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Hinter der Fassade

Von Christian Hoffmann

Wirtschaft

Die Diagnose "narzisstische Störung" trifft auf viele Menschen zu, die in Chefbüros residieren. Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Werner Berschneider sieht darin ein Symptom des modernen Wirtschaftslebens.


Der Name Johannes Feldtner ist natürlich erfunden, echt aber ist die Person, Mitte 40 und Chef eines Unternehmens mit internationalen Verbindungen. In seiner Firma gilt er als rücksichtslos, sein Motto ist "Management by fear", also "Führung durch Angst". Eine seiner Marotten besteht darin, dass er in Konferenzen seine Mails bearbeitet, wenn ihn das Thema nicht interessiert, ein Verhalten, das er bei seinen Mitarbeitern niemals dulden würde. Er kommt auch gerne zu spät, ohne sich zu entschuldigen, ein Verhalten, das sich andere niemals leisten könnten.

Charakteristisch für das Auftreten von Johannes Feldtner als Chef ist eine Episode von einem Meeting für Führungskräfte seiner Firma. Dazu hatte er Sportler eingeladen, die über die Hintergründe ihrer sportlichen Erfolge sprechen sollten, um die Mitarbeiter anzuspornen. In diesem Fall ließ es sich Feldtner nicht nehmen, die Beiträge selbst zu moderieren, was ihm die Gelegenheit gab, die Vorträge der Eingeladenen gleich einmal abzuwerten: Sie seien ganz nett gewesen, aber natürlich sei die Welt der Wirtschaft viel komplexer als die des Sports. In der Diskussion, von der er einen großen Teil selbst bestritt, stellte er ständig den Bezug zu sich selbst her: "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass..."

Charakteristisch ist vielleicht auch noch ein Wutausbruch bei einem Firmenessen. Man hatte ihm als Vorspeise einen Salat mit Tomaten serviert. Er, Johannes Feldtner, verabscheue jedoch Tomaten und das sollte sich doch längst herumgesprochen haben.

Ja, dieser Johannes Feldtner ist ein Kotzbrocken, ein ideales Beispiel für die Diagnose "narzisstische Störung", mit der sich Werner Berschneider beschäftigt. Der Unternehmensberater, Coach und Psychotherapeut hat im Laufe vieler Berufsjahre die Überzeugung gewonnen, dass das moderne Wirtschaftsleben die Beförderung von Menschen in Chefpositionen begünstigt, auf die diese Diagnose zutrifft.

Der Abgrund

Gängig ist der Begriff Narzissmus in der Psychologie seit Sigmund Freud. Er leitet sich von Narziss her, jenem Jüngling der griechischen Mythologie, der dazu verdammt ist, sein Spiegelbild zu lieben, das ihm für immer unerreichbar bleibt. Freud wies allerdings im Zusammenhang mit dem Begriff Narzissmus auch auf die kindliche Entwicklung hin, auf eine Phase, in der in starker Beschäftigung mit der eigenen Person ein Idealbild des Ich entsteht, die Grundlage des Selbstwertgefühls.

In den hundert Jahren, seit Freud den Begriff ins Spiel gebracht hat, wurde er immer wieder aufs Neue diskutiert, entscheidende Arbeiten zu dem Thema haben Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Otto Kernberg und Heinz Kohut verfasst. Inzwischen kennt man viele Abstufungen zwischen der gesunden Selbstliebe, einer notwendigen Form des Narzissmus, und der Diagnose der narzisstischen Störung als ernsthafter psychischer Erkrankung, wie sie das einschlägige Handbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung definiert und wie sie auch schon bei so manchem Amokläufer diagnostiziert wurde.

Das Feld zwischen den Marotten, mit denen sich Johannes Feldtner bei seiner Umgebung unbeliebt macht, und der ernsthaften psychischen Störung ist jedoch weit. Werner Berschneider unterscheidet verschiedene Erscheinungsformen der narzisstischen Störung, die ihm aus seiner praktischen Arbeit in Coaching und Unternehmensberatung vertraut sind. Und er arbeitet heraus, was ihnen allen gemeinsam ist: erstens "eine sehr ausgeprägte Konzentration des Interesses auf das eigene Selbst" sowie zweitens "das Pendeln zwischen Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen".

Selbstverliebt: Narziss als Plastik von Cellini, Florenz, etwa 1549.

