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Kreative Kollisionen

Von Eva Stanzl

Wissen
"Drone 100" , ein Kunstwerk von US-Ingenieuren, ist ein Zusammenwirken von Musik, Licht und hunderten Drohnen und bei der diesjährigen Ars Electronica zu sehen.
© Intel Corporation

Kunst und Wissenschaft wirken immer öfter gemeinsam: Die Kunst sucht Quellen für tiefgründige Aussagen in einer technologisierten Welt, die Wissenschaft Inspiration für neue Fragestellungen. Das zeigt auch die diesjährige Ars Electronica.


Wien/Linz. George Shortess malt Berge und Täler, Dörfer und Landschaften. Über die Bildmotive pinselt er formvollendete Linien, die seine Aquarelle wie grobmaschige Gitter durchkreuzen. Die Gittermuster stehen für jene neuronalen Netzwerke im Gehirn, die beim Betrachten von Bildern aktiv werden. George Shortess nennt das "neuronale Kunst", wie der US-Künstler vor wenigen Tagen bei der 24. Internationalen Konferenz für Empirische Ästhetik in Wien erklärte: Ihm liege daran, "ästhetische Erfahrungen und die Verarbeitung visueller Reize aufzuzeigen".

In gewisser Weise sind die Bilder gelungen, weil schön. Ob sie auch selbsterklärend sind, das sei dahingestellt. Ihr Ziel ist jedenfalls eine Verknüpfung von Wissenschaft und Kunst - ein Gespann, das wachsende Aufmerksamkeit bekommt, obwohl oder gerade weil es so diffus ist.

Bei dem Ästhetik-Kongress hinterfragten Künstler, Hirnforscher, Kunsthistoriker und Philosophen, wie Kunstwerke mit wissenschaftlichen Methoden erschaffen werden können. Beim diesjährigen Forum Alpbach wiederum analysierte ein Podium Berührungspunkte von Kunst und Technologie im Lichte einer neuen Aufklärung. Und die morgen, Donnerstag, startende Ars Electronica in Linz lädt zur "Radical Atoms Exhibition" ein: Installationen, Videos und Skulpturen sollen die Verschmelzung des Digitalen mit der physischen Welt darstellen. Stargast ist der Computerforscher Hiroshi Ishii, der am renommierten Media Lab des Massachusetts Institute of Technology in Boston, USA, an neuen Interaktionsformen von Mensch und Maschine arbeitet. Einige Ergebnisse muten durchaus auch ästhetisch an - etwa wenn durch Berührung eines Touchscreens Städte in Spielzeuggröße aus dem "Boden" schießen.

Entfernte Verwandte

Sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft bedienen sich multimedialer Darstellungsformen, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen. Das eine ist die Nutzung von Technik, um eine künstlerische Aussage zu treffen, das andere die Visualisierung von Naturgesetzen, wie etwa Atom-Bewegungen. Die beiden Disziplinen sind somit ein bisschen wie zwei entfernt verwandte Cousinen, denen anzumerken ist, dass sie zur selben Familie gehören, obwohl sie sich nicht ähnlich sehen.

Was hält also die Familie zusammen? Was macht sie attraktiv und welchen Erkenntnisgewinn soll sie bringen? "Sowohl Künstler als auch Wissenschafter setzen der vorgefundenen Realität eine konstruierte hinzu. Wissenschafter konstruieren Theorien, Künstler erschaffen Kunstwerke. Beide sind Weltergründer, allerdings müssen Wissenschafter den Nachweis erbringen, wie es sich mit der Welt verhält, und Künstler sich dem Urteil der Geschichte aussetzen", sagt der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer, der heute, Mittwoch, in Wien vorträgt: "Die Parallelen sind der kreative Akt der Schöpfung eines Werks, das mit Farbe oder in einer Partitur dargestellt, oder aber in einer Forschungsfrage münden kann."

Der Zellbiologe Jan-Michael Peters hat dies in der Praxis ausprobiert. Der Koordinator des mit zehn Millionen Euro geförderten EU-Forschungsprojekts "MitoSys" arbeitete nämlich auch mit Künstlern zusammen. Das Forschungsziel war, die an der Zellteilung (Mitose) beteiligten Gene und Proteine zu identifizieren und in ihrer Funktionen zu verstehen. Mit dem Kunstprojekt sollte der Öffentlichkeit zudem ein intuitiver Zugang zum Vorgang der Zellteilung vermittelt werden.

