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"Wissenschaft ist im weitesten Sinn politisch"

Von Eva Stanzl

Wissen
Schafft Wissen Politik? Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger (links), Kabarettist Günther Paal und Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt.
© Simon Rainsborough

Wissen schafft Politik, aber nur auf der Basis von Evidenz, hieß es bei einer Diskussion von "Wiener Zeitung" und Diakonie.


Schon der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon formulierte im Jahr 1597 das bis heute geflügelte Wort "For knowledge itself ist power", im Deutschen verkürzt: "Wissen ist Macht". Die in jüngerer Zeit unmittelbarste Auswirkung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Weltpolitik war wohl die Umsetzung der Kernspaltung in Nuklearwaffen. Mit einer Bedrohung ganz anderer Art sehen wir uns heute konfrontiert. Sie ist winzig und kann dennoch tödlich sein: Selten war der Einfluss der Wissenschaft auf die Menschheit so direkt wie in Zeiten des Coronavirus, wo wir hinter verschlossenen Türen bleiben, Gesichtsmasken tragen und einen Abstand voneinander einhalten müssen, der jede Gemütlichkeit im Keim erstickt.

Der pandemische Erreger Sars Cov2, der heute vor einem Jahr nicht einmal einen Namen hatte, raubt Wissenschaftern den Schlaf. Die wiederum tragen aus der ganzen Welt Puzzlesteine zu einem Täterprofil zusammen, das täglich vollständiger wird, und diese zusammengetragene Expertise bildet die Basis für Maßnahmen zur Pandemiekontrolle. Derzeit erleben wir live, wie Politiker auf der Grundlage von evidenzbasierter Forschung Entscheidungen fällen, die alle angehen. Während zahllose Studien, die den menschengemachten Klimawandel bestätigen, eher folgenlos bleiben, hat man beim Coronavirus den Eindruck, die Wissenschaft wurde noch nie so ernstgenommen wie jetzt.

"Reinraum-Situation"

Vereint Corona mit Emotion, Dringlichkeit und Betroffenheit die Grundlagen für politische Konsequenz? Was muss passieren, damit die Mächtigen die Fakten zum Wohle der Menschheit ins Zentrum ihrer Handlungen stellen? Fragen wie diese erörterte eine hochkarätige Runde bei einer Diskussion von Diakonie Österreich und "Wiener Zeitung" aus der Reihe "Future Ethics" diese Woche.

"Wissenschaft hat häufig eine Beraterfunktion. Die Frage ist, wie sehr die Politik die Beratung umsetzt, wo doch die Wissenschaft nicht immer Lösungen anbietet", sagte Ursula Wiedermann-Schmidt, Professorin für Vakzinologie der Medizinuniversität Wien. "Wenn die Not groß ist, ist der gemeinsame Wunsch, rasch zu einer Lösung zu kommen, sehr stark."

Dennoch handeln bekanntermaßen nicht alle Regierungen auf der Basis von Evidenz. "Dass Wissen Macht ist, ist ein frommer Gedanke, der in einer mental-soziologischen Reinraum-Situation Gültigkeit hat", fand der Kabarettist und Musiker Günter Paal, der vielen als "Gunkl" bekannt ist. Wissen selbst gebe noch keine politische Macht, sondern "das Wissen darum, wie man zu Macht kommt und sie behält, verschafft Macht."

Wenn die Wissenschaft nur der Zündstoff für populistische Entscheidungen sei, bringe das niemanden weiter. "Politik braucht die Wissenschaft, wenn sie ihre Aufgabe ernst nimmt", hob Paal hervor. In keinem Fall solle sie sich zum Stichwortgeber erklären lassen. Sondern sie müsse Machtansprüchen einen Bremsklotz ins Getriebe schmeißen, also "wuchtiger auftreten, wenn Spielregeln geschwänzt werden."