Die Grundlage der narzisstischen Störung ist Berschneider zufolge immer ähnlich, nämlich eine tiefe Störung des Selbstwertgefühls meist durch frühe Erfahrungen der Herabsetzung, Beschämung und Erniedrigung. Menschen, die von solchen Erfahrungen geprägt sind, entwickeln oft schon sehr früh entsprechende Gegenstrategien: Radikales Streben nach Macht und nach herausragenden Leistungen, durch die sie sich unangreifbar machen. Viele dem Anschein nach extrem verwöhnte Kinder vollbringen in Wahrheit einen gefährlichen Balanceakt, bei dem es darum geht, einem Selbstbild nachzustreben, das grandios genug ist, um den übertriebenen Ansprüchen des Elternhauses zu genügen, weil im Falle des Scheiterns der Absturz in die finstere Leere der völligen Ablehnung droht. Das Klima, in dem solche Kinder aufwachsen, charakterisiert Berschneider als "emotionale Distanz und gleichzeitige Verwöhnung", eine Mischung, die in wohlstandsgesättigten Milieus der Gegenwart gar nicht selten anzutreffen ist.

Hinter der Großspurigkeit, mit der der als Beispiel dienende Johannes Feldtner seine Karriere vorantreibt, lauert also, wie der Coach Werner Berschneider aus vielen Fallgeschichten weiß, die panische Angst vor dem Abgrund, vor Abwertung, Kränkungen oder Kritik. Dementsprechend unberechenbar könnten Menschen, auf die die Diagnose narzisstische Störung zutrifft, auf kleinste Kränkungen reagieren, mit dem jähen Abbruch von Beziehungen, mit gnadenlosen Kündigungen oder - im Extremfall - mit einem Amoklauf. Dementsprechend brüchig sind auch die Beziehungen im Beruf und im Privatleben der Betroffenen, dementsprechend wenig dauerhaft sind meistens ihre Erfolge und dementsprechend trist ist ihr Leben dann, wenn der Erfolg nachlässt.

Zunehmend eisig

Da Intelligenz kombiniert mit Rücksichtslosigkeit zu den herausragenden Eigenschaften narzisstisch gestörter Persönlichkeiten gehören, stehen sie überall dort, wo rascher Profit erwartet wird, für Leitungspositionen hoch im Kurs. Berschneider bringt das Beispiel eines deutschen Unternehmens, das an einen Investor verkauft wurde. "Dieser erklärte in der ersten Betriebsversammlung, dass ihn das Unternehmen im Grunde nicht interessiere, weder die Produkte, noch der Geschäftszweck. Er erwarte, dass die Firma in sieben Jahren zu einer hochprofitablen Organisation umgebaut sein werde, mit einer deutlich zweistelligen Kapitalverzinsung."

Den Führungskräften wird im Anschluss an dieses Treffen mitgeteilt, dass sie "ohne Skrupel und mit eiserner Konsequenz" die zuvor formulierten Ziele umzusetzen hätten. Dafür gäbe es dann entsprechende Prämien. "Genauso gut", schreibt Berschneider, "hätte man sagen können, dass man nur rigorose Narzissten‘ in Führungsverantwortung akzeptiere."

Anhand dieses Beispiels charakterisiert Berschneider auch die Wirkung, die narzisstisch gestörte Personen auf ihre Umgebung haben: "Die Stimmung in dem Sitzungszimmer wurde zunehmend eisig." Eine Beschreibung, die einen Ausblick auf das Betriebsklima in der übernommenen Firma gibt und erahnen lässt, mit welcher inneren Haltung die Mitarbeiter dieser Firma ihre Arbeit verrichten werden, gemanagt von "Führungskräften, die versuchen, ihre eigenen Ängste, ihre eigenen Unsicherheiten, ihre Gefühle der Minderwertigkeit mit problematischen Mitteln zu bewältigen".

Doch Berschneider ist optimistisch. Jenseits der Vorschläge zur Therapie und der Ratschläge fürs Überleben im Umgang mit narzisstisch gestörten Personen entwirft er das Bild eines Betriebsklimas, das von "Anerkennung und Wertschätzung" geprägt ist. "Die Zukunft", schreibt er, "gehört Führungskräften mit einer gesunden Selbstliebe, die ethisch handeln, Menschen mögen und sehr verantwortlich mit ihrer Macht umgehen. Vision oder Utopie?"

Artikel erschienen am 27. April 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 16-18

Termin:
Werner Berschneider spricht am 10. Mai auf Einladung des Viktor-Frankl-Zentrums in Wien zu dem Thema "Sinn in einer verzweckten Welt‘". 19 Uhr, Hörsaal 4, Ebene 8, Hörsaalzentrum des Neuen AKH, Währinger Gürtel 18-20, 1090. Eintritt 8 Euro.
Website Viktor-Frankl-Zentrum

Buchtipp:
Werner Berschneider: Wenn Macht krank macht. Narzissmus in der Arbeitswelt. Präsenz-Verlag, Gnadenthal, 2011. 175 Seiten.