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Revolutionen sind anstrengend

Von Marina Delcheva

Wirtschaft
© Christoph Liebentritt

Arbeitssoziologe Hilmar Schneider über Arbeit im digitalen Wandel, Ein-Euro-Jobs und unbequemes Umdenken.


Wien. Arbeiten von der eigenen Couch aus, sieben Tage die Woche erreichbar sein und auf der anderen Seite immer mehr Maschinen, die uns einfache, körperliche Arbeit abnehmen: Die Arbeitswelt verändert sich, erklärt der Arbeitssoziologe Hilmar Schneider am Rande einer Enquete der Wiener Personaldienstleister. Und mit ihr verändert sich auch unsere Gesellschaft.

"Wiener Zeitung":Herr Professor Schneider, was war denn der ungewöhnlichste Ort, an dem Sie Ihre Arbeit verrichtet haben?

Hilmar Schneider: Der ungewöhnlichste war wohl mein Segelboot auf dem Pilsensee. Während einer Regatta-Pause habe ich einen Projektantrag korrekturgelesen.

Im Zuge der Digitalisierung verändert sich unser Arbeitsalltag. Welche Konsequenzen bringt diese Entkoppelung von Arbeit und Arbeitsplatz mit sich?

Viele mechanische Tätigkeiten werden immer mehr von Maschinen übernommen. Und Menschen werden immer stärker auf das zurückgeworfen, was sie wirklich gut können. Und das sind kreatives Arbeiten, intellektuelle und soziale Tätigkeiten. Das Problem dabei ist, dass diese Art der Arbeit mental anspruchsvoll ist und man sie nicht ohne weiteres nach Feierabend einfach ablegen kann. Das muss man aber, um kreativ zu bleiben.

Nicht nur der Alltag, sondern auch die Arbeit an sich verändert sich. Die Anforderungen steigen, während einfache Jobs zunehmend verschwinden.

Im intellektuell-kreativen Bereich gebe ich Ihnen recht. Aber im sozialen Bereich, auch bei einfachen Tätigkeiten, kommt es auf die soziale Kompetenz an. Dafür braucht man keinen Universitätsabschluss. Mein Lieblingsbeispiel ist die Kassiererin in meinem Supermarkt. Sie ist Sizilianerin und hat irgendwann entdeckt, dass sie ihren Kunden eine Freude macht, wenn sie sie auf Italienisch begrüßt. Für manche ist das der Höhepunkt des Tages.

Im Handel kommen immer mehr Selbstbedienungskassen zum Einsatz, und Ihre italienische Kassierein könnte wegrationalisiert werden. Was macht sie dann?

Ob sich das wirklich durchsetzt, werden wir noch sehen. Ich kann mir aber auch sehr gut vorstellen, dass sich Kunden bewusst für ein Geschäft entscheiden, wo sie diese Interaktion noch bekommen. Und vielleicht findet die Kassierin dort eine neue Stelle, weil sie dafür gut geeignet wäre. Für mich steht fest, dass das Bedürfnis nach sozialer Interaktion in einer kommerzialisierten Welt sogar steigt. Weil die Gelegenheiten, bei denen Interaktion früher selbstverständlich war, verschwinden. Dadurch entsteht Freiraum, in dem Interaktion vielleicht irgendwann zu einem käuflichen Gut wird.

Die Oxford-Wissenschafter Osbourne und Frey gehen in ihrer Studie "Die Zukunft der Arbeit" davon aus, dass die Hälfte der 700 untersuchten Berufe in den USA mittelfristig durch die Digitalisierung verschwinden werden. Wie ist das hier in Europa?

Die Studie ist umstritten. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat versucht, die Frey-Osbourne-Methode auf Deutschland zu übertragen. Die Forscher kommen zu erheblich niedrigeren Zahlen, was das Bedrohungspotenzial anbelangt. Es kann sein, dass die Technologisierung in Deutschland weiter fortgeschritten ist als in den USA. Aber selbst wenn diese 50 Prozent wahr wären, steckt hinter dieser wahrgenommenen Bedrohung die Suggestion, dass diese Jobs ersatzlos wegfallen. Die Digitalisierung ist ja nicht die erste technische Revolution, die die Menschheit erlebt. Und jedes Mal sind alte Existenzen in ihrer Bedeutung verschwunden. Das hat aber nicht dazu geführt, dass die Arbeit insgesamt weniger wurde.

Zu Beginn der Industriellen Revolution bestanden die Grundbedürfnisse der meisten darin, sich hinreichend ernähren zu können und ein trockenes Dach über dem Kopf zu haben. Der Wohlstand, den wir heute hier haben, ist mit dem des 19. Jahrhunderts nicht zu vergleichen. Die Bedürfnisse sind aber nicht dort stehengeblieben, sondern haben sich mit den technischen Möglichkeiten und der verfügbaren Zeit weiterentwickelt. Als VW vor gut zehn Jahren die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohn eingeführt hat, hat das nicht dazu geführt, dass sich die Arbeitnehmer mehr um ihre Familien gekümmert haben. Es hat einen Bauboom in der Umgebung von Wolfsburg ausgelöst. Die Menschen haben in ihrer Freizeit begonnen, ihre Häuser zu renovieren oder bei Kollegen auszuhelfen.

Jede Revolution dieser Größenordnung hat ihre Verlierer und ihre Gewinner. Wir beide gehören vermutlich zu den Gewinnern. Wer sind denn die Verlierer?

Die Verlierer sind die, die es nicht schaffen, aus ihrem Betätigungsfeld, das allmählich verloren geht, in ein neues unterzukommen und zumindest das gleiche Einkommen zu erzielen. Das können auch Menschen mit einer soliden Ausbildung sein - technische Zeichner, Drucker.

