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Die Geheimnisse des Berges

Von Christina Mondolfo

Wissen

Zuerst wird gegraben, dann sortiert, analysiert und dokumentiert: Wissenschaft ist besonders in der Archäologie keine Elfenbeinturm-Disziplin. Und schmutzige Hände sind ganz normal …


Blick vom Salzberg auf den Hallstättersee.
© C. Mondolfo

Ein sonniger Spätsommertag taucht Hallstatt samt See und umliegende Berge in ein weiches Licht, die angenehme Wärme verdammt die Jacke zu einem zusammengeknüllten Dasein im Rucksack. Sie wird allerdings bald wieder zum Einsatz kommen, denn während es draußen über 20 Grad hat, beträgt die Temperatur im Inneren des Salzbergwerkes höchstens acht Grad. Doch das ist noch nicht relevant… Hans Reschreiter ist jedenfalls begeistert vom Wetter: "So schön war’s den ganzen Sommer nicht", meint er, um sich gleich darauf wieder dem eigentlichen Thema zuzuwenden – nämlich mich in die archäologischen Geheimnisse des Hallstätter Hochtales mit seinem Gräberfeld und dem ältesten Salzbergwerk der Welt einzuweihen. Seit mehr als 25 Jahren erforscht der Archäologe im Auftrag des Naturhistorischen Museums (NHM) den Salzberg oberhalb der idyllischen Stadt im oberösterreichischen Salzkammergut, "aber fertig sind wir noch lange nicht." Immerhin gehen die Anfänge dieser Fundstätte 7000 Jahre zurück, und die riesigen Salzvorkommen Hallstatts werden nachweislich seit dem 16. Jahrhundert v. Chr. abgebaut. Gefunden wurden sie wohl eher zufällig: "An manchen Stellen tritt salzhaltiges Wasser an die Oberfläche, das hat Wild angelockt. Und auf der Jagd nach diesen Tieren haben wahrscheinlich auch die Menschen diese Kostbarkeit entdeckt und begonnen, das Salz im Berg abzubauen." Doch bevor mich Hans Reschreiter in die Stollen führen kann, müssen wir erst einmal auf den Berg hinauf. Das geht ganz bequem mit der Standseilbahn – in nur drei Minuten bringt sie einen auf knapp 840 Meter. "Früher musste man auf einem schmalen Saumpfad zu Fuß hinauf, später ging es auch mit Ochsenwagen. Dazu brauchte man aber speziell trainierte Tiere, denn in den engen Kurven mussten die quasi ‚zurückschieben‘, damit sie um die Kehren kommen." Oben angekommen fällt der Blick zuerst auf den Rudolfsturm, der Ende des 13. Jahrhunderts als Wehrturm zum Schutz der Schachtrichten und Schöpfgebäude des Hallstätter Salzberges erbaut worden war und heute ein Restaurant beherbergt. Doch der ist nicht das Ziel unserer Expedition…

Namensgebend

Zuerst geht es zum Gräberfeld, das mit seinen Funden einer ganzen Epoche ihren Namen gegeben hat, der Hallstattzeit (800 bis 400 v. Chr.). Auf dem Weg dorthin erzählt der Archäologe über diese Entdeckung durch Johann Georg Ramsauer. Der Bergmeister wollte im November 1846 eine Schottergrube ausheben – und fand ein Leichenfeld. Gemeinsam mit dem Bergmann Isidor Engel skizzierte und dokumentierte er die Funde, doch die öffentliche Anerkennung seiner 17-jährigen Grabungstätigkeit, in deren Verlauf er fast tausend Gräber geöffnet und rund 19.500 Objekte geborgen hatte, blieb ihm verwehrt: Seine Grabungsprotokolle wurden nicht gedruckt, da er als wissenschaftlicher Laie galt.

