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Mit Sigmund Freud auf dem Sofa

Von Heiner Boberski

Wissen

Kämpferin gegen Verdrängungsstrategien nach der NS-Zeit und für echte Emanzipation.


Sie war die Grande Dame der Psychoanalyse in Deutschland und eine Vorkämpferin der Frauenbewegung - Margarete Mitscherlich, die am 12. Juni, wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag, in Frankfurt am Main gestorben ist. Bis zuletzt hatte die Autorin zahlreicher Bücher, die bisweilen noch psychoanalytische Sitzungen abhielt, kritisch das Zeitgeschehen verfolgt und kommentiert und mit 90 ihr Leben so beschrieben: "Ich lese viel, ich denke viel, ich schreibe viel, ich arbeite viel." Noch im Herbst 2010 hatte sie das Buch "Die Radikalität des Alters" veröffentlicht.

Dabei war Margarete Mitscherlich stets bemüht, ihren Humor nicht zu verlieren: "Wenn Sie anfangen, eine unfreundliche alte Hexe zu werden, dann wird das Leben schwierig", erklärte sie in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Ihre Fähigkeit zur Selbstironie dokumentiert ihr Satz: "Meine Thesen stimmen immer irgendwo auch, sind aber mit einer großen Lust an der Provokation verbunden."

Ihren Platz in der deutschen Nachkriegsgeschichte eroberte sie 1967, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern - Grundlagen kollektiven Verhaltens" veröffentlichte. Darin fragten die Autoren, ob der Mensch nicht "einen der folgenschwersten Fehlwege der Evolution" darstelle, "durch den das Prinzip des Lebendigen seiner Aufhebung entgegenstrebt".

Wie ihr die 68er sehr schnell auf die Nerven gingen

Das heftige Diskussionen auslösende Werk, das vor allem die kollektiven Verdrängungsmechanismen in Deutschland nach der NS-Zeit ins Visier nahm, wurde zu einem Schlüsseltext für die Studentenbewegung von 1968, mit der Mitscherlich anfangs durchaus sympathisierte, da diese sich der Vergangenheit stellen wollte, und sagte: "Wir können doch nicht weiter so tun, als wäre da nichts gewesen."

In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" bekannte sich Mitscherlich als "immer eher links gesonnen", doch sei ihr bei den Studenten "sehr schnell auf die Nerven gefallen, wie sie darauf pochten, dass alle so denken mussten wie sie - auch ich. Das war wieder eine Ideologie, und es war intolerant." Manche 68er hätten in ihrem Denken eine gewisse Gewalttätigkeit ausgeübt. Sie habe hier und da auch Studentenführer analysiert, einer der begabtesten davon sei später "ein ideenreicher, bekannter Mann geworden", aber auch der habe "diese Periode der Intoleranz" gehabt.

Margarete Nielsen wurde am 17. Juli 1917 im dänischen Gråsten (Gravenstein) als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin geboren. Ihre Reifeprüfung legte sie während der NS-Zeit in Flensburg ab, dann studierte sie in München und Heidelberg Medizin und arbeitete anschließend in der Schweiz. Dort lernte sie den deutschen Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich kennen (1908-1982) kennen, der bereits in zweiter Ehe verheiratet und vierfacher Vater war.

1949 brachte sie den gemeinsamen Sohn Matthias zur Welt, übergab ihn aber aus Rücksicht auf ihre berufliche Laufbahn ihrer Mutter zur Erziehung, was ihr viel Kritik eintrug. Erst 1955 kam es zur Eheschließung mit Alexander Mitscherlich, mit dem sie eine jahrzehntelange Liebesbeziehung und berufliche Zusammenarbeit, später am 1960 von Alexander Mitscherlich mit Hilfe der Philosophen Theodor Adorno und Max Horkheimer gegründeten Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, verband.

"Wir haben uns oft gestritten", erzählte sie bei einer ihrer letzten Lesungen in Frankfurt über ihre Ehe. Dabei sei es aber nicht um wissenschaftliche Rivalität, sondern um private Eifersucht gegangen, wiewohl Mitscherlich 2007 zum Thema Treue in einem Interview für das Schweizer Medium "Das Magazin" sagte: "Von dieser bürgerlichen Ausschließlichkeit von Beziehungen, die ja nur verlogen war, hielten wir eben nicht viel."