Was die Politik vor allem braucht, ist Eindeutigkeit, also ein klares Nein oder Ja. Das wird als Stärke verstanden", betonte Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien. "Grauzonen werden oft als Schwäche ausgelegt, dabei gibt es aber in der Wissenschaft selten ein klares Ja oder Nein. Das war in der Corona-Krise anfangs natürlich ein Problem", sagte die Migrationsforscherin. Während die WHO zu Beginn der Ansicht war, Masken würden nicht schützen, wären heute alle "mit Masken vermummt. Die Vorläufigkeit von Wissen, die Grundannahme der Wissenschaft, ist schwer zu kommunizieren: Alles, was ich heute weiß, kann morgen überholt sein. Und damit hadert die Politik."

Wie politisch ist Wissenschaft? "In einer Reinraum-Situation sollte sich die Wissenschaft nicht mit Politik befassen, sondern die Wirkzusammenhänge erkennen, beschreiben und anwendbar machen", meinte Paal. Allerdings müssten Politiker dafür sorgen, dass es Anwendungen gibt. Und überhaupt sei die Reinraum-Situation "problematisch, wenn man weiß, dass es Seilschaften gibt."

"Politik braucht Eindeutigkeit

"Im allerweitesten Sinn ist das Schaffen von Wissen politisch", entgegnete Kohlenberger, "da man sich ja als Wissenschafterin nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum bewegt." Forschende seien historisch, geografisch oder kulturell verortet, "eine absolute, komplette Neutralität oder auch Objektivität, die wir immer als Ideal anstreben, ist nicht erreichbar, weil wir auch Bürgerinnen und Bürger sind, die in einem demokratischen Gefüge verortet sind."

Die Fakten würden nicht einfach darauf warten, entdeckt zu werden, sondern selbst die Suche nach Fakten beginne mit Bewertungen und Bedeutungszuweisungen, erklärte die Soziologin, wobei sie einräumte: "Das ist wahrscheinlich in den Naturwissenschaften etwas anders als in der hochpolitisierten Migrationsforschung. Wo Menschenrechte verletzt werden, sehe ich es als Aufgabe der Migrationsforschung, darauf hinzuweisen." Die medizischen Wissenschaften seien "eher in der privilegierteren Position, sich zurückhalten zu können.

Wirklich? Immerhin sitzen zahlreiche Medizin- und Naturwissenschafter derzeit in politischen Beratungsgremien. Droht eine Grenze zu verschwimmen? "Die Grenzen müssen klar definiert sein", sagte Wiedermann-Schmidt, die im deutschen Robert Koch-Institut zum Thema Impfungen berät.

"Inhalt nicht beugbar"

"Die beiden Richtungen sind zu unterschiedlich, um verschmelzen zu dürfen. Es kann die Politik gar nicht genug Fakten von der Wissenschaft haben, aber die Wissenschaft darf auf keinen Fall zu viel Politik haben, Politiker dürfen nicht vorgeben, wie Wissenschaft sein soll", betonte Wiedermann-Schmidt. Wenn die Politik wissenschaftliche Evidenz nicht aufnimmt - etwa wenn eine Maßnahme zu teuer ist -, müsse sie ihre Gründe offenlegen und die Konsequenzen tragen. "Die Politik muss zu Wahrheiten stehen. Dementsprechend müssen die Gremien Unabhängigkeit bewahren können, wohl mit einem Auftrag der Politik, aber der Inhalt ist nicht beugbar."

"Ich weiß nicht, wie sehr Politiker wissen, wie Wissenschaft funktioniert", räumte Paal ein. Manche Fachgebiete seien immerhin auch nicht leicht zu begreifen, sodass man manchmal nur dahinterkommen könne "wovon Experten reden, aber nicht, worüber."

"Wissenschafter sind nicht demokratisch legitimiert, Politiker schon", sagte Kohlenberger. "Die Volksvertreter müssen auf Basis der ihnen dargebotenen Evidenz, Entscheidungen treffen." Eine populärwissenschaftliche Aufbereitung von Wissen, nicht zuletzt durch seriösen Wissenschaftsjournalismus, trage "im besten Sinn zu einer Demokratisierung der Wissenschaft bei".