Aus großer Entfernung betrachtet, scheinen komplexe Objekte simple Formen zu haben. Bei näherem Hinschauen offenbaren sich jedoch variantenreiche Strukturen: Wir sind in jeder Größenordnung von Komplexität umgeben. Doch wie viel Detail ist nötig, um die Natur zu erklären? Müssen wir jedes Wassermolekül in Betracht ziehen, um die Ozeane zu verstehen? Das vielleicht nicht, doch wir müssen die richtigen Faktoren verknüpfen. Ohne präzise Theorien selbst über kleinste Strukturen wären Vorhersagen über große Prozesse unmöglich und Prognosen über die Erderwärmung unverlässlich. Der Nobelpreises in Physik 2021 wurde Forschern zuerkannt, die sich mit der Simulation des Klimas und der Struktur komplexer Systeme auseinandersetzen und so die Voraussetzungen für heutige Klimamodelle überhaupt erst schufen.

Die höchste wissenschaftliche Auszeichnung geht zur einen Hälfte an Klaus Hasselmann (89) aus Deutschland und Syukuro Manabe (90) aus Japan/USA. Den beiden Meteorologen gelang "das physikalische Modellieren des Klimas der Erde, welches die quantitative Analyse von Variationen und die zuverlässige Vorhersage der Erderwärmung ermöglicht", so das Nobel-Komitee. Die andere Hälfte des Preises erhält der italienische Physiker Giorgio Parisi (73) "für die Entdeckung, wie das Zusammenspiel von Unordnung und Fluktuation physikalische Systeme vom atomaren bis hin zum planetarischen Maßstab bestimmt".

"Bahnbrechende Beiträge"

Die Wissenschafter hätten "bahnbrechende Beiträge zum Verständnis komplexer physikalischer Systeme" geleistet, gab Göran Hansson, Generalsekretär der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften, am Dienstag in Stockholm bekannt. Die Auszeichnung ist so wie im Vorjahr mit zehn Millionen Schwedischen Kronen oder 985.000 Euro dotiert.

Die Physik des Erdklimas erforschte erstmals der französischer Mathematiker Joseph Fourier. Er erkannte, dass die Erdatmosphäre im Wesentlichen durchlässig ist für Sonnenstrahlen, die diese in eine "dunkle Hitze" verwandle. 1824 beschrieb er die wesentlichen Mechanismen eines modellhaften Treibhauseffekts. 70 Jahre später entwickelte Svante August Arrhenius, schwedischer Nobelpreisträger für Chemie 1903, das erste mathematische Klimamodell, mit dem er vorhersagte, dass die Temperaturen steigen würden, wenn die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre ansteigen.

"Sikuro Manabe und seine Kollegen haben diese Prozesse mit Schlüsselaspekten der Thermodynamik der Erde verknüpft und die erste verlässliche Prognose erstellt, dass eine Verdoppelung des Kohlendioxids in der Erdatmosphäre die Oberflächentemperatur um zwei Grad Celsius erhöht", beschrieb John Wettlaufer, Professor für Geophysik und Mathematik an der Universität Yale in New Haven im US-Staat Connecticut, in seiner Festrede die Leistungen des am Institut für Atmosphärenforschung der Universität Princeton tätigen Ozeanographen.

Doppelt so viel CO2 erhöht Temperatur um zwei Grad

Zugleich verhält sich das Wetter chaotisch. Schon auf eine Woche hinaus ist es unvorhersehbar. Könnte das Wetterchaos das Klima wie empfindlich stören? Davon ging Klaus Hasselmann aus. Der langjährige Direktor am Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg zog eine Analogie zwischen den schnell veränderlichen Wetterverhältnissen und dem langsam voranschreitenden Klimawandel. "Hasselmann sagte vorher, dass das tägliche Wettergeschehen die Ozeane über lange Zeiträume beeinflusst", erklärte Wettlaufer.

Hasselmann entwickelte überdies Berechnungsmethoden, um den Einfluss des Menschen auf das komplexe System Klima sichtbar zu machen. Somit konnte die globale Temperaturzunahme ab den 1990er Jahren nicht mehr ohne die menschengemachten Treibhausgase erklärt werden. Letztlich könne auf Basis der Erkenntnisse von Hasselmann und Manabe nicht mehr wissenschaftlich fundiert behauptet werden, dass sich die Erde nicht durch den menschgemachten, sich beschleunigenden Treibhauseffekt aufheizt, betont das Komitee. Die drei Preisträger vereint, dass sie neue Methoden zur Beschreibung und Vorhersage von schwer verstehbaren Phänomenen geliefert haben.

Parisi wird für seinen revolutionären Beitrag zur Theorie von ungeordneten Stoffen und zufälligen Prozessen ausgezeichnet. Der 1948 geborene Italiener konnte um 1980 versteckte Gesetzmäßigkeiten hinter vermeintlich dem Zufall gehorchenden Phänomenen aufdecken.

Parisi erforschte das vermeintlich banale Material Glas: Flüssig wenn heiß, fest wenn trocken, kann es fließen und brechen. "Feste Partikel können nur einen Platz finden, um sich einzuordnen, flüssige Teilchen aber bewegen sich, entsprechend haben sie auch einen anderen Energiezustand", sagte Wettlaufer: "Das Material bricht physikalische Gesetze." Parisis Arbeiten an magnetischem Spin-Glas zählen zu den einflussreichsten in der Forschung an komplexen Systemen mit Auswirkungen auf zahlreiche Bereiche.

Keine gesicherten Aussagen ohne komplexe Systeme

Die Preisträger haben komplexe Systeme von der mikroskopischen Ebene bis auf die globale Skala greifbarer gemacht, so das Nobel-Komitee. Ohne die Berücksichtigung von Unordnung oder Rauschen könne man in vielen Bereichen keine gesicherten Aussagen treffen. Außerdem zeige die Arbeiten, dass Einzelbeobachtungen nicht für bare Münze genommen werden könnten.

Hasselmann zeigte sich in einer ersten Reaktion "ganz überrascht. Ich will gar nicht aufwachen, für mich ist das ein schöner Traum. Ich freu‘ mich über die Ehre. Die Forschung geht weiter", sagte der 89-Jährige. Ebenfalls "sehr froh" äußerte sich Parisi: "Ich wusste, dass es eine kleine Chance gab.", sagt er, und was den Kllimawandel betrifft: "Wir müssen starke Entscheidungen treffen. Wenn wir mehr Energie in die Atmosphäre pumpen, erhöhen das die Chancen für extremer Wetterereignisse."