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Der Mann, der die Welt in Zahlen fasst

Von Eva Stanzl

Wissen

Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner ist Wissenschafter des Jahres 2017.


Wien. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner (48) wurde am Montag zum "Wissenschafter des Jahres 2017" gekürt. Mit dem Preis würdigt Österreichs Klub für Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten vor allem das Bemühen von Forschern, ihre Arbeit und ihr Fach einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen und damit das Image der österreichischen Wissenschaft zu heben.

Thurner ist Österreichs erster Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinuniversität Wien und Leiter des von ihm ins Leben gerufenen "Complexity Science Hub Vienna" (CSH). