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Zukunftsprognosen mit Big Data

Von Eva Stanzl

Wissen

Wien soll zu einer Drehscheibe für Komplexitätsforschung werden. Dieser neue wissenschaftliche Bereich liefert wichtige Erkenntnisse über Gesundheit, Finanzströme, den Städtebau und zu erwartende gesellschaftliche Entwicklungen.


Wien. Jeder Arztbesuch wird registriert. Beschwerden, Diagnose und verschriebene Medikamente werden in den Computer eingegeben. Danach gehen die Daten anonymisiert als Informationsbasis für das Gesundheitsweisen an den Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Pro Jahr fallen 100 Millionen solcher Datenzeilen an. Nutzloser Datenmüll, könnte man meinen. Doch für Stefan Thurner sind diese Datenzeilen Goldes wert. Wie ein Juwelier aus dem Edelmetall Geschmeide fertigt, kann Thurner die Bits und Bytes mithilfe von Algorithmen in einen Wissensschatz verwandeln.

Stefan Thurner ist Mediziner, Mathematiker und Komplexitätsforscher. Mit seinen Teams an der Technischen Universität (TU) und der MedUni in Wien liest er Big Data auf eine neue Art und Weise. "Die meisten Menschen haben mehr als eine Krankheit", erklärt er. "Wir haben Netzwerke der Erkrankungen geschaffen. Sie zeigen, wie individuelle Leiden miteinander verbunden sind."

Die Konsequenzen zählen

"Anhand meiner derzeitigen Krankheiten lässt sich vorhersagen, woran ich sehr wahrscheinlich in Zukunft erkranken werde. Das sind jene Leiden im Netzwerk, die meinen Beschwerden am nächsten stehen", führt Thurner aus. Etwa lasse sich das Krebsrisiko eines Diabetikers prognostizieren, der Insulin spritzen muss. Auch der Verlauf einer Herzerkrankung bei einer übergewichtigen Frau mittleren Alters sei absehbar. "Alle Kombinationsmöglichkeiten gehen schneller als bisher. Wir arbeiten mit neuen Größenordnungen", erklärt er. Allein das Netzwerk der Erkrankungen, die mit Diabetes in Zusammenhang stehen, liefere so viel Information wie 40.000 herkömmliche pharmazeutische Studien.

Der Physiker Stephen Hawking hat die Komplexitätsforschung als "Wissenschaft des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. In großen, vielfältigen Systemen, wie Finanzwirtschaft, Gesundheits- und Energiesystemen, politischen und gesellschaftlichen Ordnungen oder Großstadtplanung werden derzeit immer wieder falsche Entscheidungen getroffen. Doch gerade in großen Systemen kann der Ausfall einzelner Teile gravierende Folgen haben. Um Fehlerquellen schneller zu sehen und Gefahren zu vermeiden, werden diese komplexen Systeme zunehmend erforscht. "Die Komplexitätsforschung schafft Verbindungen zu den unbeabsichtigten Konsequenzen menschlicher Handlungen", erklärt Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny.

Im Zentrum stehen mathematische Methoden und riesige Datenmengen ("Big Data"), die heute fast in allen Bereichen vorliegen. Computersimulationen, die die komplexen Vorgänge nachbilden, können unbegrenzt wiederholt werden, um die Auswirkungen von Interventionen zu testen. "Was wäre wenn"-Szenarien, die früher nur gedacht werden konnten, werden "mit der Verfügbarkeit von Big Data zu einer experimentellen Wissenschaft", so Thurner.

Um den Forschungsbereich im Werden mitzuprägen, wollen drei heimische Universitäten und zwei Forschungsinstitute ihre diesbezüglichen Aktivitäten verdichten: Als erster Standort in Europa soll Wien zur Drehscheibe für Komplexitätsforschung werden. Der "Complexity Science Hub Vienna" werde "auf eine für Österreich ungewöhnliche Art und Weise dieses wichtige Forschungsgebiet ins Land holen", betonte Nowotny, Vorsitzende des ERA Forum Council Austria der EU-Kommission, am Dienstagabend vor Journalisten. Mit "substanziellen finanziellen Zusagen" willen fünf Partner die Plattform etablieren, sagte Wolfgang Knoll, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Austrian Institute of Technology (AIT). Auch die Technischen Universitäten Wien und Graz, die Medizinuniversität Wien und das Internationale Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg sind mit an Bord. "Das Ziel ist eine stark vernetze Plattform für die mit dem Thema befassten Forscher", erklärte Knoll.

Die Initiatoren streben eine "stabile finanzielle Situation ab Anfang 2016 für fünf Jahre" an, so Knoll. Hinter den Kulissen ist von Beiträgen zu gleichen Teilen die Rede und einem Grundbudget von einer Million Euro pro Jahr, wobei die Universitäten Komplexitätsforschung in die Leistungsvereinbarungen 2016-2018 integrieren wollen. "Gelder für Projektforschung wollen über Drittmittel lukrieren", sagte Nowotny. Die Initiative soll ein Knoten in dem Netzwerk von Komplexitätsforschungs-Instituten werden. Ab 2016 sollen internationale Experten als Gastforscher nach Wien kommen.

Räumlichkeiten gesucht

Vorstellbar ist laut Knoll "die flexible Konstruktion eines Vereins". Allerdings, räumt er ein, "wäre es sehr hübsch, wenn es auch Vereinsräumlichkeiten gäbe". Darüber wird derzeit mit der Stadt Wien verhandelt. "Wir brauchen Räume, damit der internationale Austausch in Wien stattfindet. Bürgermeister Häupl hat seine Unterstützung zugesichert", so Nowotny.

Die erste Aktivität des "Hub" war ein internationales Symposium zum Thema "Komplexität verstehen - Lösungen für die Probleme des 21. Jahrhunderts" mit führenden Komplexitätsforschern am Montag und Dienstag in Wien. So setzt Singapur bei der strategischen Planung auf Komplexitätsforschung, um Unsicherheiten zu reduzieren, wie Peter Ho, Berater des Centre for Strategic Future des Stadtstaats, erklärte. Albert Laszlo Barabasi vom Center of Complex Networks Research der Northeastern University in Boston, USA, untersucht, wie entscheidend die Position in einem Netzwerk für den Erfolg von Individuen ist. Der Anthropologe Stephen Lansing von der Nanyang Technological University in Singapur erforscht das komplexe, aber perfekte Wassermanagement von Tempelpriestern auf Bali.