Zum Hauptinhalt springen

Eine Region mit Vergangenheit

Von Simon Rosner

Wirtschaft

Wenig Arbeit, Abwanderung - und neue Hoffnung. Ein Besuch in Schrems.


Schrems. "Der Macho, der Keßler, die Ergee, der Hauke, der Gobl." So klingt eine moderne Volksweise aus dem Waldviertel, die die Menschen in Schrems und Umgebung auswendig zu kennen scheinen. Sie deuten dabei in alle Richtungen. "Dort war der Macho, da der Keßler, dort droben die Ergee". Alles war, nichts ist mehr. Das Waldviertel, das war einmal das Herz der österreichischen Textilindustrie, doch die gibt es nicht mehr. Ein Betrieb nach dem anderen hat zugesperrt, heute stehen viele Anlagen und Lagerhallen leer, sie sind triste Erinnerung ans Damals, als noch Zehntausende nähten, strickten und walkten.

"Krisenregion Waldviertel, das gehört zusammen, so wie Vorname und Nachname, so wie Heini und Staudinger." Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb Staudinger, der in den neunziger Jahren nach Schrems zog, um hier Schuhe zu produzieren, seinen Nachnamen weglässt. Er sagt nicht: "Guten Tag, Heinrich Staudinger", er sagt: "I bin der Heini."

Seine Firma GEA ist die Antithese zu der wirtschaftlichen Entwicklung im Waldviertel, denn sie wächst. "Das ist wie eine gute Tablette gegen diesen Schleier der Depression, den die Abwanderung über die Region legt", sagt Staudinger. Jetzt, im November, lässt sich passenderweise auch der Nebel fast täglich in dieser Region nieder, dann ist alles grau. "Aber gestern war kurz die Sonne draußen", erzählt die Besitzerin des Schloßcafé Brenner, und fügt noch ein "wirklich" hinzu, als wäre es eine Undenkbarkeit in dieser Jahreszeit. Geradeso wie das Funktionieren eines heimischen Textilbetriebes im dritten Jahrtausend.

Dass es funktioniert, dass aus der 1984 als Arbeitsplatzprojekt gegründeten Schuhwerkstatt ein gedeihender Betrieb wurde, hat viel mit Staudingers - von Seneca entliehenem - Lebensmotto zu tun: "Nie ist zu viel, was genügt." So hat er immer gearbeitet. Jahrelang hat er in einem unbeheizten Raum auf dem Firmengelände geschlafen, sein Büro war der Jausenraum. "Wenn die Belegschaft Pause gemacht hat, bin ich eben woanders hingegangen." Ein Minimum genügt. Bis heute.

GEA als Krisengewinnler

Nun ist die ehemalige Küche Staudingers Zimmer, ein heimeliges Chaos aus Büchern, Schuhen, Zetteln und anderen Wichtigkeiten. In einer Kiste liegt die Urkunde eines Preises für Energieeffizienz, die in anderen Büros gerahmt an der Wand hängen würde. Was für Staudinger zählt, ist, dass er jetzt 130 Menschen beschäftigen kann, mitten im Waldviertel, noch dazu mit einem Nischenprodukt. Doch die Nische ist größer geworden.

"So richtig aufwärts geht’s seit dem Konkurs der Lehman Brothers im September 2008. Ab November haben wir Monat für Monat mehr verkauft. Das Misstrauen in die globale Wirtschaft ist einfach gewachsen", erzählt Staudinger. Das Verkaufsvolumen hat sich seit 2008 verdoppelt, "und das in einer kaputten Branche". Kaputt, weil die Textilproduktion aus Westeuropa praktisch verschwunden ist. "Wir haben Lohnnebenkosten von 10 Euro pro Schuh, die Einfuhr aus Fernost hat bis Ende 2010 pro Schuh 1,25 Euro gekostet, dann wurde die Abgabe ersatzlos gestrichen."

Der Schock um Ergee

Man muss diese Zusammenhänge kennen und verstehen, um auch Heini Staudinger verstehen zu können, der sich auf einen kräfteraubenden und riskanten Streit mit der Finanzmarktaufsicht eingelassen hat. Das Gesetz, gegen das Staudinger mutmaßlich verstößt, wurde gemacht, um naive vor schlechten Menschen zu schützen. Doch das Gesetz gilt eben auch für Staudinger, auch wenn er nichts Böses will.

