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Unter dem Eis

Von Anna Strobl

Wissen
Der Rofenkarferner Gletscher in den Ötztaler Alpen (vom Wilden Mannle aus gesehen).
© Karol Majewski / Getty

Durch den Klimawandel schmelzen die Gletscher immer rascher. Was sich unter dem ewigen Eis verbirgt, wirft Fragen auf.


Massive Eismassen, die vom Berg ins Tal strömen, begleitet vom Knacken des Eises und dem Rauschen des Wassers: Gletscher sind atemberaubende Naturphänomene, die mit ihren imposanten Formen faszinieren. Dass man vor tausenden von Jahren von Salzburg bis zum Gardasee über eine Eisdecke spazieren hätte können, ist heute unvorstellbar.

2022 war das verheerendste Jahr für die Gletscher seit Beginn der Messaufzeichnungen – bis zu sechs Meter an Gletscherdicke sind abgeschmolzen. Prognosen sagen zudem voraus, dass sich die Gletscher bis ins Jahr 2100 weltweit mindestens halbieren werden – und das im besten Klimaszenario. Fakt ist, der Klimawandel ist längst in den Alpen angekommen. Die Frage, was uns unter dem ewigen Eis erwartet, ist jedoch schwer zu beantworten.

Es gibt viele Missverständnisse, wenn es um die Klimaerwärmung und Gletscherschmelze geht. "Wir hatten durchaus Phasen in den letzten 10.000 Jahren in den Alpen, in denen die Gletscherstände geringer waren als um das Jahr 2000 herum. Das war aber natürlich", erklärt Professor Bernhard Salcher, Quartärgeologe vom Fachbereich Umwelt und Biodiversität der Universität Salzburg. Faktisch gesehen befinden wir uns in einem Eiszeitalter, in dem längere Kaltzeiten von kürzeren Warmzeiten unterbrochen werden. Wieso gibt es dann den Aufruf, das Klima und die Gletscher retten zu müssen?

Das Ende der seit wenigen hunderten Jahren herrschenden, relativ kühlen Phase der aktuellen Warmzeit fällt mit der industriellen Revolution zusammen. Seit dieser Zeit kommt es zu einem deutlichen Anstieg von CO2 in der Atmosphäre. Dieser Ausstoß hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch gesteigert. Bereits relativ kleine Mengenänderungen von CO2 haben große Effekte auf das Klima. Die Freisetzung durch Verbrennung fossiler Energieträger hat die Gehalte in der Atmosphäre in kürzester Zeit stark in die Höhe getrieben. Sie sind nun so hoch wie seit Millionen Jahren nicht mehr, als das globale Klima deutlich wärmer war als heute. Die damit einhergehende rasche Erwärmung bedeutet für viele Lebewesen und Ökosysteme enormen Stress.

Das Freisetzen des Gases wird durch Menschenhand beschleunigt. Das hat auch Auswirkungen auf die Gletscher. "Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen geht mit einer Verdoppelung im Alpenraum einher. Wir sind dort bereits etwa bei zwei Grad Erwärmung. Bei der aktuell wenig ambitionierten Klimapolitik gehen Prognosen von einer globalen Erwärmung von drei Grad aus, was für den Alpenraum wiederum sechs Grad bedeuten würde. Ich kann nicht genau sagen, wann wir die Alpengletscher verlieren, aber der Zeitpunkt wird kommen", meint der Geologe.

Zusätzlich mache steigende Trockenheit dem Gletschereis zu schaffen: Winter müssen niederschlagsreich sein, sodass sich viel Schnee aufbauen kann und das Eis im Sommer schützt. Das ist aktuell nicht der Fall. Über die Sommer gibt es ebenfalls kaum Niederschlag in Form von Schnee. Die Gletscher haben dadurch keine Schutzschicht, die, obwohl sie gewöhnlich relativ dünn ist, das Sonnenlicht reflektieren und die Schmelze mindern kann. Selbst wenn wir jetzt den Ausstoß von Treibhaugasen abrupt stoppen, würden die Gletscher in Österreich bis zum Jahr 2100 zum Großteil abgeschmolzen sein. Sie brauchen viele Jahre, bis sie sich an eine bestimmte Temperatur oder Klimabedingung angepasst haben. Marion Greilinger, Leiterin der Kryosphäre bei GeoSphere Austria, schätzt, dass mit der kommenden Jahrhundertwende 80 Prozent der alpinen Gletscher der Vergangenheit angehören werden: "Den Prozess kann man nicht mehr aufhalten."
Katastrophe oder Chance

Was für die Natur eine absolute Katastrophe ist, kann für die Archäologie als große Chance genutzt werden. Das nun nicht mehr ewige Eis birgt das Potenzial vieler Fundstücke. 1991 gab es den bisher wohl bekanntesten Fund: Zwei Wanderer entdeckten in den Ötztaler Alpen den "Mann aus dem Eis". Ötzi, benannt nach seinem Fundort, ist bis heute eine Sensation.

Der im Eis konservierte Mann ist jedoch ein Glücksfall. Die Gletscher sind mehrere hundert Meter tief und erstrecken sich trotz zunehmender Schmelze noch über große Bereiche der Alpen. Es gibt laut Harald Stadler, Professor für Archäologie an der Universität Innsbruck, wenige Möglichkeiten, die Gletscher systematisch nach potenziellen Funden zu untersuchen: "Es werden sicher noch einige Dinge zum Vorschein kommen, die Frage ist nur was." Während er einen weiteren Glücksfall à la Ötzi eher als unwahrscheinlich einschätzt, ruhen jüngere Bestandteile der Geschichte mit nahezu tödlicher Sicherheit unter dem schmelzenden Gletschereis.

Im Eis verschollen

Über tausende von Jahren veränderte sich das Landschaftsbild durch Gletscher stetig. Im Alpenvorland kann man gegenwärtig noch deutlich Moränenwälle erkennen. Das sind Schuttansammlungen, die sich am Gletscherrand gebildet haben und an die weitesten eiszeitlichen Vorstöße der Gletscher erinnern, zuletzt vor etwa 20.000 Jahren. Auch die meisten Seen Österreichs gelten als glaziale Produkte. Egal ob Attersee, Bodensee oder Wolfgangsee – sie wurden durch Gletscher geschaffen und werden durch jede Vergletscherung immer wieder vom Sediment befreit, das Flüsse in den eisfreien Perioden dorthin transportiert haben. Durch die Klimakrise droht nun die nächste Eiszeit auszufallen und selbst große Seen würden komplett verschwinden.

Die Gletscherschmelze offenbart jedoch auch menschliche Aktivitäten. Man geht davon aus, über alpine Erschließung und Alpennutzung neue Erkenntnisse zu gewinnen. Als höchstes Potenzial für diverse Funde schätzt Stadler die beiden Weltkriege, den frühen Alpinismus und das Mittelalter ein. "Wir haben auch für jüngere Zeiten große Forschungslücken, die eben durch solche Funde geschlossen werden könnten." Dazu zählen geschätzte 6.000 Menschen aus dem Ersten Weltkrieg, die unter den Gletschern vermisst werden. Alle zwei bis drei Jahre würden Leichen hauptsächlich österreichisch-ungarischer Soldaten auftauchen, die man untersucht und bestattet. Nicht nur durch Kriegshandlungen, sondern auch durch Lawinenunglücke wurden Personen unter dem ewigen Eis begraben: Von Soldaten einer Radfahrkompanie aus Ungarn bis hin zu US-amerikanischen Piloten, die im Gletscher notlanden mussten, sind die Geschichten vielfältig wie sonderbar.

In der Archäologie geht es grundsätzlich darum, die Geschichte möglichst genau zu erzählen. Dazu zählen auch persönliche Historien. Das ist allerdings nur durch die Konservierung im Eis möglich. Es erhält alles – Körper, Maschinen, Papier. Die Gletscherschmelze ermöglicht es nun, diesen individuellen Geschichten nachgehen zu können, etwa im Falle eines amerikanischen Fliegers, Mitglied der US-Airforce, der auf einem Gletscher im Glocknergebiet notlanden musste. Seine letzten Worte hielt der Mann auf einem Stück Papier, in dem vielleicht zuvor Schokolade eingewickelt war, fest: Er habe sich eine Fußverletzung zugezogen, sehe keine Chance, lebend den Berg zu verlassen und denke in seinen letzten Momenten an seine geliebte Freundin.

Geschichten wie diese machen Wissenschaft nahbar. Persönliche Gegenstände berühren am meisten, da sie helfen, die Menschen dahinter greifbarer zu machen. Anders sei das bei Ötzi, so Stadler: "Bei ihm wurden natürlich auch Gegenstände gefunden, aber hier haben wir eine reduzierte Geschichte dazu und es wird nie möglich sein, seine vollständig zu rekonstruieren." Durch die zunehmende Gletscherschmelze erhoffe man sich aber, zukünftig mehr Kreise schließen zu können, was die letzten Jahrhunderte angeht.

Aus den Augen verloren

Seit dem sagenhaften Fund von Ötzi wird vieles an Experten wie Harald Stadler herangetragen. Dazu gehören Gegenstände, aber auch konservierte Tiere wie Eichhörnchen. Herausforderungen gibt es aber nicht nur für die Klimaforschung, sondern auch für die Archäologie. Ein erhaltener Steinbock wurde gefunden und wieder verloren, als man ihn suchen wollte. Das hat nun eine Strategieänderung zur Folge. Anstatt nur GPS-Daten aufzuzeichnen und Fotos zu machen, sollen Funde von ihren Entdeckern gleich mitgenommen werden. Man weiß nicht, was auf den Gletschern alles passieren kann, und dann sind neue Enthüllungen möglicherweise für immer verloren. Auf Schutzhütten gibt es deshalb Folder mit Angaben, wie man mit Gletscherfunden umzugehen hat. Neben der Verständigung einer zuständigen Behörde soll man die Entdeckungen mitnehmen und bei schlechtem Wetter fotografieren, um sie vor Lawinen und anderen Naturereignissen schützen zu können. Anders als bei Ötzi können Betroffene in Österreich allerdings mit keinem Finderlohn rechnen.

Während man bei organischen Resten, die Gletscher freigeben, eher nicht erwartet, unbekannte Pflanzenarten zu entdecken, könnte es bei Insekten Überraschungen geben. Anders als Pflanzenpollen werden Insekten seltener konserviert. Auch wenn man nicht vorhersehen kann, was unter der dicken Eisschicht alles verborgen ist, kann man ungefähr eingrenzen, wo es Funde geben könnte: in jedem Bereich, der von einem Gletscher bedeckt ist. In Europa gelten neben Österreich daher Norwegen, die Schweiz, Italien und Frankreich als Hotspots für zukünftige Entdeckungen. Da Gebirge hauptsächlich über Pässe überwunden wurden, hat man hier die größten Chancen auf archäologische Funde.

An der schon stark geschrumpften Pasterze mit der Lagune am Großglockner sieht man deutlich die Auswirkungen des Klimawandels.
© amriphoto / Getty

Im Eis hält sich jedes organische Material, in der Erde dagegen nicht. Während Archäologen daher den potenziellen Offenbarungen gespannt entgegenblicken, wirft die Klimaforschung einen weitaus betrübteren Blick auf das Ende des ewigen Eises. "Die größte sichtbare Transformation wird sein, dass es dieses Bild der vergletscherten Berge, das ideologische Bild der Alpen in Österreich so nicht mehr geben wird", erläutert Marion Greilinger. Während man also bald ohne Eispickel den Großglockner erklimmen kann, hat das fatale Folgen für die klimatische Landschaft in Österreich. Auf die Frage, ob es noch eine Zukunft für die Gletscher in Österreich gibt, antworten sowohl Marion Greilinger als auch Bernhard Salcher mit einem entschlossenen Nein. Wenn der Schmelzprozess so schnell weitergeht, haben Archäologen künftig sehr viel zu tun und ein eigenes Institut in Westösterreich ist das Gebot der Stunde, so Stadler.