"Wiener Zeitung": Herr Aszmann, seit einigen Jahren zählen Sie zu den bekanntesten Chirurgen Österreichs. Wie ist es dazu gekommen?

Oskar C. Aszmann. - © Foto: Stummerer
Oskar C. Aszmann. - © Foto: Stummerer

Oskar C. Aszmann: Ursprünglich wollte ich gar nicht Arzt werden. Mein Ziel war immer die Welt der Wissenschaft, und meine Leidenschaft galt der Biologie. Das habe ich zuerst auch studiert. Dann inskribierte ich noch Philosophie und war damit unzufrieden. Ich fühlte mich in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm eingesperrt. Mir fehlte die Auseinandersetzung mit der Realität. Dann bekam ich ein Buch eines englischen Chirurgen in die Hände, welcher 20 Jahre in Südindien Handchirurgie an Leprakranken betrieben hatte: Das Buch heißt "Pain - the gift that nobody wants". Ein faszinierendes Werk - und ich dachte: Solche Bücher verfasst man nicht, wenn man vom Schreibtisch aus versucht, die Welt zu erkunden. Mir wurde klar, dass die Medizin Wissenschaft und praktische Ansätze vereinen kann.

Also wurden Sie doch Arzt?

Ja, aber der Spitalsbetrieb bereitete mir zunächst Unbehagen. Die Hektik des klinischen Alltags und die Flüchtigkeit der Ereignisse, gepaart mit der doch beträchtlichen Verantwortung machten mir Angst. Also zog ich zunächst das Anatomische Institut vor. Nicht am Schreib-, sondern am Seziertisch konnte ich in aller Ruhe forschen und mein Interesse an der Biologie ausleben. Bis heute fasziniert mich die Anatomie - makroskopisch wie mikroskopisch. Nebenbei setzte ich mich unter anderem mit dem Leben großer Anatomen wie etwa Emil Zuckerkandl auseinander. Und ausgerechnet wegen ihm, dem ehemaligen Leiter des damals weltberühmten Anatomischen Instituts in Wien, wurde ich dann doch Chirurg.

Jetzt sind wir aber gespannt . . .

Im Rahmen des Medizinstudiums wurde ich der Plastischen Chirurgie pflichtzugeteilt. Mein erster Gedanke war: Oh nein, ich muss Busen und Hintern verschönern! Ich glänzte hauptsächlich durch Abwesenheit, bis sich während einer Operation mit Professor Hanno Millesi ein Gespräch über das Leben von Emil Zuckerkandl ergab. Wegen meines Interesses lud er mich zu einer Operation ein, die mein Leben veränderte. Ich war 22 Jahre alt, als ich dabei zusah, wie Millesi unter dem Mikroskop durchtrennte Nerven des Armnervengeflechts wieder zusammennähte. Da war es um mich geschehen. Ich dissertierte bei Millesi und wurde rekonstruktiver Chirurg.

Nerven kann man vernähen?

Ja - man sucht sich unter dem Mikroskop die einzelnen Nervenfasergruppen heraus und vernäht sie mit einer ganz dünnen Nadel. Die verwendeten Fäden sind dünner als Haare. Die sieht man mit freiem Auge fast gar nicht.

Wie wissen Sie, welche Nervenfaser wohin zu vernähen ist?

So einfach wie beim Elektriker ist das leider nicht. Die Nervenfasern sind nicht blau oder grün. Das Kabel - also die Nervenfaser etwa von der Daumenspitze bis zum Hirn - hat einen durchschnittlichen Durchmesser von etwa 20 Mikrometer. Das ist winzig und unsichtbar und die Fasern verflechten sich auf dem Weg auf nicht nachvollziehbare Art und Weise. Ich muss mich bei jeder Operation auf mein anatomisches Wissen und meine Erfahrung verlassen. Doch selbst bei genauer Kenntnis der Topographie kann man bei größeren Nervenverflechtungen nicht mehr ganz genau sagen, welcher Nerv wo hingeht. Da kommt es zu fehlerhafter Regeneration. Aber auch das ist nicht so schlimm.

Wieso nicht?

Meine Hauptaufgabe ist es nicht, Nerven zu vernähen. Das ist eigentlich nur ein technisches Detail. Der Nerv ist letztlich nur das sichtbare Ende eines kognitiven Prozesses. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit bewegt sich auf kognitiver Ebene - die hat Bedeutung im Operationssaal aber auch in der spezifischen Rehabilitation. Ein Beispiel: Ein Mensch durchtrennt sich den Nervus medianus am Handgelenk. In der Folge sind Daumen, Zeige- und Mittelfinger gefühllos. Danach nähe ich den Nerv wieder so topographisch wie möglich zusammen. Wie erwähnt, kann ich nicht jede einzelne Faser genau nach Funktion zuordnen. Also werden zum Beispiel Nerven für den Daumen plötzlich im Zeigefinger enden. Fasern für den Mittelfinger werden im Daumen enden und so weiter. Wenn danach der Patient seinen Daumen berührt, denkt er: Komisch, das fühlt sich an wie mein Mittelfinger! Aber wir können ganz leicht umlernen, denn unser Auge gewinnt immer gegenüber der Sensibilität. Der optische Input des Auges ist realitätsnäher als das Spüren. Und so macht der Patient eine Sensory Reeducation: Er berührt hundert Mal am Tag seinen Daumen und sagt sich: Was immer du spürst, ist nicht dein Mittelfinger, sondern dein Daumen.

Und damit lernt er um?

Ja, dann lernt er um. Und damit kommen wir zu einem essenziellen Thema meiner Forschungen. Wie schafft es ein Patient, der zum Beispiel seit langem keine Hand mehr hat, plötzlich wieder eine zu steuern? Meinem allerersten Patienten fehlte ein Arm ganz und einer zum Teil. Vier Jahre nach seinem furchtbaren Unfall saß ich mit ihm in der Ambulanz und sagte: "Christian, versuch, eine Faust zu machen!" Er meinte, es sei schwierig, weil er ja keine Hand mehr habe. Was ich aber wusste, war, dass diese Hirnbereiche noch da sind, wenn auch "versandet". Unser Gehirn geht von Geburt an davon aus, dass wir zwei Arme und zwei Beine haben werden. Die Hirnareale für jeden einzelnen Körperteil sind da und wir können sie mittels visual feedback wieder zum Leben erwecken.