Beitrag zur Kulturevolution

Eines der Ergebnisse ist eine Animation aus Zeichnungen, deren Form und Rhythmik vage an Beobachtungen unter dem Mikroskop erinnern. "Wissenschaft ist komplex und hochpräzise. Wir mussten darüber hinaus gehen. Aus Zeichnungen wurde ein Storyboard, ein Film, der ein Gefühl für die Dynamik der Zellteilung vermittelt und an eine Mitose in Galaxien erinnert, die so lange weitergeht, bis sie erlischt", erklärt das britische Künstlerduo Heather Ackroyd und Dan Harvey in einem Video zu dem Projekt.

"Das Schaffen eines Forschers dreht sich darum, den Grad der Ignoranz zu begreifen, in dem wir leben", sagt Zellbiologe Peters, Direktor des Wiener Instituts für Molekulare Pathologie (IMP): "Daraus ergeben sich Fragen. Der aufregendeste Moment ist, wenn man erkennt, dass die eigenen Beobachtungen Sinn ergeben, und ein Gefühl dafür bekommt, was die Antwort sein könnte." Gerade die Suche nach Antworten sei für beide ein hochkreativer Prozess. Mit dem Unterschied, dass Künstler, anders als Wissenschafter, nicht durch falsche Antworten eingeschränkt sind - und daher nicht falsch liegen, sondern allenfalls danebenhauen können.

"Quantentanz" heißt ein Kunstwerk, das die Vorgänge im Kernforschungszentrum Cern thematisiert. Im weltgrößten Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider, prallen Teilchen in Fast-Lichtgeschwindigkeit aufeinander. Vier Geräte so groß wie Häuser machen Schnappschüsse von Kollisionen, die für das freie Auge nicht sichtbar sind. "Wir laden jedes Jahr Künstler ein, die kreative Kollisionen zwischen Wissenschaft und Kunst machen wollen", sagt Monica Bello, die Leiterin von Arts@Cern. Und präzisiert: "Wir wollen neue Wege finden, Wissen zu schaffen und die Naturgesetze zu verstehen. Denn mit dem zunehmenden technologischen Fortschritt vergrößert sich das Wissen. Um das zu begreifen, brauchen wir neue Stimmen und Weltanschauungen in unseren Labors." Multidisziplinarität ist die Devise der "wissenschaftlichen", sponsorenfinanzierten Kunst in Genf, das Ziel ist Sinnsuche.

Zu den Ergebnissen zählen multimedial erzeugter Ton, Musik, Bilder und Performances. Hier tanzen Forscher als spektakulär beleuchtete "Quanten" oder "erforschen" Künstler die Materie mit Film-Animationen. Doch weder die Kombination von Kunst und Technik, noch Künstler als Forscher sind neu. Schon seit Jahrzehnten greift etwa die zeitgenössische Musik auf technische Klangerzeugung zurück. Gleichermaßen haben Künstler im Laufe der Jahrhunderte durch ihre wahrnehmungsphysiologischen Entdeckungen das Welt- und Menschenbild verändert.

Leonardo da Vinci errechnete den Goldenen Schnitt, wonach Abbildungen des Menschen als harmonisch empfunden wird. Die Zentralperspektive tat Selbiges für räumliche Darstellungen, und die Abbildung von Raum in zwei Dimensionen gipfelte in der Trompe-l’Oeuil-Malerei, die das Auge täuscht. Der niederländische Grafiker M. C. Escher wiederum konnte mit seinen unendlichen Treppen Annahmen über räumliche Zuordnungen, die im Gehirn verdrahtet sind, zum Narren halten. "Ohne darstellende Künste und die Malerei hätten wir möglicherweise ein anderes Menschenbild", sagt Wolf Singer: "Künstler zeigen uns stets anderes und arbeiten an der Selbsterkenntnis."

Auch die Naturwissenschaften entwickeln ihr Menschenbild, das immer differenzierter wird und Überkommendem widerspricht. "Und so basteln alle Disziplinen an dem, was man kulturelle Wirklichkeit nennt", betont Singer. Ohne Wissenschaft wäre die Kulturlandschaft anders, sie leistet einen wesentlichen Beitrag auch zur kulturellen Evolution.