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Forschungsreise im Freiballon

Von Christian Pinter

Wissen

Vor 100 Jahren entdeckte der spätere österreichische Nobelpreisträger Viktor Hess die kosmische Strahlung - und zwar während abenteuerlicher Luftfahrten.


Wien, 1912: Zu den begeisterten Anhängern des Ballonsports zählt Viktor Hess. Am 24. Juni 1883 in Waldstein bei Deutschfeistritz geboren, arbeitet der Steirer am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften. Von der radioaktiven Strahlung geht damals ein starker Reiz aus. Man misst sie noch recht umständlich mit Elektrometern. In elektrisch geladenen Metallzylindern ionisiert die Strahlung Luft, macht sie leitfähig. Das sorgt für eine messbare Abnahme der elektrischen Ladung.

Victor Hess vor dem Start im Ballonkorb.
© Archiv Victor-F.-Hess-Gesellschaft

Die recht voluminösen Elektrometer verraten: Ein wenig ionisierende Strahlung ist stets vorhanden, wohl wegen des Radiums, Thoriums und Urans in der Erdkruste. Diese Bodenstrahlung müsste mit zunehmendem Abstand zur Erdoberfläche abnehmen, etwa auf hohen Türmen. Das ist aber kaum der Fall. Liegt das etwa an der Eigenstrahlung der Turmspitzen, oder treiben radioaktive Substanzen in der Atmosphäre? Hess will das klären. Schon 1911 ist er zweimal mit Ballonen aufgestiegen, ohne oben einen dramatischen Rückgang der Strahlung gemessen zu haben. 1912 ermöglicht ihm eine Subvention der Akademie sieben weitere Starts.

Arbeiter müssten für eine Ballonfahrt zwei, drei Wochenlöhne bezahlen - und sind daher nur Zaungäste am Startplatz. In den Körben sieht man meist Offiziere und Geschäftsleute, Ärzte oder Wissenschafter - auch in Wien, wo der Flugpionier Viktor Silberer 1901 den Aero Club gegründet hat. Silberer hatte außerdem eine Leuchtgasleitung zur Feuerwerkswiese im Prater legen lassen, um die Ballone zu füllen. Der Brennstoff wird in den städtischen Gaswerken beim Erhitzen von Steinkohle gewonnen. Er dient zunächst zur Beleuchtung von Straßen, Fabriken und Wohnungen. Später wird man ihn "Stadtgas" nennen.

In azurblauen Höhen

Am 17. April strömen 1600 Kubikmeter Leuchtgas in den Ballon "Excelsior", blähen ihn am Rasenplatz des Aero Clubs auf. Hess hat zwei besonders robuste, luftdichte Elektrometer anfertigen lassen: Sie sind aus drei Milimeter dickem Messing geformt und werden am Rand des Korbs befestigt.

Um 10.30 Uhr vormittags hebt man ab. Bald sehen die Menschen im Prater nur noch aus wie Ameisen. Dann verschwinden Pferdewagen und Automobile aus der Sicht. Die Vögel unter sich lassend, sind Hess und der Ballonführer nun konkurrenzlos die Herren der Lüfte.

Als sie die Wolkendecke durchstoßen, tut sich ein azurblauer Himmel über ihnen auf. Der "Excelsior" steigt bis auf 2750 Meter. Als er über das Tullnerfeld ins Waldviertel treibt, verwandelt sich die Sonnenscheibe langsam in eine schmale Sichel: Während der Sonnenfinsternis kühlt das Leuchtgas ab. Um die Höhe zu halten, werfen die Männer Ballast ab. Nach dreistündigem Flug ist aller Sand aufgebraucht. Man landet nahe dem wolkenverhangenen Weitra.

