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Schwaches Wachstum wird zur Norm

Von Marina Delcheva

Wirtschaft
Wifo-Chef Christoph Badelt: "Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist eine rechnerische Größe und sagt überhaupt nichts über die Verteilung aus."
© Wiener Zeitung, Christoph Liebentritt

BIP pro Kopf ist nicht alles: Wifo-Chef Badelt darüber, warum sich Wohlstand auch mit sozialen Faktoren messen lässt.


Wien. Wir sollten uns auf eine längere Zeit mit niedrigen Wirtschaftswachstumsraten einstellen, sagt der neue Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), Christoph Badelt. Das ist vielleicht gar nicht so schlecht für die Gesellschaft. Denn die Wirtschaftsleistung pro Kopf gibt wenig Auskunft darüber, wie wohlhabend eine Gesellschaft in Hinblick auf Wohlstandsverteilung, Umwelt und soziale Fragen ist. Ein Gespräch über die Grenzen der Wachstumspolitik, warum soziale und ökologische Fragen in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gehören und über die Freiheit, unqualifizierte Entscheidungen zu treffen.

"Wiener Zeitung":Herr Badelt, seit der Finanzkrise dümpelt Österreichs Wirtschaftswachstum so dahin. Das Wifo prognostiziert für 2017 ein Wachstum von höchstens 1,5 Prozent. Warum kommt das Land nicht in die Gänge?

Christoph Badelt: Wir sind immerhin mit dem, was wir jetzt erreicht haben und im nächsten Jahr voraussichtlich erreichen werden, in der Größenordnung der EU insgesamt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Formulierung "Warum kommt das Land nicht mehr in die Gänge" richtig ist. Wir müssen uns aber darauf einstellen, mit so niedrigen Wachstumsraten zu leben. Wir brauchen auch gleichzeitig eine Politik, die das Wachstum fördert; aber auch mit der werden wir jetzt nicht auf einmal auf drei oder vier Prozent kommen.

Haben wir die Spitze des Wachstums erreicht?

Ich bin kein Anhänger dieser Theorie, so wie das zeitweise der Club of Rome war, der sagt: "Das Wachstum ist aus und begrenzt." Das glaube ich nicht, weil die menschlichen Bedürfnisse da sind und immer wieder neue generiert werden. Wir sind aufgrund unserer großen außenwirtschaftlichen Verflechtung nicht autonom, und da werden wir keine großen Wachstumsraten erreichen, so wie China oder andere Schwellenländer. Und außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass die Wachstumsraten nicht so extrem sind, wie das früher war. Wenn Sie sich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ansehen, hatten wir ein hohes Wachstum, weil sich verschiedene Effekte aneinandergereiht haben, die nicht wiederholbar sind. Das war am Anfang der Wiederaufbau, dann bestimmte technische Revolutionen und zuletzt der EU-Beitritt und die Ostöffnung. Und da bleibt jetzt nicht mehr wahnsinnig viel über. Ich glaube, wir kommen in einen Zustand einer neuen Normalität; ohne dass man deswegen sagen muss, wir brauchen und wir wollen nichts mehr.

Das Wifo beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem sogenannten Beyond-GDP, einer Art Post-Wachstumstheorie. Könnten Sie erklären, was das ist? Was bedeutet es, wenn man andere Faktoren als den reinen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts heranzieht, um Wohlstand zu messen?

Ich sehe es eigentlich nicht als eine Post-Wachstumstheorie, sondern als eine Verbreiterung der Sichtweise. Das BIP als Maß hat den großen Vorteil, dass es international standardisiert ist und dass es sehr komprimiert einen gewissen Hinweis auf den Wohlstand eines Landes gibt. Aber das BIP hat schon immer eine Reihe von Nachteilen gehabt.

Zum Beispiel?

Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist eine rechnerische Größe und sagt überhaupt nichts über die Verteilung aus. Es kann für den faktischen Wohlstand aber sehr unterschiedlich sein, wer wie viele Güter hat. Und es kann auch in einem relativ reichen Land Leute geben, die sehr arm sind. Beim BIP wird auch nicht darauf geachtet, welchen Effekt die produzierten Güter haben, etwa auf die Umwelt und soziale Fragen.

Das beste Beispiel ist eine verkehrsreiche Kreuzung, auf der viele Unfälle passieren. Je mehr Verkehrsunfälle passieren, desto höher ist das Bruttoinlandsprodukt. Die Kfz-Mechaniker verdienen daran. Auch baut das BIP von seiner Logik her auf Marktpreisen auf. Damit wird automatisch jene Produktion, die nicht über die Märkte erfolgt, entweder schlecht oder gar nicht ermittelt. Gar nicht erfasst wird ehrenamtliche Arbeit. Wenn wir jetzt von Beyond-GDP-Indikatoren sprechen, dann geht es uns in erster Linie darum, die Perspektive zu erweitern und zu schauen, in welchem sozialen, ökologischen Zustand sich eine Bevölkerung befindet und noch ein paar Dinge mehr.

Ist es eine Art Ergänzung?