Staudinger wollte investieren, um zu wachsen. Doch von der Bank bekam er nichts. Private sprangen ein, und so wurde das ganze eine Erfolgsgeschichte. Nur so konnte GEA eine Photovoltaikanlage kaufen, nur so konnte die Lagerhalle vis-à-vis erworben werden. Es ist, wenn man so will, ein historisches Gebäude. Denn in der Halle war einst "der Macho", eine Strickwarenfabrik, und nach deren Ende mietete sich die Ergee ein, bis auch die vor vier Jahren den Betrieb einstellte. Zu seiner besten Zeit hatte der Strumpfhersteller mehr als 1000 Beschäftigte, und das in einer Gemeinde mit nicht einmal 6000 Einwohnern.

"Wir sind das Volk"

Der wachsende Betrieb, der Streit mit der FMA, das alles ist viel für Heini Staudinger. "Aber ich darf mich vor dieser Aufgabe nicht drücken. Ich bin ohne Zweifel ein Fahnenträger", sagt er. Auf Plakaten in Schrems steht: "Wir sind das Volk." Und das Volk probt den Aufstand, das GEA-Volk. "Jeder kleine Bäcker, jeder kleine Metzger, der zugrunde geht, hinterlässt ein Stück Kuchen für einen Großen", sagt Staudinger.

Ein paar Häuser weiter hängt an der Eingangstür zum "Zentralkauf Pilz" die Information, dass "wir diese Filiale aus wirtschaftlichen Gründen ab sofort sperren müssen". Der Zettel hängt hier seit zweieinhalb Jahren, man kann ihn kaum mehr lesen. 50 Meter weiter hat die Gemeinde einen Gewerbepark eröffnet, mit Spar, Lidl - und mit dem Textildiscounter Kik, der den Namen Ergee aus der Konkursmasse herausgekauft hat.

Den Jammergesang von den ehemaligen Betrieben kann auch der Schremser Bürgermeister Reinhard Österreicher auswendig. "Dazu gab’s auch viel Heimarbeit, auch meine Mutter hat daheim genäht", erzählt er. Während Staudinger, wenn nicht die Welt, so doch Österreich und zumindest das Waldviertel verändern will, wirkt der Bürgermeister in seinem Pragmatismus, als hätte er sich damit abgefunden, nicht einmal in Schrems viel verändern zu können. Die Textilindustrie, die hier einst 30.000 Menschen Arbeit bot - weg. Die Glasindustrie - weg, und der Granitabbau beschäftigt nur noch rund 40 Menschen.

Warten auf neue Betriebe

Den Menschen gehe es hier in erster Linie um Arbeitsplätze und eine bessere Verkehrsanbindung, sagt Österreicher. Als Bürgermeister kann er aber weder das eine noch das andere herbeizaubern, der kann sich nur dafür einsetzen. "Wir haben ein neues Betriebsgelände erschlossen, dort gibt’s alles: eine Straße, Beleuchtung, Kanal." Noch immer wartet Schrems auf die erste Firma, die sich dort ansiedelt. Reinhard Österreicher zuckt mit den Schultern.

"Die Jungen, Ausgebildeten gehen weg, zurück kommen die Pensionisten." Dem Hauptplatz ist das auch anzusehen. Das Wirtshaus hat schon vor längerem zugesperrt, vor kurzem ging auch das Hotel-Restaurant zugrunde. Das Schloßcafé hat offen, täglich von 8 bis 4 Uhr Früh. Frau Brenner sperrt auf, Herr Brenner sperrt zu.

Das Ehepaar kann viel über das Waldviertel erzählen, über die Abwanderung, die Berufsschüler, die hier feiern, die Politik, die nichts weiterbringt. Und natürlich auch über den Heini, der manchmal vorbeikommt. Seine Petition haben sie unterschrieben, natürlich. Dass Staudinger hier das Gegenteil von dem geschafft hat, was die Region seit Jahrzehnten erlebt, ringt ihnen Bewunderung ab. Und dann fängt Herr Brenner sogar zum Schwärmen an: über die gesunde Luft hier, den vielen Wald, die Teiche und Flüsse, über den Raureif, der im Winter gefriert und die Bäume zu bizarren Eisskulpturen werden lässt. "Es ist traumhaft", sagt er. "Wirklich traumhaft."