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Frauen verspielen den biologischen Bonus

Von Alexandra Grass

Wissen

Interview mit Alexandra Kautzky-Willer: Die Gender-Medizin stellt die Frau in den Mittelpunkt, vom Resultat sollen alle profitieren.


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Wien. Dass es in der Medizin geschlechtsspezifische Unterschiede etwa bei Krankheitssymptomen oder der Arzneiverträglichkeit gibt, ist lange bekannt. Dennoch werden diese Aspekte im Gesundheitssystem noch wenig berücksichtigt. Die Gender-Forscherin Alexandra Kautzky-Willer kämpft für eine Umsetzung in der Praxis, um den maximalen Profit für beide Geschlechter herauszuholen.<p>"Wiener Zeitung": Die Medizin wird nach wie vor von Männern dominiert - nicht nur in der Onkologie, sondern auch in anderen Fachgebieten. Frauen hatten es nicht immer leicht, wie sieht die Situation heute tatsächlich aus?<p>Alexandra Kautzky-Willer: Ich denke, Frauen haben es leichter. Gerade in der Onkologie ist etwa Maria Sibilia, Molekularbiologin an der Meduni Wien, international sehr anerkannt. Ebenso die Onkologin Gabriele Kornek, jetzt Direktorin des AKH. Zuletzt sind zwei Frauen als Professorinnen berufen worden. Es ist einiges im Wandel, aber nach wie vor sind die großen Fächer in Männerhand. Aber bald steht ein Generationenwechsel an - in der Onkologie, der Infektiologie, der Kardiologie. Da sind auch Frauen im Rennen.<p>Sie haben, auch als erste Professorin, die Gender-Medizin geprägt. Heuer wurden Sie Österreichs Wissenschafterin des Jahres. Wie war Ihr persönlicher Weg dorthin?<p>Natürlich hatte ich auch Schwierigkeiten und Rückschläge, von denen ich mich nie entmutigen ließ, sondern ich versuchte, neue Kraft zu schöpfen und weiter meine Ziele zu verfolgen. Ich war in Dreiervorschlägen für Neubesetzungen als einzige Frau und bin nicht zum Zug gekommen. Heute haben es die Jungen besser, weil sie gleich einen Ausbildungsplatz bekommen. Zu meiner Zeit musste man drei bis vier Jahre warten. Für mich war es schwierig, die erste Ausbildungsstelle zu bekommen, die erste Assistenzstelle, die erste Oberarztstelle. Ich war lange die einzige Oberärztin in der Klinik für Innere Medizin III. Die Situation hat sich verbessert, aber die Gläserne Decke existiert nach wie vor. Vor allem haben es Frauen mit Kindern schwerer. Viele Professorinnen sind deshalb kinderlos geblieben. Ich hatte das Glück, dass mich meine Eltern und mein Mann sowohl mit meinem Sohn als auch sonst sehr unterstützt haben.<p>Ziel Ihrer Forschungen sollte doch sein, dass die Gender-Medizin in der Praxis ankommt - ist sie das?<p>Vereinzelt ja, aber nicht in der Breite. Durch mein Zutun haben wir in der Österreichischen Diabetesgesellschaft in unseren Leitlinien den geschlechtsspezifischen Aspekten bei Diabetes ein eigenes Kapitel gewidmet. Da sind wir bestimmt Vorreiter. Die amerikanische Herz- und Schlaganfallgesellschaft hat auch kürzlich spezielle Empfehlungen nur für Frauen herausgegeben. Es tut sich was, aber wir brauchen neue Strategien und auch Studien speziell für Frauen.<p>Gibt es genug Forschungsgelder?<p>Das ist leider gerade in Österreich nicht so toll. Auch die EU, die propagiert, dass in der Genderforschung mehr passieren soll, hat das bei den neuen Ausschreibungen nicht besonders groß im Visier. Ich hoffe, das ändert sich.<p>Prototyp in der Pharmaforschung ist der weiße Mann, mittleren Alters, mittlerer Größe, Normalgewicht.<p>Es hat sich gebessert. Jetzt müssen auch Frauen eingeschlossen werden, wenn das Medikament für beide auf den Markt kommen soll. Aber das passiert immer noch nicht ausreichend - obwohl die Europäische Arzneimittelagentur eine adäquate Zahl dem Krankheitsbild entsprechend vorgibt. Nehmen wir Diabetes oder Herzkreislaufleiden: Daran versterben mehr Frauen als Männer und trotzdem sind in den Studien immer noch 60 bis 70 Prozent der Teilnehmer Männer. Und die teilnehmenden Frauen befinden sich in der Menopause. Das hat wenig Aussagekraft über andere Lebenssituationen.<p>Einer Ihrer Schwerpunkte ist Adipositas. Männer und Frauen, aber auch Kinder sind betroffen - welche Unterschiede sind zu sehen?<p>Adipositas, die schwere Form des Übergewichts, haben häufiger Frauen und die globalen Trends prophezeien eine Zunahme. Bis 2025 könnten zehn Prozent der Frauen adipös sein. Das ist erschreckend. Jeder zweite Erwachsene und jedes fünfte Kind in Österreich sind übergewichtig. Daraus entsteht ein höheres Risiko für Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall und besonders bei Frauen für Depressionen, aber auch beim Kinderwunsch. Für adipöse Frauen ist es schwieriger, schwanger zu werden. Passiert es doch, drohen Schwangerschaftsdiabetes, Fehlbildungen und Totgeburten. Zudem haben diese Frauen ein erhöhtes Risiko, für hormonsensitive Tumore der Brust, Eierstöcke oder des Gebärmutterhalses.<p>In der Medizin scheinen wir Frauen also summa summarum benachteiligt zu sein - warum leben wir dennoch länger als Männer?<p>Das ist noch unser biologischer Vorteil, der ein bis zwei Jahre ausmacht. Das zusätzliche X-Chromosom und Östrogen stützen das Immunsystem und bieten Schutz für Gehirn und Herz. Der Rest des Unterschiedes, vier bis fünf Jahre, ist der gesündere Lebensstil. Das ändert sich aber. Frauen rauchen mehr und trinken Alkohol. Da ist noch gar nicht bekannt, wie sich das auswirken wird. Dazu kommt die vermehrte Stressbelastung durch Beruf und Familie. Das macht krank, wenn keine Entlastung stattfinden kann. Frauen haben noch einen biologischen Bonus, den sie aber durch den Lebensstil dabei sind, zu vernichten.<p>Wenn die Gender-Medizin greift, könnte dieser Bonus wieder steigen?<p>Auf jeden Fall. Sie kommt aber auch den Männern zugute. Aus dem Wissen kann man für beide das Maximum herausholen - das ist das Ziel der Gender-Medizin.

Alexandra Kautzky-Willer, geboren am 18. April 1962 in Wien, ist Leiterin der Gender Medicine Unit an der Uniklinik für Innere Medizin III in Wien und stv. Vorsitzende der Österreichischen Diabetesgesellschaft. Zuletzt wurde sie zur Wissenschafterin des Jahres gekürt.