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Macht und Mystik der Düfte

Von Sonja Panthöfer

Wissen

Molly Birnbaum atmet ganz langsam und ganz bewusst durch die Nase. Rund eine Minute dauert es, bis sie begreift, dass es ein Duft ist, der ihr wie "ein Neonblitz" in die Nase geschossen ist. Zwar nur ein schwacher Geruch, aber er ist klar vorhanden: Es ist das sanfte, holzige Aroma eines Rosmarinzweigs, das die Amerikanerin regelrecht in Entzücken versetzt. "Ich fühlte mich regelrecht attackiert. Überwältigt (. . .) Ich konnte riechen! Es roch pikant, voll und warm. Wie ein Freund, den ich jahrelang nicht gesehen hatte, war dieser Duft vertraut und fremd zugleich. Er wimmelte von Möglichkeiten."

Dass der eigentlich eher unspektakuläre Duft von Rosmarin für die junge Amerikanerin eine fast existenzielle Bedeutung bekommt, hat seinen Grund: Es ist der erste Geruch, den sie wenige Monate nach einem schweren Autounfall wieder wahrnehmen kann. Beim Joggen war sie von einem Auto angefahren worden und hatte gerissene Bänder im linken Bein, ein gebrochenes Becken sowie eine Schädelfraktur erlitten.

Als nach Wochen die Schmerzen langsam nachließen, trat eine neue, weit schwerer wiegende Wunde zutage - und zwar genau in dem Moment, als ihre Schwiegermutter ihr einen frisch gebackenen, nach Zimt und Zucker duftenden Apfelkuchen servierte, den Molly über alles liebte. "Ich spürte die Hitze auf Kinn und Nase. Die Luft fühlte sich anders an, warm und feucht. Aber ein Geruch war nicht da."

Gestörter Geruchssinn

Schlagartig wird klar, dass Mollys Geruchssinn bei dem Unfall zerstört worden ist. Als sie einen Bissen probiert, zeigt sich, dass sie bis auf eine fade Süße auch nichts mehr schmeckt. Was fehlt, ist das Aroma von Zimt, Zitrone, Honig oder Butter. "Ich hatte nicht gewusst, welche Rolle das Geruchsempfinden beim Essen spielt, ehe es verschwunden war."

Für Molly Birnbaum zerplatzt mit dem verlorenen Geruchssinn ihr Lebenstraum. Denn die junge Frau aus Boston wollte Köchin werden. Dafür hatte sie es auch in Kauf genommen, in einem Restaurant bis tief in die Nacht Hilfsarbeiten in der Küche zu verrichten, dafür aber nebenbei auch die Feinheiten des Kochens und der Zutaten zu lernen. Die Ausbildung im renommierten New Yorker Culinary Institute, die sie sich so sehnlich gewünscht hatte, muss sie abblasen.

Für Molly Birnbaum ist eine Welt ohne Gerüche eine leere Welt. Vor allem ist es eine Welt, in der der die Vergangenheit verloren ist, weil kein Geruch, kein Geschmack mehr Erinnerungen wachzurufen vermag.

Was Molly Birnbaum widerfuhr, ist kein Einzelfall. Allein in Mitteleuropa leiden rund fünf Prozent der Bevölkerung unter fehlender, verzerrter oder stark eingeschränkter Geruchswahrnehmung, sagt Professor Thomas Hummel von der Universitätsklinik Dresden. Eine der häufigsten Störungen ist eine sogenannte Anosmie, ein kompletter Schmeck- und Riechverlust. Auslöser sind in den meisten Fällen Virusgrippen, Schädelverletzungen oder Entzündungen der Nase und der Nebenhöhlen.

