "den ersten Maturanten", auf "die erste Magistra in der Familie".

Um den Wohlstand beizubehalten, ist es künftig aber auch notwendig, stolz auf "den ersten Lehrling in der Familie" zu sein.