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Forschung und Spionage

Von Peter Markl

Wissen
Engelbert Broda in späten Jahren.
© Foto: Österr. Zentralbibliothek für Physik

Es gibt immer wieder Autoren, deren erstes Buch bei dem Versuch entstand, über ihr Verhältnis zu ihren Eltern mehr Klarheit zu erlangen. In der Vergangenheit ging es dabei meist um dominante Väter. Das Buch, das mein Freund Paul Broda vor kurzem veröffentlicht hat, ist jedoch sicher einzigartig. Die "Wiener Zeitung" hat nach der Präsentation von "Scientist Spies. A memoir of my three parents and the atomic bomb" am 15. Juni bereits kurz auf das Buch hingewiesen. Paul Broda, emeritierter Professor für angewandte molekulare Biologie an der Universität Manchester, ist der Sohn von Engelbert Broda, der an der Wiener Universität Biophysik unterrichtete und sich als Vorkämpfer der Sonnenenergie und in seinem nie erlahmenden Einsatz für Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie als Wissenschaftshistoriker Weltruf erarbeitet hat.

Eine lange Freundschaft

Wenn ich im Folgenden nochmals auf dieses Buch zurückkomme, dann vor allem deshalb, weil ich mit Engelbert Broda fast ein halbes Jahrhundert eng befreundet war und ihm sehr viel verdanke. Dazu kommt, dass EB (wie ihn seine Freunde nannten), ein großer Freund der "Wiener Zeitung" war. Er war stolz darauf, seit seiner Rückkehr nach Wien 1947 kein einziges Exemplar versäumt zu haben. Manchmal hat er erzählt, dass in den späten Vierzigerjahren seine exilierten New Yorker Freunde beim Bemühen herauszufinden, wie sich die Lage in Österreich entwickelte, zwei österreichische Zeitungen lasen: Die "Wiener Zeitung" und die "Volksstimme". Irgendwo dazwischen vermuteten sie die politische Lage in ihrer alten Heimat.

Obwohl ich in meiner radiochemischen Ausbildung ganz gut einer seiner Schüler hätte sein können, habe ich ihn persönlich erst näher kennengelernt, als ich in Mol in Belgien als Vertreter Österreichs vier Jahre lang in der Forschungsabteilung der Eurochemic arbeitete. Das war eine kleine europäische Pilotanlage zur Wiederaufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe, an der auch Österreich Anteil hatte. (Die Aufgabe der Analytiker bestand dort darin, die Verfahren bereitzustellen, die man braucht, um eine solche Anlage betreiben zu können. Diese Verfahren sind natürlich auch für die Kontrolle des Kernbrennstoffkreislaufs im Rahmen der Rüstungskontrolle signifikant).

Als sich nach vier Jahren der Charakter der Arbeit immer mehr veränderte und ich Wien, die Universität und meine Freunde immer intensiver vermisste, begann ich die Rückkehr an mein Institut vorzubereiten und dabei habe ich kurz vor Weihnachten 1968 im Stiegenhaus des Instituts zufällig EB getroffen, der sich geduldig meine Befindlichkeit anhörte.

Heute nehme ich an, dass es damals war, dass EB Anklänge zu vielen Themen und Problemen erkannte, die ihn beschäftigten. Da war meine damals etwas nostalgische Liebe zu Wien - wie ich sie vor dem Hintergrund meines Großvaters sah, der aus Brünn stammte und als hoher österreichischer Offizier in Galizien stationiert war. Da war der Verlust des Familienvermögens nach dem Ende der Monarchie und auch bei meinem Vater etwas Verklärung der Monarchie. Ich liebte damals Joseph Roths "Radetzkymarsch" - (EB hat, so berichtet Paul Broda, immer einige Exemplare dieses Romans auf Vorrat gehalten, um ausländischen Gästen das alte Österreich besser erklären zu können). Da war mein Interesse an der Philosophie der Naturwissenschaften.

Populärwissenschaft

Ermutigt durch meinen Freund Thomas Pluch, begann ich Ende September 1970, in der "Wiener Zeitung" eine wöchentliche Kolumne zu naturwissenschaftlichen Themen zu schreiben. Auch dafür hatte EB viel Sympathie: Er war ein großer Bewunderer von Lord Haldanes populären Beiträgen im "Daily Worker". Da ich die von EB damals bevorzugten Zeitschriften und Zeitungen nur gelegentlich ansah, ist mir erst bei den Vorarbeiten zur Herausgabe von ausgewählten Schriften Engelbert Brodas klar geworden, welches Ausmaß seine publizistische Tätigkeit hatte. Er war in vieler Hinsicht vom Cambridge der Dreißigerjahre geprägt und hat auch mich für die großen englischen Wissenschafter dieser Tage begeistern können.

Ich bin mir sicher, schon in diesem vorweihnachtlichen Gespräch im Stiegenhaus eine Idee erwähnt zu haben, die ich mir nach meiner Rückkehr verwirklicht wünschte: In der belgischen Isolation gingen meine Tagträume in Richtung auf ein Seminar, etwa auf dem Niveau des "Scientific American", in dem die heißen Themen in den benachbarten Disziplinen interdisziplinär diskutiert werden könnten. Diese Idee war damals anscheinend an der Zeit, denn sie war auch in anderen Köpfen schon aufgetaucht, so dass es mit einer Gruppe Gleichgesinnter wirklich relativ schnell gelang, ein solches Seminar ins Leben zu rufen. EB hat damals - wahrscheinlich inspiriert von J. D. Bernals "Science in History" - dafür plädiert, es "Naturwissenschaften - Auswirkungen und Wechselwirkungen" zu nennen, unter den Studenten hieß es bald "das Broda-Seminar". (Ich habe noch vor drei Jahren einen Brief von einem Studenten erhalten, der jetzt an einer kleineren amerikanischen Universität arbeitet und plante, etwas Ähnliches ins Leben zu rufen.) Ich habe dieses Seminar nach dem Tod von EB - unterstützt vor allem von Peter Schuster und Herbert Pietschmann - noch einige Jahre lang am Leben erhalten können.

EB hat mich nach unserem Gespräch sehr bald eingeladen, in der österreichischen Pugwash Gruppe - gegründet 1960 von Hans Thirring - mitzuarbeiten. In all den Jahren der Arbeit mit EB habe ich kein einziges Mal eine explizite Diskussion über tagespolitische Aktualitäten erlebt. Das politische Spektrum der Pugwash- Mitglieder war so weit gestreut, dass es nicht zu offenen Diskussionen kam. Das ging auch darauf zurück, dass stillschweigend Einigkeit darüber herrschte, bestimmte Themata auszuklammern. EB hat seine Loyalität zur kommunistischen Partei nie in publikumswirksamer Art aufgekündigt, obwohl es dazu nach den Ereignissen in Ungarn und der Tschechoslowakei gute Anlässe gegeben hätte. Auch hat er sein lange Zeit gespanntes Verhältnis zu seinem Bruder nie kommentiert. Zu Tagesereignissen in jenen Jahren, in denen Christian Broda mit Bruno Kreisky die schon lange überfällige Rechtsreform verwirklichen konnte, hat er nur in Privatbriefen an ihm persönlich bekannte Politiker Stellung genommen. (Maria Wirth geht in ihrer Christian Broda-Biographie auf die Hintergründe der Auseinandersetzungen von EB mit seinem jüngeren Bruder Christian ein).

Die kurze Biographie EBs, die Paul Broda 1985 dem Band mit den ausgewählten Schriften beigesteuert hatte, ist heute überholt, auch da er damals das Leben seiner Mutter nur so weit berührte, als es Engelbert Broda betraf, und nicht die Jahre, nachdem Hilde Broda Alan Nunn May geheiratet hatte, der eben wegen guter Führung nach fünf Jahren vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war, wo er eine zehnjährige Haftstrafe wegen Spionage für die Sowjetunion hätte abbüßen müssen. Alan Nunn May starb Anfang 2003. Er war mit Hilde Broda 49 Jahre lang verheiratet und Paul ein geliebter Stiefvater gewesen.

Private Zeitgeschichte

Spätestens seit 2002 muss es Paul Broda klar gewesen sein, dass sein ursprüngliches Vorhaben, das Verhalten seiner Eltern und EBs Verhältnis zu ihm zu klären, eng verschränkt war mit der Zeitgeschichte, vor allem der tödlichen Bedrängnis der Sowjetunion durch die Nazis und dem intellektuellen Klima im damaligen Cambridge, vor allem im Cavendish Laboratorium, wo das "Tube Alloy Project" - so der Name des englischen Atomprogrammes - untergebracht war.

Eine besondere Rolle spielte dabei die Tatsache, dass die USA nicht bereit waren, ihre damalige Einschätzung des deutschen Nuklearprogramms - nämlich, dass es bereits so weit fortgeschritten sei, dass man schmutzige Bomben bauen könnte, welche ganze Landstriche unbewohnbar machen könnten - den russischen Verbündeten mitzuteilen, um sie zu warnen. Die kommunistischen Emigranten bezweifelten aufgrund bereits gemachter eigener Erfahrungen mit den Nazis nicht, dass Hitler solche Waffen auch einsetzen würde und in der damaligen Situation wahrscheinlich gegen die Sowjetunion. Sie hielten es daher für moralisch sehr fragwürdig, die verzweifelt kämpfenden russischen Verbündeten nicht auf diese Möglichkeit hinzuweisen.

Andrew Brown, der Cambridge- Kenner, hat 2009 nach der Öffnung der britischen Archive unter dem Titel "The Viennese Connection: Engelbert Broda, Alan Nunn May and atomic Espionage" eine detaillierte Analyse des Wiener Anteils an der Atomspionage veröffentlicht. Dort heißt es: "Der individuelle Informationsaustausch in Form von Kriegsspionage ereignete sich zu einer Zeit, als auch nicht-kommunistische britische Wissenschafter für einen internationalen Austausch von Atomwissen durch nicht offizielle Kanäle eintraten". Brown weist auch auf die amerikanische Kritik am Britischen Geheimdienst hin: diese Leute seien vor allem am Sammeln von Informationen interessiert gewesen und weniger daran zu intervenieren, auch wenn sie Risiken erkannt hatten. Der englische Geheimdienst hatte schließlich die Brodas bereits im Visier, als sie in Cambridge ankamen. Trotzdem war man nie zu einem abschließenden Urteil über die Rolle von EB gekommen.

Paul Broda hat sich dafür entschieden, Alans Memoiren im Original ins Buch aufzunehmen, wo sie etwa ein Drittel des Buches ausmachen und zum Buch auch etwas von der Spannung einer authentischen Spionagegeschichte beisteuern.

Paul Broda kommt erst im Epilog explizit wieder auf seine nunmehr revidierte Sicht des Verhältnisses zwischen seinen Eltern zurück.

In seinem großen Buch über Bernal schreibt Andrew Brown über Margot Heinemann: "Wie alle von Bernals Frauen - oder "Hauptfrauen", hatte auch Margot nachsichtig und unabhängig zu sein". Man ist versucht, auch das Leben von Hilde Broda bis zu ihrer Heirat mit Alan als einen bewundernswert mutigen Versuch dazu anzusehen, unter nicht unähnlichen Randbedingungen ein Kind aufzuziehen und ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu erreichen. Männer wie Bernal oder eben auch EB hätten mit einer heutigen Partnerin sehr wahrscheinlich nur Beziehungen mit wesentlich kürzerer Halbwertszeit, auch wenn die Phasen der Trennung sich nicht weniger lang hinziehen würden.

Heutige Frauen nehmen es nicht mehr hin, dass sie von ihren Partnern auf unabsehbare Dauer an den Rand geschoben werden. Das war auch für Gitta Deutsch, die letzte Partnerin EB’s ein Problem. Sie hat ihren Schmerz nach EBs plötzlichem Tod in einer Reihe erschütternder Gedichte festgehalten.

Literatur

Paul Broda: Scientist Spies. A Memoir of my three Parents, Troubador Publishing 2011.
Andrew Brown: The Viennese Connection. Engelbert Broda, Alan Nunn May and Atomic Espionage. Intelligence and National Security. Vol. 24 (No.2) 173-193 April 2009.
Andrew Brown: Historic Barriers to Anglo-American Nuclear Cooperation. Ein Kapitel in dem Buch US-UK Nuklear CoopPeration after 50 Years.
Andrew Brown. J. D. Bernal. the Sage of Science. Oxford University Press. 2005.
Engelbert Broda: Wissenschaft Verantwortung Frieden. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Paul Broda, Gitta Deutsch, Peter Markl, Thomas Schönfeld und Helmuth Springer-Lederer. Deuticke, Wien 1985.
Maria Wirth. Christian Broda. Eine politische Biographie. Vienna University Press.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach. Seit 1970 Wissenschaftskolunist der "Wiener Zeitung".