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"Migration ist nicht der einzige Hebel"

Von Julian Kern

Wirtschaft
"Mit Migration kann man die Alterung der Bevölkerung etwas abfedern, aber nicht verhindern", sagt der neue IHS-Chef Holger Bonin.
© P. Hutter

Der designierte IHS-Chef Holger Bonin über aktuelle wirtschaftspolitische Herausforderungen unserer Zeit.


"Wiener Zeitung": Herr Professor Bonin, Sie haben Ende März bei Ihrer Vorstellung angekündigt, dass Sie noch ein paar Monate Zeit haben, ein "Österreich-Insider" zu werden. Wie weit sind Sie schon?

Holger Bonin: Ich lese viel. Dazu gehören die verschiedenen Tageszeitungen und andererseits aber auch entsprechende Reports. Mit vielen Menschen zu reden, hier am IHS und auch mit denen, die hier in Österreich etwas zu sagen haben. Aber auch zuzuhören. Ich höre gerne zu, was im Kaffeehaus gesprochen wird.

Mit Ihrem Außenblick von Deutschland kommend, wie unterscheiden sich die beiden Wirtschaftsstandorte Österreich und Deutschland und wo gibt es Gemeinsamkeiten?

Die deutsche Wirtschaft ist stärker durch die Industrie geprägt, in Österreich hat der Tourismus ein viel größeres Gewicht. In Deutschland konzentriert sich auch nicht so vieles auf eine große Stadt, der Gegensatz zwischen Wien und den Regionen ist schon besonders. In vielen Bereichen haben beide Länder aber ganz ähnliche Probleme. Die demografische Entwicklung, die Steuerung von Migration und Integration, Fachkräfteengpässe, die Energiekrise sind hier wie da große Herausforderungen.

Wie kann man dem demografischen Wandel entgegentreten?

Migration ist ein Hebel, aber nicht der einzige. Mit Migration kann man die Alterung der Bevölkerung etwas abfedern, aber nicht verhindern. Dafür bräuchte es enorm viele passend qualifizierte Zuwanderer. Davon gibt es auf dem globalen Arbeitsmarkt nicht genug, und viele Länder streiten sich um diese kleine Gruppe von Menschen. Österreich und Deutschland haben da einen Nachteil, weil Deutsch wenig verbreitet ist und weil ihre Ausbildungssysteme besonders sind. In puncto Sprache könnte man mit Deutschland kooperieren, um mehr Deutschsprachkurse im Ausland auf den Weg zu bringen.

Welche Hebel gibt es noch?

Die Produktivität zu erhöhen. Wenn es weniger Köpfe gibt, muss man die Potenziale dieser Köpfe besser ausschöpfen. Hier ist die Bildung ein zentrales Thema. Da die Menschen immer älter werden, müssen wir uns aber auch darum kümmern, dass sie länger arbeiten und dass möglichst viele dies gesundheitlich auch schaffen. Ganz wichtig ist auch das Vorantreiben der technologischen Transformation: Digitalisierung und KI erlauben uns, viele Tätigkeiten, die weniger produktiv sind und wir nicht so gerne machen, wegzurationalisieren. Das ist kein Schaden, wenn es zu wenig Menschen am Arbeitsmarkt gibt.

Mit einer stetig ansteigenden Produktivität gehen jedoch auch Schäden an der Natur einher. Seit der Mensch die industrielle Produktion entdeckt hat, steigen die Treibhausgasemissionen an, was die menschengemachte Erderhitzung beschleunigt. Können wir weiterhin so wirtschaften und unbegrenzt wachsen oder werden wir künftig eine andere Wirtschaft brauchen?

Wir brauchen eine stärker dekarbonisierte Wirtschaft. Es gibt hierfür langfristige Pläne, die aber nicht leicht umzusetzen sind. Einerseits technologisch, andererseits gesellschaftlich, denn es drohen neue soziale Verwerfungen. In Deutschland haben wir gerade die Diskussion über den Heizungstausch und was zu tun ist, damit finanzschwache Haushalte davon nicht überfordert werden. Dekarbonisierung ist schwer, aber wir werden diesen Weg trotzdem gehen müssen. Kerninstrument dafür ist der CO2-Preis. Wenn der zunehmend steigt, werden sich Märkte und auch die Menschen mit ihrem Verhalten anpassen. Um die Bevölkerung dabei nicht zu verlieren, muss der Staat aber auch klare Signale setzen, dass er den Teil der Gesellschaft, der durch die Anpassung überfordert ist, sozial unterstützen wird.

Neben der Klimakrise beschäftigt dieses Land aktuell vor allem die nach wie vor hohe Inflation. Sie haben sich des Öfteren gegen staatliche Eingriffe ausgesprochen. Welche Möglichkeiten bleiben dann in der Inflationsbekämpfung übrig?