"Wir alle brauchen Ideale, Vorbilder, Ziele"

Margarete Mitscherlich lehrte, forschte und publizierte Bücher über ihre Arbeit. 1978 befasste sie sich in "Das Ende der Vorbilder" mit dem Thema Idealisierung und stellte fest: "Wir alle brauchen Ideale, Vorbilder, Ziele, an denen wir uns orientieren, nach deren Verwirklichung wir streben können. Ohne sie sind wir einem Gefühl der Leere ausgesetzt, und das lebendige Interesse an den Dingen der Welt und an unseren Mitmenschen geht verloren."

Als Plüschpuppe auf dem Wohnzimmersofa war Sigmund Freud im Mitscherlich-Haushalt immer präsent. "Freud hat als Erster anerkannt, dass Frauen sexuelle Wesen sind", sagte Margarete Mitscherlich und sieht so einen engen Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Feminismus. Die mit der Galionsfigur der deutschen Feministinnen, Alice Schwarzer, befreundete Forscherin griff immer wieder Frauenthemen auf. Als ihr wichtigstes Werk gilt "Die friedfertige Frau" von 1985, darin vertritt sie die Meinung, dass Frauen nicht von Natur aus weniger aggressiv sind als Männer, sondern ihr vermeintlich ausgleichendes Wesen nur erlernt haben. Im "Magazin"-Interview von 2007 sah sie ihren Buchtitel von 1987, "Die Zukunft ist weiblich", bestätigt: "Die Zeit ist auf alle Fälle weiblicher geworden. Die Frauen haben viel mehr zu sagen. Sie haben immer noch wenig zu sagen, aber es braucht halt ein paar Generationen. Und wenn ich sagte, die Zukunft sei weiblich, meinte ich damit nicht, dass die Zukunft den Frauen gehört, sondern dass die Werte weiblicher werden, auch jene der Männer."

2007 sagte die teuren Kosmetikartikeln keineswegs abgeneigte Psychoanalytikerin in dem Interview-Band "Eine unbeugsame Frau": "Ich habe immer vertreten, dass Frauen sich nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen sich selbst durchsetzen müssen." Rollen sollte man sich von niemandem aufzwingen lassen: "Eine emanzipierte Frau ist in der Lage, sich von vorgefundenen Werten und Vorstellungen über ihre Rolle zu distanzieren."

Schönheitsoperationen empfand Mitscherlich als "neurotisch", den Begriff der arbeitenden Rabenmutter tat sie als "typisch deutschen Blödsinn" ab.

Margarete Mitscherlich erhielt mehrere bedeutsame Auszeichnungen, so nahm sie 2005 als Erste den von der Stadt Wien neu initiierten und finanzierten Erwin Chargaff Preis in Empfang.

"Ohne ein bisschen Angst gehen wir unter"

Politische Stellungnahmen scheute Mitscherlich nie, etwa 2009 in einem Interview mit der "Süddeutschen". Der deutsche Kanzler der Nachkriegszeit Konrad Adenauer sei kein lupenreiner Demokrat gewesen, in seiner Zeit hätten Spießbürgerlichkeit und Sexualfeindlichkeit regiert: "Außereheliche Sexualität war verpönt, Schwule wurden verfolgt, Abtreibung war strafbar." Dagegen war Willy Brandt "ein eigenartiger Typ, mit einer unglaublichen Begabung, im richtigen Moment das Richtige zu tun".

"Es ist wunderbar, dass eine Frau zum ersten Mal Kanzlerin geworden ist", freute sich Mitscherlich nicht nur über das Amt für Angela Merkel, sondern auch über deren Tätigkeit: "Sie macht gute Politik, wenn auch etwas zögerlich." Krisenängste könnten, so Margarete Mitscherlich im gleichen Interview, auch heilsam sein: "Durch Angst kann man ja auch etwas klüger werden. Ein bisschen Angst brauchen wir, um voranzukommen. Ohne sie würden wir dick und fett und gingen unter."