Hans Reschreiter beantwortet geduldig alle Fragen der neugierigen Autorin.
© C. Mondolfo

Heute präsentiert sich das Gräberfeld als sattgrüne Wiese, an deren Rand ein Weg die Besucher zum Schaubergwerk führt. Doch auch wenn man gerade nichts von Ausgrabungstätigkeiten sehen kann, Reschreiters Kollegen sind nicht untätig: Seit 1992 die Grabungen wieder aufgenommen wurden, ist die Zahl der Funde weiter gewachsen. Der Archäologe zeigt mir ein Loch in der Wiese, das sorgfältig mit einer Plane abgedeckt ist. "Hier legt Anton Kern, Leiter der Prähistorischen Abteilung des NHM, mit seinem Team gerade ein neues Grab frei, doch heuer war es wegen des nassen Wetters eher schwierig", meint er und bewegt die Plane keinen Zentimeter zur Seite, damit ich sehen kann, was sich darunter verbirgt. Was man jedoch in einem anderen Grab gefunden hat, zeigt ein Schaugrab am Beginn des Weges: das Skelett einer Frau, reich geschmückt und mit wertvollen Beigaben ausgestattet. "Auch wenn sie offenbar aus der Oberschicht stammte, so musste sie doch hart gearbeitet haben, wie die Muskelmarken zeigen. Das sind die Stellen am Knochen, wo Muskeln und Sehnen ansetzen. Werden diese übermäßig beansprucht, bilden sich Rillen und Löcher an der Knochenoberfläche. Und wir haben solche auch schon an den Skeletten achtjähriger Kinder gefunden – niemand war also von der schweren Arbeit im Bergwerk ausgenommen", erklärt Reschreiter. "Dass wir das wissen, verdanken wir der Anthropologie, so wie wir überhaupt ohne wissenschaftliche Interdisziplinarität nur lückenhafte Erkenntnisse hätten. Archäobotanik und -zoologie, Geologie, Mineralogie, Chemie, Metallographie und viele Disziplinen mehr sind beteiligt. Unsere Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Instituten klappt hervorragend, weil jeder etwas davon hat", schwärmt Reschreiter.


Fantasie ist gefragt

In der Zwischenzeit sind wir am anderen Ende des Gräberfeldes angekommen. In der alten Bergschmiede, die heute auch als Schauraum des NHM dient, ist Daniel Brandner gerade damit beschäftigt, einen ziemlich großen Kochlöffel nach einem im Stollen gefundenen Muster nachzuschnitzen. "Wir machen das oft, einmal mit modernen Werkzeugen, einmal mit Nachbauten der damals verwendeten Hilfsmittel", erklärt der Spezialist für alpine und experimentelle Archäologie. Doch nicht immer ist so klar wie in diesem Fall, wofür ein gefundener Gegenstand verwendet wurde – ich darf einen Beweis meiner Kreativität und Fantasie antreten. Reschreiter drückt mir ein rundes Stück Rinderhaut mit einem Loch am Rand und einem dünnen Band in die Hand: "Was denken Sie, wofür das ist?", fragt er und verschwindet kurz im Nebenraum. Ich habe also Zeit zum Nachdenken und Ausprobieren, während Brandner weiter an seinem Kochlöffel schnitzt. Zuerst halte ich das Ding für einen Knieschützer, aber dafür ist es zu klein. Und wozu das Loch? Die Idee wird verworfen. Aber es hat die Größe eines Handtellers – ah, und durch das Loch passt der Daumen! "Das hat man wohl als Schutz für die Handfläche verwendet und mit dem Band am Handgelenk befestigt, damit man sich beim Arbeiten mit einem Pickel oder Seil keine Blasen holt!", verkünde ich stolz das Ergebnis meiner Überlegungen. "Richtig", ist der trockene Kommentar des Profis. So macht Archäologie doch gleich richtig Spaß...

Die schmalen Gänge im Bergwerk sind nichts für Klaustrophobiker.
© C. Mondolfo

Schwierige Arbeitsbedingungen

Nach ein paar Schritten sind wir beim Eingang ins Bergwerk. Ausgestattet mit einer grünen Hose und Jacke, die natürlich zum Schutz der Kleidung dienen, in denen ich mir aber vorkomme wie ein Gartenzwerg, und einem Helm mit Stirnlampe, der allerdings eine Weile braucht, bis er auf meinem Kopf die richtige Position im Sinne von festem Halt gefunden hat, machen wir uns auf den Weg ins Innere des Berges. Anfangs folgen wir dem gut ausgebauten Teil des Schaubergwerkes, in dem uns immer wieder große Gruppen von Besuchern begegnen, doch bald biegt Hans Reschreiter in einen schmalen Gang ab. Ich bin froh, meine Jacke wieder aus dem Rucksack gekramt zu haben, denn es ist kühl, allerdings lässt es sich sehr angenehm und leicht atmen. "Ist wie in einem Heilstollen, der hohe Salzgehalt bei gleichzeitiger trockener Luft ist gut für Atemwege und Lungen", betont er. Reschreiter öffnet eine Wettertür – "nein, das hat nichts mit dem Wetter an sich zu tun, sondern das ist ein Ausdruck für Wind und wenn man die Türe nicht zumacht, dann zieht's" – und führt mich in einen ziemlich engen, niederen Stollen. Mit dem Helm stoße ich immer wieder an der Decke an – schließlich bin ich die paar Zentimeter mehr an plötzlich gewonnener Höhe nicht gewöhnt. Der Boden ist feucht und rutschig, das stört den Archäologen aber alles nicht. Rasch und trittsicher folgt er dem Gang, bis er plötzlich stehenbleibt und schräg nach oben zeigt. Im Gestein, das mit lehmigen Schichten und Salzadern durchsetzt ist, sind Holzspäne zu erkennen: "Davon haben wir Tausende gefunden, in ganz unterschiedlichen Längen. Sie wurden zur Beleuchtung verwendet." Werden die alle, wirklich alle, aufgehoben? "Ja, alle. Sie werden gewaschen, getrocknet und sortiert, aber das sehen Sie dann draußen. Allerdings geben uns diese Leuchtspäne noch ein kleines Rätsel auf: Sie sind aus Tannenholz, das kein Harz enthält. In der Gegend gab es aber auch genug Fichten, deren Holz harzig ist und daher besser brennt. Wieso die Bergleute nicht die genommen haben, haben wir noch nicht herausgefunden."
Der Gang wird immer enger, der Boden unebener und die Kletterei über rutschige Holzbretter und schmale Leitern immer abenteuerlicher. Dafür darf ich mich in einem Bereich bewegen, der "normalen" Besucher verschlossen bleibt. Für Hans Reschreiter und seine Kollegen ist das jedoch ihr Arbeitsplatz, an dem sie etwa zwei bis drei Monate im Jahr fast täglich rund acht Stunden verbringen. Plötzlich dringt das Geräusch von schweren Maschinen an mein Ohr. "Tja, die Archäologie arbeitet heute nicht mehr mit Schaufel und Pinsel, sondern mit dem Presslufthammer", schmunzelt Reschreiter, und sein Kollege Christopher Vadeanu tritt sofort den Beweis an, wie nützlich moderne Technologie sein kann. Eingequetscht in einem steilen Schmalstück eines noch großteils verschütteten Stollens schrämt er vorsichtig Schicht für Schicht aus der Wand, immer auf der Hut, keine möglichen Fundstücke zu beschädigen oder zu zerstören. Für Klaustrophobiker jedenfalls absolut ungeeignet... Der "Saft" für die Maschinen und Laptops, auf denen in einer kleinen Felsenkammer die Berichte über die Funde getippt werden, kommt aus elektrischen Leitungen, Starkstromkabeln und Pressluftschläuchen, von denen etliche Kilometer im Gängegewirr verlegt wurden.

Dass überhaupt so viele Gegenstände gefunden wurden und werden, ist den günstigen Bedingungen im Berg zu verdanken: "Das Salz entzieht Feuchtigkeit und konserviert alles, was von den Bergleuten in den Abbauhallen zurückgelassen wurde. Der Bergdruck hat die Gänge im Laufe der Jahrhunderte wieder verschlossen, beziehungsweise wurden die Abbauhallen durch einen großen Schuttstrom im 11. Jahrhundert v. Chr. verschlossen und damit quasi versiegelt." Eines dieser Fundstücke ist eine rund acht Meter lange und einen Meter breite Holztreppe aus der Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. – damit ist sie die älteste erhaltene Holztreppe Europas. Sie musste allerdings vom Fundort entfernt werden, da die Gefahr einer Beschädigung zu groß war. In einem schmalen Raum säubert Caroline Grutsch die einzelnen Teile, danach werden sie von Seta Stuhec mittels 3D-Laserscan vermessen und bildlich dokumentiert. "Die Treppe wird nach ihrer kompletten Reinigung und Dokumentation in einem eigenen, speziell klimatisierten Raum des Schaubergwerkes der Salzwelten Hallstatt zusammengesetzt und ab 2015 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht", erklärt Grutsch. Stolz und fast liebevoll betrachtet sie die für einen Laien wohl unspektakulären Einzelteile, während sich ihre Kollegin derweil nicht bei ihrer Arbeit stören lässt.
"Diese Holztreppe ist einzigartig, wir haben diese Konstruktion in keinem anderen Bergwerk gefunden. Auch viele andere Gegenstände scheinen die Hallstätter Bergleute speziell für sich entwickelt zu haben, etwa Pickel mit einer ganz eigenen Winkelung oder Tragsäcke mit nur einem Schulterriemen und einem kurzen Stock auf der anderen Seite. Wir haben lange gerätselt, wie das funktioniert, aber das Ergebnis war erstaunlich." Bevor Hans Reschreiter lange weitererklärt, zeigt er mir lieber, wie man den Tragsack benutzt. Er hängt sich den Riemen über die eine Schulter, den Stock zieht er über die andere und hält ihn mit einer Hand fest. "So, und jetzt nehmen Sie mit dieser großen Kelle Material vom Boden und leeren es in den Sack." Gesagt, getan. Ich fülle den Sack halbvoll mit Salzsteinen, dann steht Reschreiter vom Boden auf und kippt mit Hilfe des Stockes den Tragsack einfach seitlich aus, ohne sich zu bücken, den Rücken und die Schultern zu belasten und ohne sich anzustrengen. "Raffiniert, oder?" Ich kann nur staunen, welcher Erfindungsreichtum in den Menschen der Bronzezeit steckte…


Textiles und Exkremente

Langsam wird es Zeit, die Stollen wieder zu verlassen. Draußen, auf der Rückseite des Hauses, in dem der Schauraum untergebracht ist, sind etliche Plastikkisten gestapelt, in denen sich Unmengen der Leuchtspäne befinden. Eine automatische Waschanlage beregnet die Kisten, um den Inhalt von Salz und Schmutz zu befreien. "Das dauert Tage, dann werden sie getrocknet und geordnet." Und dann natürlich aufbewahrt… Drinnen ist Nina Zangerl gerade damit beschäftigt, einen Blumenstrauß der ungewöhnlichen Art zu binden. Das ist in diesem Fall aber kein archäologisches Experiment, denn Zangerl ist Textilrestauratorin und beschäftigt sich üblicherweise mit den Stofffunden aus dem Bergwerk. "Die Stücke sind zwar im Allgemeinen nicht besonders groß, allerdings von erstaunlich hoher handwerklicher Qualität. Durch die Verwendung verschieden dicker Fäden aus Wolle oder Leinen in verschiedenen Bindungen konnten auf sogenannten Gewichtswebstühlen auch komplizierte Muster hergestellt werden. Außerdem wurden die Stoffe gefärbt, Gelb und Blau sind besonders schön." Zum Beweis zeigt sie mir ein sorgfältig in einer kleinen Schale ausgebreitetes Stück Gewebe, das tatsächlich einen interessanten Blauton aufweist. "Außerdem beherrschten die Hallstätter bereits in der Bronzezeit die Technik des Spinnrichtungsmusters. Bei dieser Gestaltungsart werden unterschiedlich gedrehte, also gesponnene Fäden verarbeitet, was ein Streifen- oder Karomuster ergibt." Bevor ich mich weiter den Stoffstücken widmen kann, hält mir Hans Reschreiter eine Schale mit einer braunen, trockenen, unregelmäßig geformten Masse unter die Nase. "Schauen Sie, das sind menschliche Exkremente aus dem Bergwerk. Und da kann man noch genau erkennen, was diese Menschen gegessen haben, nämlich einen Brei aus Gerste, Hirse und Saubohnen." Ich muss genauer hinschauen, um die kleinen Bestandteile zu erkennen. "Bei Untersuchungen hat man aber auch Parasiten und deren Eier oder Larven gefunden, Wurmbefall war aufgrund der hygienischen Umstände ganz normal." "In den Stoffstücken konnte man übrigens auch Kleiderläuse nachweisen", setzt Nina Zangerl noch eines drauf. Vielleicht will ich die Funde doch nicht so nahe sehen…

Der Archäologe muss noch einmal zurück in den Berg zu seinen Kollegen, für mich ist das archäologische Abenteuer vorbei. Doch auch für Reschreiter und seine Mitarbeiter ist die Grabungssaison bald zu Ende, spätestens Mitte Oktober ist alles winterfest gemacht, und das Hallstätter Hochtal liegt still und verlassen. Bis im nächsten Frühjahr die Truppe erneut anrückt, um dem Berg weitere Geheimnisse zu entreißen und sich dabei ordentlich die Hände schmutzig zu machen …

Infos zum Schaubergwerk in Hallstatt
unter www.salzwelten.at,
zum Naturhistorischen Museum
unter www.nhm-wien.ac.at