Das Wettbewerbsrecht und funktionierende Märkte. Wie wir jetzt bei der Salzburg-Wahl beim Thema Wohnen gesehen haben, gibt es eben Probleme im Markt, die man angehen muss, indem man das Angebot hebt. Da geht es um sozialen Wohnungsbau, das Ausweisen von genug Bauland oder die Bekämpfung von Leerstand. Das Einziehen von Preisobergrenzen kann dagegen kontraproduktiv sein. Nach Einführung des Mietendeckels in Berlin ist das Angebot an Wohnraum noch knapper geworden. Deshalb warne ich davor. Besser wären zielgenaue soziale Hilfen für die Haushalte, die die Mieterhöhungen nicht tragen können. Die technischen Voraussetzungen müssen unbedingt verbessert werden.

Sie haben auch bezüglich Lohnverhandlungen Vorsicht eingemahnt, um die Lohn-Preis-Spirale nicht weiter anzukurbeln.

Ich sehe bei den Sozialpartnern eine große Verantwortung. In der aktuell unsicheren Lage wäre es sinnvoll, Lohnabschlüsse über 24 statt 12 Monate zu ziehen, wie das gerade in Deutschland im Öffentlichen Dienst gemacht wurde.

Welche Vorteile hätte das?

Das gibt einem die Möglichkeit zu beobachten, wie sich die Inflation weiter entwickelt. Außerdem verteilt sich der Kostenschock besser. Zweimal fünf Prozent über zwei Jahre sind leichter zu verkraften als zehn Prozent in einem Jahr. Es geht mir also nicht darum, den Reallohn zu senken, das könnte zu noch mehr Fachkräftemangel führen, sondern den Kaufkraftausgleich über einen längeren Zeitraum zu strecken. Und auch die privaten Preisindexierungen im Energie- und Wohnungsmarkt gibt es so nirgendwo anders. Da muss man sich fragen, ob der Verbraucherpreisindex (VPI) der richtige Inflationsindex ist, an dem man das misst. Vermieter, die in der Regel einkommensstärkere Menschen sind, haben eine niedrigere Inflation, als der VPI das anzeigt. Und, ich bin hier noch kein Experte, aber Leerstände sollen in Österreich ein großes Thema sein. Unabhängig von der Inflation müsste man an dieser Verknappung etwas verändern, um den sozialen Druck rauszunehmen.

Stichwort sozialer Druck: In Österreich wird die Care-Arbeit hauptsächlich von Frauen erledigt, und Teilzeitquoten sind auch hoch, weil großflächig die Betreuungsmöglichkeiten fehlen. Welche Möglichkeiten sehen Sie hier?

Die Verfügbarkeit einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur ist hier zentral. Dabei geht es nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. Mehr gute Betreuungsangebote zu schaffen, ist aber gar nicht so einfach. Auch hier sind Fachkräfteengpässe ein großes Hemmnis. In der Verantwortung sind außerdem die Arbeitgeber. Für sie darf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur ein Lippenbekenntnis sein. Flexiblere Arbeitszeiten, Homeoffice, Coworking-Spaces im ländlichen Raum, das sind mögliche Hebel.

Vom Arbeitsmarkt zu Ihrer Arbeit: Welche Schwerpunkte wird das IHS setzen und inwiefern werden Sie das Haus umbauen?

Ich werde nicht umbauen, sondern behutsam renovieren. Das IHS macht schon jetzt tolle Arbeit. Unsere Analysen zur aktuellen Konjunktur und Wirtschaftspolitik, zum Bildungs- und Gesundheitswesen, zur Verhaltensökonomik sind in Österreich stark gefragt. Ökonomische und sozialwissenschaftliche Perspektiven möchte ich im Haus noch stärker verbinden und inhaltlich neue Akzente setzen. Dazu sollen Dekarbonisierung, Digitalisierung, Demografie und Polarisierung als Querschnittsthemen verankert werden. Die Ursachen und Folgen der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung, die mir in Österreich noch weiter fortgeschritten scheint als in Deutschland, müssen wir besser verstehen, um wirksam dagegen anzugehen. Dazu kann das IHS mit seiner hohen empirischen Kompetenz wichtige Beiträge leisten.

Zum Abschluss eine persönliche Frage. Ihr Posten beim IHS war auch deshalb so lange vakant, weil der ehemalige IHS-Chef Martin Kocher in die Spitzenpolitik gewechselt ist. Werden wir Sie in ein paar Jahren auch dort sehen?

Politik interessiert mich stark, aber ich fühle mich mit meiner derzeitigen Rolle eines wissenschaftlichen Beraters sehr wohl. Ein Antrieb für mich ist schon, Dinge zu verändern, aber indem ich möglichst neutral und abgewogen durch Forschungsergebnisse fundierte Argumente in die öffentliche Diskussion einbringe. Ich bin nicht gut darin, mich strategisch zu verhalten, um Mehrheiten für Kompromisslösungen zu organisieren und mich beliebt zu machen. Deshalb glaube ich nicht, dass ich ein guter Politiker wäre.

Zur Person

Holger Bonin war zuletzt Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Mit 1. Juli übernimmt er den lange vakanten Posten des wissenschaftlichen Direktors am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Bonin gilt als ausgewiesener Experte in Fragen des Arbeitsmarkts und der Bildung.

Ein demografisch bedingter Arbeitskräftemangel, die nach wie vor hohe Inflation und die Klimakrise - der designierte IHS-Chef Holger Bonin über aktuelle wirtschaftspolitische Herausforderungen unserer Zeit.