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Hallstatt: Sedimente als Geschichtsbuch

Von Stefan May

Reflexionen
Hallstatt, wie man es schon länger nicht mehr gesehen hat - nämlich weitgehend frei von Touristen . . .
© Stefan May

Mittels Tiefenbohrungen im Hallstätter See wollen Wissenschafter die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt vor 10.000 Jahren erforschen.


Hallstatt, wie man es nicht kennt: Es nieselt aus den tief zwischen die Berge gezwängten Wolken, der Ort wirkt verlassen. Der Supermarkt am Ortseingang ist zwar auch auf Chinesisch angeschrieben, doch Corona-bedingt schiebt sich schon seit Monaten keine asiatische Besuchergruppe mehr über die Seestraße. Nirgends sind Touristen zu sehen, nur da und dort steht ein Einheimischer traurig in der Tür seines Souvenirgeschäfts.

Draußen auf dem See schaukelt im trüben Grau ein Stahlkäfig auf dem Wasser. Er ist derzeit der eigentliche Star des Orts. Denn seit Mitte April wurde wochenlang in 100 Metern Wassertiefe in den Untergrund gebohrt, um zu erfahren, unter welchen Bedingungen die Menschen vor tausenden Jahren hier gelebt haben. "Beziehungsgeschichten - Die Mensch-Umwelt-Beziehung durch die Jahrtausende" steht über einem Podium im Saal des Kultur- und Kongresszentrums Hallstatt zu lesen.

Präsentation des wissenschaftlichen Projekts im Kultur- und Kongresszentrum von Hallstatt.
© Stefan May

Auf dem Podium haben elf Personen Platz genommen, die ein mächtiges interdisziplinäres Projekt vorstellen: "Hipercoring-Hallstatt History" oder kurz "3H" heißt es und hat mit dem Käfig draußen auf dem See zu tun. Denn als Coring-Barrel wird ein Rohr zur Proben-Entnahme bezeichnet. Darin wurden 25 Bohrkerne aus den Tiefen des Seeuntergrunds, des Sediments gemeißelt und an die Oberfläche befördert. 25 Bohrkerne zu je zwei Metern. Insgesamt 50 Meter tief wurde sechs Wochen lang in den See-Untergrund gebohrt - eine bisher nicht erreichte Tiefe.

Hämmern im See

Je tiefer, umso weiter stößt man geologisch in die Menschheitsgeschichte vor. "Man legt jedes Jahr Geschichtsbuch auf Geschichtsbuch", sagt Projektleiter Michael Strasser vom Institut für Geologie der Universität Innsbruck. Nun wollen die Wissenschafter in diesem Geschichtsbuch zu lesen beginnen. "Das Seesystem ist beeinflusst von Mensch, Klima und Tektonik", sagt Strasser. Die Sediment-Proben werden erst aus dem Seeboden ausgestanzt und ins Labor gebracht. Dort, an der Universität Innsbruck, werden sie nun Forscher unterschiedlichster Disziplinen mit Bohrkernscanning-Methoden untersuchen: Archäologen, Geologen, Klimatologen, Biologen. Erste Erkenntnisse sind für Ende dieses Jahres zu erwarten. In den nächsten drei bis vier Jahren ist mit regelmäßigen Publikationen zum Thema zu rechnen.

Damit es überhaupt so weit kommen konnte, war eine spezielle Technik notwendig. Sie wurde in Österreich entwickelt und von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie in Bochum auf dem Hallstätter See betrieben. Das Institut beschäftigt sich eigentlich mit Erdwärme und der Entwicklung neuer Energietechniken. In Hallstatt ist Fraunhofer aber an der ersten wissenschaftlichen Tiefbohrung in einem inneralpinen See beteiligt.

Bei den Arbeiten wurde das Proben-Entnahmerohr, jenes Coring-Barrel, mit einem Imlochhammer in den Untergrund des Sees eingeschlagen, erzählt Volker Wittig von Fraunhofer: "Dieser Imlochhammer hängt an einem Schlauch und wandert mit dem Coring-Barrel in die Tiefe. Dort schlägt er mit etwa 70 Schlägen pro Sekunde, mit 70 Hertz."

