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Der treibende und getriebene Motor

Von Heiner Boberski

Wissen

Forschung bringt Fortschritt - und oft auch neue Probleme für die Forschung.


Semmering. Die auf Fortschritte der Naturwissenschaften zurückgehende industrielle Revolution ab etwa 1800 hat die Wirtschaft gewaltig angekurbelt. Zugleich wurde aber die Umwelt aus dem Lot gebracht, die Menschheit muss nun mit Luftverschmutzung und Klimawandel fertig werden. Auf die Einführung der "Antibabypille", die viele als Mittel gegen unerwünschte Schwangerschaft begrüßt haben, folgte, vor allem in den Industrieländern, ein deutlicher Geburtenrückgang. Nun sind Rezepte gefragt, um in einer Gesellschaft, deren Durchschnittsalter immer weiter steigt, das Pensionssystem zu sichern.

Das sind nur zwei Beispiele, die das Thema "Wissenschaft - Antrieb oder Ergebnis globaler Dynamik?" illustrieren, dem sich von 24. bis 26. Oktober der Österreichische Wissenschaftstag widmete. Traditionell findet diese Veranstaltung, die sich, wie ein deutscher Referent anerkennend sagte, den "Luxus" leistet, drei Tage lang Wissenschafter der unterschiedlichsten Disziplinen ins Gespräch zu bringen, um den Nationalfeiertag auf dem Semmering statt. Veranstalter ist die Österreichische Forschungsgemeinschaft, deren Präsidentschaft die bisherige ÖVP-Wissenschaftssprecherin Katharina Cortolezis-Schlager im Juli vom früheren Zweiten Nationalratspräsidenten Heinrich Neisser übernommen hat.

Eine Reihe hochkarätiger Vorträge lieferte Mosaiksteine zur Beantwortung der Frage, wie weit Erkenntnisse der Forschung als Motor die Gesellschaft steuern oder umgekehrt die Wissenschaft gesellschaftlichen Trends Rechnung trägt. Dabei reichte der Bogen vom Universalienstreit im Mittelalter über allgemeine Begriffe und Individualität, den der in Paris lehrende Schweizer Philosoph Ruedi Imbach erläuterte, bis zu aktuellen Krisen in Politik und Wirtschaft.

Der Berliner Erziehungswissenschafter Jürgen Henze nannte imposante Zahlen zum Drängen Chinas auf den globalen Bildungs- und Wissenschaftsmarkt - starker Anstieg der Akademiker und des Austauschs mit dem Ausland, hohe Investitionen der Bürger in die Bildung ihrer Kinder -, stellte aber zugleich fest, dass nur an wenigen Universitäten die Absolventen internationales Niveau erreichen und die Akademikerarbeitslosigkeit hoch ist.

Eine "Obsession mit Zukunft", etwa in Form des EU-Programms "Horizon 2020", sieht die Wiener Technikforscherin Ulrike Felt. Die Forschung werde in einem kontinuierlichen Countdown zu Resultaten getrieben, es gehe um eine "Wissenschaft durch und für die Gesellschaft".

Die Wiener Bildungspsychologin Christiane Spiel nannte Beispiele für die praktische Umsetzung wissenschaftlicher Studien: im Auswahlverfahren für das Medizinstudium und in der Gewaltprävention. Würden Wissenschafter von der Politik zur Lösung von Problemen herangezogen, werde freilich, so Spiel, damit manchmal nur auf Verzögern oder Kosmetik hingearbeitet. Gegenüber der "Sachrationalität" der Wissenschaft setze sich oft die "Machtrationalität" der Politik durch.

"Unabhängigkeit für Rhodos"

Für den Göttinger Medizinforscher Heyo Krömer belastet vor allem der Geburtenrückgang, weniger die langsam steigende Lebenserwartung, die Altersversorgung. Eine individualisierte Medizin und mehr Prävention könnten die Menschen eventuell länger fit halten und Probleme "abfedern".

Ein ganzer Nachmittag gehörte dem Thema Ökonomie. Albrecht Ritschl von der London School of Economics skizzierte die evidenten historischen Parallelen von technologischen Fortschritten und Wirtschaftswachstum, vier Experten diskutierten kontroversiell die Ursachen und Auswirkungen der jüngsten Krisen, die Therapievorschläge für die Zukunft (zum Beispiel "Unabhängigkeit für Rhodos von Griechenland") wirkten aber großteils nicht realistisch.

Als Fazit bleibt ein Wechselspiel: Gelingt der Wissenschaft eine große Innovation, kann sie Motor der Gesellschaft sein, oft aber wirkt sie getrieben: etwa in der Suche nach sauberen und kostengünstigen Energieträgern, über die der Wiener Energieforscher Nebojsa Nakicenovic referierte. Und sie wirkt auch machtlos, etwa in Konflikten wie in Syrien: Die Völkerrechtlerin Anne Peters aus Basel forderte eine klare Rechenschaftspflicht der Staaten und internationalen Organisationen gegenüber den betroffenen Menschen.