Es ist kein Entweder-oder. Die Perspektive kommt dazu. Diese Themen hat es immer schon gegeben. Es gibt zwischen den verschiedenen Aspekten zwar zum Teil Konflikte, aber zum Teil auch konsistente Lösungen. Es geht darum, auf mehr Dinge zu achten, die relevant sind als auf die reine Produktion und Einkommenserzielung.

Bis vor kurzem waren diese Beyond-GDP-Szenarien Öko-Utopie. Warum kommt das jetzt auf die Tagesordnung großer Wirtschaftsinstitute und auch der EU-Kommission?

Manche haben hier einen naiven Zugang. Sie setzen die anderen Indikatoren an die Stelle des BIP. Das ist nicht unser Zugang. Wir wollen vielmehr zeigen, dass wir eine Reihe sozialer und ökologischer Probleme haben, die ganz eng mit der Wirtschaft verknüpft sind und die man im System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen einfach nicht abbildet. Und weil sie nicht abgebildet sind, werden Probleme nicht automatisch Gegenstand von öffentlichen, politischen Diskussionen. Das ist das Problem.

Wie passen Einkommensverteilung, Umweltschutz und eine Stärkung der regionalen Wirtschaft mit Globalisierung, freiem Handel, Gewinnmaximierung und wirtschaftswachstumsgetriebener Politik zusammen?

Das passt meiner Meinung nach sehr gut zusammen, weil ich nach wie vor glaube, dass im Prinzip freier Handel und Globalisierung wohlstandsfördernd sind. Nur - es gibt kaum eine Wohlstandsförderung, die nicht auch Verlierer produziert. Die Ökonomen sagen nicht, dass die Menschen Gewinn maximieren sollen, sondern sie glauben zu wissen, dass Gewinnmaximierung ein wichtiges Prinzip des wirtschaftlichen Handelns ist. Eine Gewinnmaximierung, die negative Auswirkungen auf die Umwelt verursacht, ohne dass der, der den Gewinn erzielt, dafür bezahlt, ist eine rechnerisch falsche Gewinnmaximierung.

Wie sieht Wirtschaftspolitik unter Einbeziehung all dieser Indikatoren aus?

Das bedeutet, dass man möglicherweise zu anderen Schlüssen kommt. Ob sich die Wohnbauförderung jetzt vornimmt, Qualitätsstandards unter dem Gesichtspunkt des Energiesparens zu verlangen, ist eine politische Entscheidung. Natürlich bedeutet das, dass die unmittelbaren Baukosten steigen. Die langfristigen Kosten müssen aber deswegen nicht steigen, ganz im Gegenteil. Für den Mieter einer solchen Wohnung sind die Energiekosten geringer. Oder die Mindestsicherung: Wie wirken sich bestimmte vorgeschlagene Reformen auf die soziale Kohäsion in einem Land und auf die Armutsgefährdung aus? Und nicht nur: Wie wirkt sich eine Reform auf das Sozialbudget aus? Damit werden die Entscheidungen schwieriger, aber ich glaube, dass man sich in der Politik diesen schwierigen Trade-offs, wie das dann so schön heißt, stellen muss.

Hat die Politik denn eine andere Wahl, als sich diesen Trade-offs zu stellen?

Natürlich. Man kann immer unqualifizierte Entscheidungen treffen. Das kommt immer wieder vor.

Gemessen am Beyond-GDP: Wann gilt eine Gesellschaft als reich? Jetzt messen wir es ja am BIP pro Kopf.

Wir stellen fest, dass etwa die Verteilung der Einkommen und der Vermögen in Österreich ungleich ist und dass die Ungleichheit in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Das Problem einer ungleichen Vermögens- oder Einkommensverteilung besteht aber weniger darin, dass es reiche Menschen gibt. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Zustand sich die Menschen in der untersten Dezile befinden.

Ich halte es für ein dramatisches soziales und ökonomisches Problem, dass es immer mehr Menschen gibt, die ganztags arbeiten gehen und trotzdem nicht genug zum Leben haben. Ich halte es weiters für ein massives Problem, dass es Menschen mit einem relativ guten Einkommen gibt, denen es ohne Unterstützung durch die Eltern nicht gelingt, Vermögen aufzubauen.

Ich bin überzeugt, dass privates Eigentum ein positives und konstruktives Merkmal unserer Wirtschaftsordnung ist. Und wenn man zum Beispiel eine Eigentumswohnung nur mehr ererben kann, dann haben wir ein Problem.

Ich glaube auch nicht, dass man Reichtum verteufeln sollte, aber was man verteufeln sollte, wäre eine Situation, in der reiche Menschen deshalb reich sind, weil sie keine Steuern zahlen. Ich halte es für ein wirtschaftliches Problem, dass die Länder in der Europäischen Union in einem solchen Steuerwettbewerb miteinander stehen, dass sie das fördern. Apple hat ja nicht illegal Steuern hinterzogen.

Wo steht Österreich in einer Beyond-GDP-Messung?

Man muss zwar zwischen verschiedenen Indikatoren differenzieren, aber Österreich steht insgesamt bei den Beyond-GDP-Zielen gut da. Es ist sicher in der oberen Hälfte, vielleicht sogar im oberen Viertel.

Christoph Badelt

ist Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) . Er war zuvor Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien und Vorsitzender der Universitätenkonferenz.