Stahlkäfig auf dem Hallstätter See, von dem aus die Bohrungen erfolgen.
© Stefan May

Auf diese Weise wurden nach und nach die 25 zwei Meter langen Bohrkerne aus dem Seeuntergrund geholt. Vom "besten Archiv in den Ost-Alpen", das nun geöffnet wurde, spricht Professor Strasser. Ein Umweltarchiv aus der Zeit vor und während des Salzabbaus in Hallstatt, ein geologisches Archiv für Klima- und Naturkatastrophen. Denn die Bodenproben werden den Forschern über Erdbeben, Hochwässer, Felsstürze, Murenabgänge und Umweltverschmutzungen aus längst vergangener Zeit erzählen.

Chronologisches Archiv

Spannend wie ein Krimi wird die Spurensuche in den Bohrkernen. In ihnen wird nämlich vieles vermutet, was über Luft und Wasser in den See gelangen und sich dort ablagern kann: von Pflanzenresten, Blütenstaub, Insekten und Mikroorganismen über Gesteine und viele andere Materialien bis zu Fäkalien von Nutztieren wie Kühen oder Schafen, deren DNA sich auf diese Weise nachweisen lässt.

In diesem chronologischen Archiv wird ab sofort von den Forschern in den Laboren geblättert. Denn laut Strasser handelt es sich bei den 50 Metern Bodenprobe um "11.500 Jahre kontinuierliche Sedimentationsgeschichte". Wobei die Priorität auf die Zeit vor den letzten 7.000 Jahren gelegt werden soll. Da, wo sich das Licht der wissenschaftlichen Erkenntnis derzeit noch verdunkelt. Denn bis dahin gilt Hallstatt als gut erforscht.

In einem Hochtal oberhalb von Hallstatt hat im 19. Jahrhundert ein Beamter der Saline ein Gräberfeld aus der Zeit von 8500 bis etwa 380 vor Christus entdeckt. 980 Gräber hat der Hobby-Archäologe ausgegraben und sorgfältig archiviert. Das Gräberfeld gilt als eine der wichtigsten archäologischen Fundlandschaften Europas. Die frühe Eisenzeit zwischen 800 und 380 vor Christus wird deshalb auch als "Hallstattzeit" bezeichnet.

"Citizen Science" nennt Anton Kern, der Leiter der prähistorischen Abteilung im Naturhistorischen Museum, die Arbeit jenes Johann Georg Ramsauer. Im 19. Jahrhundert stand die Saline noch im Eigentum des Kaisers, die frühen Funde kamen deshalb an den Hof nach Wien und erst nach Gründung des Naturhistorischen Museums 1870 dorthin.

Dieses hat in den letzten Jahrzehnten 121 weitere Gräber im Hochtal freigelegt. Vermutlich befinden sich in dem Hochtal insgesamt 4.000 Grabstellen. In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts gruben Wissenschafter des Museums alljährlich im prähistorischen Bergwerk. Die zahlreichen Funde in den Salzabbaustätten des Ortes, die seit dem 5. Jahrtausend vor Christus hier existieren, erzählen von der sozialen, soziologischen und religiösen Entwicklung der damaligen Bevölkerung. Das Salz hat alle menschlichen Hinterlassenschaften unversehrt konserviert.

"Alles, was sie nicht mehr brauchten, blieb im Salz erhalten", erzählt die Historikerin Kerstin Kowarik vom Naturhistorischen Museum. "Das war kein willkürlicher Abbau." Er hatte bereits industrielle Merkmale. "Wir sehen, dass wir es mit einer sehr resilienten Gesellschaft zu tun haben. Es ist uns wichtig, das ganze sozio-ökonomische System zu erfassen", sagt Kowarik.

Interdisziplinär

Für ihren Kollegen Kern, der hier schon seit 30 Jahren forscht, ist Hallstatt "ein Ort der Geschichte, wo noch nicht alle Kapitel fertig geschrieben worden sind. Wir haben derzeit gesicherte Ergebnisse, dass es im 5. Jahrtausend vor Christus, also vor 7.000 Jahren losgeht, das ist die Jungsteinzeit." Salz aber sei immer schon ein begehrtes Gut gewesen, auch schon bei den Menschen, die früher in der Region gelebt hatten. Möglicherweise wird man jetzt etwas mehr über diese Epochen erfahren, über Temperaturentwicklung, Niederschlagsmengen, Hochwässer.

In den Sedimenten wollen die Wissenschafter die Wechselwirkungen von Umwelt, Mensch und Klima vergangener Jahrtausende lesen. Die Generaldirektorin des Naturhistorischen Museums, Ka-trin Vohland, betont die Zusammenarbeit der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen an dem Projekt, das neben einer technischen auch eine geistes- und naturwissenschaftliche Komponente hat. "Man macht zum Teil C-14-Analysen, um die jeweiligen Zeiten festzustellen", sagt sie. Es gebe aber auch eine biologische Komponente, weil anhand des Pollens erkannt werden könne, welche Pflanzen zu welchen Zeiten wuchsen und ob etwa Feuer gemacht wurde. "Anhand dieser Erkenntnisse erhält man eine Idee davon, wie die Gegend hier bewirtschaftet wurde, ob zum Beispiel bestimmte Dinge angebaut wurden und ob auf einmal Pflanzen da waren, die eher auf Offenland hinweisen", sagt Vohland.

Weiters kommt die Archäologie ins Spiel, weil die Seebohrung in engem Zusammenhang mit der Forschung steht, die schon seit Jahrzehnten in Hallstatt stattfindet - im Gräberfeld ober Tage, in den alten Salinen unter Tage. "Man weiß, wie die Menschen gearbeitet haben, man weiß, wie sie in den Salinen unterwegs waren", sagt die Chefin des Naturhistorischen Museums. "Man hat die Stoffreste, man hat die wertvollen Grabbeigaben. Und man hat auch eine Idee, wie Salz über diese sehr langen Zeiträume abgebaut wurde."

So sind etwa auch die Universität Bern und das Geoforschungszentrum Potsdam am See-Bohrungsprojekt beteiligt. Finanziert wird es vom Wissenschaftsministerium, gefördert von der Akademie der Wissenschaften.

Salzabbau seit Steinzeit

"Das ist jetzt das Ziel des Projekts, wann die Menschen angefangen haben, diese Region zu beeinflussen", sagt Katrin Vohland. "Soweit Menschen hier wirtschaften, kann man das erkennen. Es werden immer Spuren hinterlassen, ob Bäume gefällt werden oder ob es Exkremente gibt oder Umgestaltungen der Umwelt." Gleichzeitig gestaltet diese aber auch das Leben der Menschen. "Das heißt, es befruchtet sich beiderseitig."

Die Tradition des Salzabbaus geht in Hallstatt bis in die Steinzeit zurück.
© Stefan May

Der Hallstätter Salzberg ist die älteste Kulturlandschaft der Welt, in der immer noch produziert wird. Deshalb sind es nächstes Jahr 25 Jahre, dass Hallstatt zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde. Peter Untersperger, CEO der Salinen Austria AG, kann etwas von seinem Unternehmen behaupten, was niemand auf der Welt sonst kann, nämlich dass seine Firma in der Steinzeit gegründet wurde. Die Salinen gehören heute der Androsch-Gruppe, der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich und zu kleinen Teilen den Mitarbeitern.

Mit einer Einzelperson mag es vor 9.000 bis 10.000 Jahren begonnen haben. Seither wird in Hallstatt ununterbrochen Salz abgebaut. Es waren Familien- und Clanbetriebe, Kinderarbeit war üblich. Waren es damals 400.000 Kilogramm pro Jahr, die zum Handel hinaus in die Welt geschafft wurden, immerhin Lastenkarawanen, die täglich 1.300 Kilogramm des "weißen Goldes" wegbeförderten, gewinnen die Salinen heute im Jahr 1,2 Millionen Tonnen Salz aus den drei Abbaustätten Bad Ischl, Hallstatt und Altaussee.

Damit befindet sich das Unternehmen im europäischen Mittelfeld und konzentriert sich neben Streu- und Tafelsalz auf Qualitätsprodukte, die in der Saline Ebensee hergestellt werden. Im Bergwerk von Hallstatt arbeiten heute etwa 100 Beschäftigte.

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.