Hess zieht Resümee: Nach anfänglicher, sehr leichter Abnahme ist die radioaktive Strahlung in größerer Höhe wieder angestiegen - sogar auf noch stärkere Werte als am Boden! Von der Sonne konnte die Strahlung scheinbar nicht herrühren, war diese doch weitgehend vom Mond bedeckt. Um die kurzfristigen Schwankungen der angezeigten Werte zu überprüfen, will Hess nun möglichst weite Strecken in fester Höhe zurücklegen. Tagsüber ist das wegen der wärmenden Sonnenstrahlen schwierig. Er muss durch die dunkle Nacht treiben.

Wetterleuchten

Am späten Abend des 26. April startet Hess abermals, diesmal mit Ballonführer Wilhelm Hoffory: Der Hauptmann hat bereits mehr als 100 Fahrten absolviert und vor drei Jahren einen Weitenrekord von fast 1000 km aufgestellt. Außerdem kommt ein drittes Messgerät an Bord. Anfangs werden die Männer noch vom Mond begleitet. Weil der Ballon den Luftströmungen folgt, spüren sie keinen Wind, auch Fahrtbewegungen sind kaum zu bemerken.

Es ist absolut still. So geht es stundenlang in fast konstanten 300 m Höhe dahin, über das schlafende Floridsdorf, über Stockerau und den Bezirk Hollabrunn. Gegen Ende der Reise steigt der Freiballon höher. Schon ab 800 m bemerkt Hess neuerlich eine Zunahme der Ionisation. Wie er notiert, sei "die Existenz einer von oben kommenden Strahlung nicht auszuschließen". Man landet nach eineinhalb Stunden Fahrt im südmährischen Pouzdrany (deutsch: Pausram).

Am 20. Mai erhalten die Männer Verstärkung durch einen Assistenten der Meteorologischen Zentralanstalt in Wien: Herr Wolf soll Veränderungen des Luftdrucks, der Luftfeuchtigkeit und der Temperatur protokollieren. Diesmal geht es mit 60 km/h nach Kuttenberg (Kutná Hora) und über das ehemalige Schlachtfeld von Königgrätz. Hier, im böhmischen Ort Sadowa, landet der "Excelsior" nahe dem Bahnhof. Die schwere Ballonhülle wird in den eckigen Korb gestopft, das ganze Paket zurück nach Wien geschickt: Neben den Landkarten führt man deshalb immer auch Eisenbahnfahrpläne mit.

Bei der Fahrt am 3. Juni verheißt Wetterleuchten nichts Gutes. Mitten in der Nacht entscheidet man sich zu einer Landung bei Brünn, um dem aufziehenden Gewitter zu entgehen. Am 19. Juni versucht es Hess ganz allein, kommt aber nur bis Fischamend. Am 28. nimmt er wieder den meteorologischen Beobachter Wolf mit: Acht Stunden lang sammelt er nun mit dem Ballon "Austria" Messergebnis um Messergebnis.

Dann will Hess ganz hoch hinauf! Mit dem Wiener Leuchtgas ist das nicht zu schaffen. Wasserstoff muss her, besitzt dieser doch eine wesentlich bessere Tragkraft.

Am 7. August 1912 hauchen 1680 Kubikmeter dieses Gases dem "Böhmen" Leben ein - vor den Toren einer Chemiefabrik im tschechischen Industriestädtchen Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem). Der Ballon gehört dem Deutschen Luftfahrt-Verein Böhmen.

Höhenkrankheit

Schon 1908 ist Richard Katz vom "Prager Tagblatt" mit einem Ballon dieses Namens gestartet; und zwar ebenfalls in Aussig. Mit dem Journalisten drängten sich zwei weitere Männer im Korb: "Hinterlistigerweise wird er immer kleiner, je länger man in ihm steht", hielt Katz fest. Sein Kapitän wähnte sich lange auf Kurs Richtung München. Man landete schließlich jedoch in Fuhlsbüttel bei Hamburg. Wärter der Irrenanstalt wälzten sich über die gelbe Ballonhülle, um den letzten Rest Wasserstoff heraus zu pressen. Wenig später wird hier der Hamburger Flughafen gegründet.