Den Betroffenen sieht man den fehlenden Geruchssinn allerdings nicht an, was es für die Umwelt schwierig macht, den Verlust nachzuvollziehen. Hinzu kommt, dass Gerüche schwer zu beschreiben sind, denn anders als bei unseren sonstigen Sinnen gibt es keine wirklich adäquate Sprache für Gerüche und Geschmacksempfindungen. Die Amerikanerin Diane Ackerman bezeichnet das Riechen deshalb als den "stummen Sinn". In ihrem Werk "A Natural History of the Senses" schreibt sie: "In einer in Worte fassbaren Welt der Fülle, in der Wunder sich bereitwillig einer verbalen Analyse zur Verfügung stellen, liegen uns Gerüche oft auf der Zungenspitze - aber mehr auch nicht -, und das verleiht ihnen eine magische Entrücktheit, etwas Mysteriöses, eine Macht ohne Namen, eine Heiligkeit."

Genau dieses Mystische und Emotionale ist nach Ansicht der norwegischen Geruchsforscherin und Duftkünstlerin Sissel Tolaas die Ursache dafür, warum das Geruchsorgan bei westlichen Intellektuellen kaum größere Beachtung findet. Tolaas beklagt, wie sehr die Macht der Nase unterschätzt werde; schließlich könne das menschliche Auge lediglich einige hundert Farben unterscheiden, die Riechzellen in unserer Nasenschleimhaut hingegen 10.000 Düfte.

Tolaas, die angeblich über die weltweit größte private Duftsammlung verfügt, will unserem verkümmerten Geruchssinn wieder zu mehr Beachtung verhelfen und hat zu diesem Zweck die Kunstsprache "Nasalo" entwickelt. Die promovierte Chemikerin stellt chemische Kopien von Düften her und entwickelt gemeinsam mit Linguisten einen passenden Namen dafür. Entstanden sind bisher über 1500 Wortschöpfungen, wie zum Beispiel "Pikon" für Hundekot oder "Puuhs" für französische Zigaretten.

Gerüche haben überdies enormen Einfluss auf unser Befinden und unsere Stimmungen. Denn die Nase ist das Sinnesorgan mit dem schnellsten Draht zum Gehirn. Und ihrer Macht kann man sich kaum erwehren. Wenn sich die Dimension von Aroma mit anderen Sinneseindrücken verbindet, wie etwa beim Essen, lassen sich damit sogar vorsätzlich emotionale Erlebnisse heraufbeschwören. Diese Methode wendet der US-amerikanische Starkoch Grant Achatz höchst erfolgreich an: In seinem Restaurant "Alinea" in Chicago aromatisiert er seine Gerichte zusätzlich über den Geruch und setzt seinen Gästen eine Art nostalgisches Essen vor, das sie sinnlich, emotional und mental anspricht.

Fasan mit Herbstaroma

Der preisgekrönte Gastronom weiß allerdings auch deshalb in besonderer Weise um die Macht der Sinne, weil er - bittere Ironie - die Fähigkeit zu schmecken verlor. 2007 diagnostizierten die Ärzte bei dem damals 33-jährigen Amerikaner Zungenkrebs. Durch die darauf folgende Chemotherapie verschwand vorübergehend sein Geschmackssinn und baute sich nur langsam wieder auf.

Achatz, der neben dem Spanier Ferran Adrià zu einem der bedeutendsten Vertreter der sogenannten Molekulargastronomie zählt, ließ sich jedoch selbst durch seine Krebserkrankung nicht von der Arbeit abhalten und setzte beim Abschmecken auf seine Mitarbeiter. Geradezu berühmt ist Achatz für die Kreation "Fasan mit Herbstaroma". Dabei werden Heu, Zimt, Apfelstücke, welkes Laub und Kürbiskerne in eine größere Schale gegeben, in die der Kellner heißes Wasser gießt und aus welcher der Gast die so entstandenen Dämpfe einatmet. Bei manchen Restaurantbesuchern rufen diese Düfte, die ihnen bei jedem Bissen in die Nase steigen, so starke Erinnerungen wach, dass sie unwillkürlich in Tränen ausbrechen.

"Diese Erinnerungen", so Molly Birnbaum, "können sich ungebeten einstellen, ohne Worte oder erkennbaren Kontext. Sie können sehr spezifisch sein, so spezifisch, dass sie einen mit ihrer Schönheit überwältigen oder mit ihrer Schmerzlichkeit verletzen."