In Österreich werden Forderungen laut, Flüchtlinge in Ein-Euro-Jobs zu beschäftigen, um sie schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?

Ich denke, dass diese Ein-Euro-Jobs als vorübergehende Maßnahme hilfreich sein können. Aber im Grunde führt kein Weg daran vorbei, den Flüchtlingen so gut es geht auch formale Qualifikationen zu vermitteln. Wenn die Idee lediglich darin besteht, gering Qualifizierte entsprechend ihren Fähigkeiten zu entlohnen, dann, glaube ich, ist das keine gute Idee.

Warum nicht?

Weil das den Status der geringen Qualifikation dauerhaft zementieren würde. Das führt nämlich zu folgender Diskussion: Wenn man bei den Flüchtlingen aus qualifikatorischen Gründen eine Niedriglohnstrategie für zulässig erklärt, dann wird man früher oder später fragen, warum man das nicht auch bei anderen macht. Das werden sich die Arbeitnehmer nicht gefallen lassen. Wenn etwas ökonomisch funktioniert, aber politisch nicht, funktioniert es einfach nicht. Es müssen beide Gleichungen aufgehen.

Andererseits haben Sie auch Kritik am Wohlfahrtsstaat geübt, dass Menschen wegen der staatlichen Sicherheitsnetze ihre Arbeitsmotivation verlieren. Zahlt die Wirtschaft zu wenig oder der Staat zu viel?

Das ist eine Henne-Ei-Problematik. Wenn man fragt, ob die Unternehmen zu wenig zahlen, suggeriert das, dass sie mehr zahlen würden, wenn sie wollten oder man sie dazu zwingen würde. Das ist eine kühne Behauptung, weil sie in der Regel in einem Wettbewerb stehen. Da mag es sicher Spielräume geben und dafür gibt es das Instrument der Tarif-Auseinandersetzung, das dazu da ist, den Spielraum auszuloten. Die Frage, ob der Staat zu viel oder zu wenig zahlt, ist eine gesellschaftliche. Wenn sie ein bestimmtes Mindesteinkommen haben und dieses durch Arbeit nicht verbessern, dann sehen Sie auch keinen Sinn darin, arbeiten zu gehen.

In Österreich hat die Hälfte der Arbeitslosen höchstens einen Pflichtschulabschluss. Gleichzeitig gibt es immer weniger Stellen, für die es keine Qualifikation braucht. Finden diese Menschen tatsächlich einen Job, wenn man die Subventionen kürzt?

Ja. Wenn die Lohnansprüche sinken, wird es für Firmen interessanter, Stellen zu schaffen, die sie vorher nicht geschaffen hätten. Weil sie sich nicht rentiert hätten.

Verstärkt man damit nicht das Phänomen der Armut trotz Arbeit?

Ja. Wenn Sie die Standards auf null setzen, zwingen Sie Menschen, jeden Job anzunehmen, den sie finden können. Und es wird dazu kommen, dass manche Menschen zwar 16 Stunden am Tag arbeiten, aber kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Es ist eine gesellschaftliche Entscheidung, wie viele "working poor" man bereit ist zu tolerieren. Es ist sehr gut zu sagen, wir wollen die Armut bekämpfen. Je großzügiger die Regeln, desto schädlicher die unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Je höher beispielsweise der Mindesteinkommensanspruch, desto weniger lohnt sich Arbeit.

Wie kann man das Missverhältnis zwischen Anforderungen und vorhandener Qualifizierung bekämpfen?

Im Moment bereitet mir aber dieser laufende Akademisierungsprozess die größten Sorgen. Welche Studiengänge angeboten werden, ist ein Prozess, der sich weitgehend im Bereich der akademischen Institutionen abspielt. Dabei werden aber oft Ausbildungsgänge geschaffen, die systematisch am Markt vorbei qualifizieren. Während das duale Ausbildungssystem eine starke Nachfragekomponente hat. Das kommt daher, dass die Ausbildungsplätze von Firmen bereitgestellt werden, die dafür zahlen. Wenn es ein Informationssystem für Universitäten gäbe, das Informationen über Abgänger, Absolventen, Jobchancen im Internet bereitstellen würde, dann würde es den Qualitätswettbewerb zwischen den Hochschulen anregen. Und es würde junge Menschen vor gravierenden Fehlentscheidungen schützen.

In den 90ern war Faxtechniker der In-Beruf. 25 Jahre später sind wohl viele Faxtechniker ohne Job. Können Sie vorhersagen, welcher In-Job in 30 Jahren obsolet sein wird?

Nein, das ist völlig unmöglich. Der Faxtechniker ist ein schönes Beispiel, dass ein zu enges Profil nie gut ist. Als das Internet damals aufkam, konnte niemand seriöserweise sagen, wohin das noch führen wird. Das zeigt, wie nutzlos es eigentlich ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Berufe der Zukunft aussehen werden.

Probieren wir es anders herum: Was sind Berufe oder Fähigkeiten, die wir vor 1000 Jahren gebraucht haben und noch in 1000 Jahren brauchen werden?

Problemlösungskompetenz. Sie war schon in der Steinzeit sehr wichtig. Zwischendurch ist es etwas weniger wichtig geworden, weil es sehr bequeme Jobs gab. Und jetzt kommt sie als Anforderung wieder zurück. Und das ist unbequem, wie wir zu Beginn besprochen haben. Denn diese Kompetenz lässt sich eben nicht in einen festen Alltag pressen.

Zur Person

Hilmar Schneider

ist Leiter des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Der Sozialwissenschafter forscht zu den Themen Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik sowie -wandel.