Hoffory, Wolf und Hess starten um 6.12 Uhr morgens. Mit dem Ballon "Böhmen" geht es von Aussig die Elbe entlang, über die sächsische Schweiz und über die Oberlausitz nach Cottbus. Beim Aufstieg fällt die Temperatur auf minus zehn Grad Celsius. Schlimmer ist jedoch der rasch sinkende Luftdruck. Er löst bei Hess Höhenkrankheit aus. Der 29-Jährige inhaliert Sauerstoff. In 5350 m Höhe entschließt er sich zur Umkehr. Mit zwei Metern pro Sekunde sinkt der Ballon auf den Scharmützelsee zu. Dort, 50 km südöstlich von Berlin, setzt der Korb glatt auf einer sandigen Wiese auf.

Diesmal sind die Werte sehr deutlich gestiegen. Hess betont, "dass in Höhen jenseits 3000 Meter eine von allen drei Apparaten auch quantitativ ziemlich übereinstimmend angezeigte Zunahme der durchdringenden Strahlung erfolgt". Diese müsse demnach "von oben in unsere Atmosphäre eindringen". Offenbar ist sie kosmischen Ursprungs. Hess legt seine Resultate 1912 in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie dar. Fast gleichzeitig zieht der Ballon "Böhmen" bei einer sportlichen Verfolgungsjagd über Wien.

Im Jahr danach startet Hess noch einmal. Dann setzt der Weltkrieg dem himmelsstürmenden Treiben ein jähes Ende. Alle Ballone müssen zum Militär. Die Spur des "Böhmen" verliert sich. Kommandeur Wilhelm Hoffory wird 1916 über der Ukraine tödlich verwundet, Hess folgt Rufen an die Universitäten von Graz und Innsbruck. 1936 sichert ihm die Entdeckung der kosmischen Strahlung den Nobelpreis für Physik. Die Nazis verfolgen ihn dennoch, aus politischen Gründen. Er stirbt am 17. Dezember 1964 in den USA.

Dem renommierten österreichischen Physiker und Schriftsteller Peter M. Schuster wird es später gelingen, den gesamten privaten Nachlass als Dauerleihgabe für die Victor-Franz-Hess-Gesellschaft zu erhalten. Die Exponate sind zusammen mit den 1912 verwendeten Messinstrumenten und 600 weiteren historischen Geräten in der Ausstellung "Strahlung - der ausgesetzte Mensch" zu sehen: und zwar bis 25. November 2012 im ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift in Schloss Pöllau bei Hartberg (geöffnet Donnerstag bis Sonntag zwischen 10 und 17 Uhr).

Schwarze Löcher

Im Kosmos lauern gigantische Teilchenbeschleuniger: Extrem starke Magnetfelder packen Atome und jagen sie fast auf Lichtgeschwindigkeit hoch. Kräftige Felder existieren teils auch auf unserer Sonne. Man findet sie aber vorrangig in den Außenzonen ausgedehnter Superblasen, die von noch viel heißeren Sonnen gebildet werden; und in Supernova-Überresten, wie sie bei der Explosion massereicher Sterne zurückbleiben. Die energiereichsten Teilchen stammen wohl von rasch rotierenden Neutronensternen und sogar aus dem Herzen fremder, aktiver Galaxien: Dort beschleunigen zentrale Schwarze Löcher gewaltige Mengen von Gas.

Im atomaren Cocktail dieser kosmischen Primärstrahlung dominieren Wasserstoff- und Heliumkerne. Jeder Quadratmeter der äußeren irdischen Lufthülle wird tausendmal pro Sekunde davon getroffen. In Höhen um 20 km stößt die Primärstrahlung auf atmosphärischen Sauerstoff und Stickstoff. In einem kaskadenartigen Prozess entsteht dabei ein Schauer neuer Teilchen: Diese kosmische Sekundärstrahlung schafft es bis zur Erdoberfläche, zum Glück nur sehr abgeschwächt. Daher dominiert unten klar die Bodenstrahlung. Doch weiter oben führt der Kosmos Regie.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at