Zum Hauptinhalt springen

Zurück in die Werkstatt

Von Andrea Möchel

Wirtschaft
Die meisten Rückrufaktionen gibt es in der Automobilbranche.
© fotolia/Industrieblick

Globale Lieferketten, steigender Kostendruck und neue Technologien führen immer öfter zu Rückrufaktionen.


München/London. Glassplitter in der Fertigpizza, Rauchmelder, die nicht Alarm schlagen, und fehlerhafte Radlagergehäuse in einigen Skoda- und VW-Modellen: Diese und viele andere Produktwarnungen führten in den vergangenen Wochen auch hierzulande zu aufwendigen Rückrufaktionen. Der Eindruck, dass sich Produktrückrufe mehren, trügt keineswegs. "Wir sehen heute Rekordzahlen bei Rückrufaktionen in Bezug auf Größe und Kosten", bestätigt Christof Bentele, Experte für Krisenmanagement beim Industrieversicherer Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS). Die Gründe dafür sind vielfältig: Strengere Regulierung und härtere Strafen, komplexere globale Lieferketten und das wachsende Bewusstsein der Verbraucher sind nur einige davon.

Allianz Global hat für eine aktuelle Studie insgesamt 367 Produktrückrufforderungen aus 28 Ländern und zwölf Branchen analysiert. Die Hauptursache für die zwischen 2012 und dem ersten Halbjahr 2017 erfolgten Rückrufe waren mangelhafte Produkte oder fehlerhafte Ausführungen, gefolgt von Produktverunreinigungen. Die durchschnittlichen Kosten für einen größeren Rückruf belaufen sich laut dem Bericht auf mehr als 10,5 Millionen Euro. Dank einiger dramatischer Ausreißer, sind rund 50 Prozent der Schäden auf nur zehn Rückrufe zurückzuführen.

Autoindustrie an der Spitze

Am stärksten betroffen ist wenig überraschend die Autoindustrie mit 42 Prozent der Schäden. Platz zwei geht an die Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie (18 Prozent), gefolgt von den Haushaltsgeräten (10 Prozent). Auch bezogen auf die Schadenshöhe liegt die Autoindustrie mit 71 Prozent klar an der Spitze.

"Wir sehen in der Automobilindustrie immer mehr Rückrufe mit immer mehr betroffenen Fahrzeugen", sagt Carsten Krieglstein, Leiter der AGCS-Haftpflicht-Sparte für den Raum Zentral- & Osteuropa. "Dazu tragen Faktoren wie anspruchsvollere Technik, verkürzte Produkttestzeiten, Outsourcing von Forschung und Entwicklung und zunehmender Kostendruck bei."

Der technologische Wandel in der Autoindustrie hin zur elektrischen und autonomen Mobilität wird weitere Rückrufrisiken mit sich bringen, ist Krieglstein überzeugt. Bei Allianz Global rechnet man mit einem regelrechten "Domino-Effekt", der sich auf den Automobilsektor, aber auch auf andere Branchen auswirken wird. "Da viele gängige Komponenten von vielen Herstellern gleichzeitig verwendet werden, kann ein einziger Rückruf Auswirkungen auf eine ganze Branche haben", prophezeien die Experten.

Betrüger und Erpresser

Platz zwei im Schadens-Ranking geht an die Lebensmittel- und Getränkebranche. Hier belaufen sich die durchschnittlichen Kosten für einen größeren Produktrückruf auf rund acht Millionen Euro. Besonders gefürchtet sind in diesen Sparten nicht deklarierte Allergene, Krankheitserreger und die Kontamination durch Glas-, Kunststoff- und Metallteile. Aber auch "böswillige Manipulationen und sogar Erpressungsvorfälle stellen eine zunehmende Bedrohung dar", so die Allianz-Studie. Erst im September 2017 vergiftete ein Erpresser im deutschen Friedrichshafen Babynahrung in Supermärkten. Der Mann konnte dank der Bilder einer Überwachungskamera identifiziert und verhaftet werden. Auch regelmäßig auftretende Lebensmittelskandale wie der britische Pferdefleischskandal oder mit dem Insektengift Fipronil belastete Eier aus Belgien verursachen neben finanziellen Verlusten auch beachtliche Reputationsschäden.

Drohende Cyberangriffe

Sorge bereiten den Industrieversicherern außerdem neu auftretende Rückrufauslöser und bisher unbekannte Risiken, die größtenteils auf neue Technologien zurückzuführen sind. So rechnete man künftig vermehrt mit Cyberrückrufen, ausgelöst durch Hacker, die Produkte verändern oder kontaminieren können, indem sie in automatisierte Produktionsanlagen eindringen und die Steuerung von Maschinen übernehmen. "Cyberangriffe sind derzeit ein noch unterschätztes Rückrufrisiko", warnt Bentele. "Dabei gab es bereits erste Rückrufe aufgrund von Sicherheitslücken in Autos oder Kameras." Auch innovative, aber noch kaum getestete Technologien wie künstliche Intelligenz und Nanotechnologie könnten das Rückrufrisiko steigern.

Gleichzeitig wird es für Hersteller und Regulierungsbehörden in Zukunft einfacher, durch Fortschritte bei Produkttestungsverfahren kontaminierte Artikel zu verfolgen. Dadurch können einerseits Gesundheitsschäden verhindert werden, andererseits ist aber auch mit mehr Gerichtsprozessen zu rechnen, weil dann die Haftungsfrage einfacher zu klären sein wird.

Zunehmen werden auch Rückrufe aus ethischen Gründen, zum Beispiel, wenn Kinder- und Sklavenarbeit in der Lieferkette nachgewiesen wird oder vegane Lebensmittel falsch etikettiert sind. "Es wird zunehmend Fälle geben, bei denen es zwar keine gesetzliche Verpflichtung zum Rückruf gibt, dieser aber aus Reputationsgründen trotzdem notwendig ist. Darauf sollten Unternehmen vorbereitet sein", betont Christof Bentele.

Die Wahrnehmung von Produktrückrufen in den Sozialen Medien spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. Social Media sei "ein echter Game-Changer für Produktrückrufe", so die Versicherungsexperten. Fehlerhafte Posts oder Tweets können sich direkt auf die Größe eines Rückrufs auswirken. Unternehmen müssten deshalb viel schneller als bisher reagieren. "Verbraucher machen ihre Konsumentscheidungen immer öfter davon abhängig, wie Unternehmen mit Krisen umgehen", schildert Bentele die zunehmende Macht der Konsumenten. Sein Rat: "Ein Unternehmen, das Krisenmanagement als Teil seiner DNA versteht, ist da weitaus weniger anfällig für einen großen Skandal."