Zumeist aber ist es so, dass wir von Abertausenden Gerüchen umgeben sind, die wir gar nicht alle wahrnehmen. Wer etwa versucht, den Duft seiner eigenen vier Wände zu erschnuppern, wird in der Regel nichts riechen, weil der Geruch zu vertraut ist. Alle anderen Wohnungen, Büros und Lokale haben dafür sehr wohl eine Duftnote. Für Walter Kohl, Autor des Buches "Wie riecht Leben?" und seit einem schweren Fahrradunfall ohne Geruchssinn, ist das Riechenkönnen gleichbedeutend mit Heimat. Da für ihn aber nun alles fremd riecht, auch seine eigene Wohnung und sein Auto, ist er nirgendwo mehr zu Hause, also heimatlos.

Noch schwerer als der Verlust der Heimat wiegt für den Österreicher jedoch, dass er den Körpergeruch seiner Mitmenschen nicht mehr wahrnehmen kann und somit von der "sozialen Kommunikation" ausgeschlossen ist, wie das der Mediziner Hummel nennt: "Die Menschen wissen nicht mehr, wie ihre Liebsten riechen." Körpergerüche sind eng verbunden mit Gefühlen, Sinnlichkeit und Sexualität. Ob wir einen anderen Menschen sexy finden oder nicht, entscheidet sich schon beim allerersten Treffen, und zwar anhand des Geruchs.

Wenn die Dimension Geruch aber fehlt, so der Wissenschaftler Hummel, schaffe dies viel "Unsicherheit im Hinblick auf den eigenen Körpergeruch. Es gibt Menschen, die dann häufiger duschen, ihre Kleidung oft wechseln oder die Wohnung dauernd lüften." Zwei Drittel der Anosmiker klagen zudem über Depressionen. Die Anosmie kann aber auch deshalb gefährlich werden, weil Gerüche ihren Warncharakter verloren hätten, wie Hummel hinzufügt: "Man nimmt keinen Brandgeruch mehr wahr oder kann nicht mehr sagen, ob die Milch im Kühlschrank bereits verdorben oder noch genießbar ist."

Geruchs-Training

Doch selbst für diejenigen, die gar nichts mehr riechen, gibt es Hoffnung. Das belegt eine Studie, die Hummel an der Universitätsklinik Dresden durchgeführt hat. Er ließ eine Gruppe von Patienten mit Geruchsstörungen über einen Zeitraum von vier Monaten morgens und abends intensive synthetische Düfte wie Rose, Gewürznelke, Eukalyptus und Zitrone einatmen. Nach dem Training hatte sich die Riechleistung dieser Gruppe im Vergleich zu Teilnehmern einer Kontrollgruppe deutlich verbessert.

Anders als Walter Kohl gehört Molly Birnbaum zu den zehn bis zwanzig Prozent von Betroffenen, bei denen der Geruchssinn tatsächlich vollständig zurückgekehrt ist. "Ich empfinde es als sehr großes Glück", bekräftigt die Amerikanerin im Rückblick - und weiß nur zu gut: "Ein angenehmer, ein vertrauter Duft, der Kindheitserinnerungen weckt, kann unsere Stimmung wie kaum etwas anderes aufhellen."

Die Norwegerin Tolaas würde das mit den Worten kommentieren, dass das Leben das beste Parfüm ist. Sie provoziert gerne die Nasen ihrer Mitmenschen auf unkonventionelle Art. Bei Partys legte sie zur glamourösen Abendgarderobe mitunter ihr eigens kreiertes "Fear"-Parfüm auf - "nachgebaut" aus Angstschweiß. Das Resultat war für sie selbst verblüffend: Die Frauen hielten Abstand zu ihr, während die Männer sich haufenweise um sie scharten.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach. Sie lebt in München.

Literatur:

Molly Birnbaum: Der Geruch der Erinnerung. Übersetzt von Almuth Carstens. Verlag Kein & Aber, Zürich/Berlin 2011.

Grant Achatz and Nick Kokonas: Life, on the line. Gotham Books, New York 2011.

Walter Kohl: Wie riecht Leben? Zsolnay, Wien 2009.

Annick Le Guérer: Die Macht der Gerüche. Übersetzt von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 1994.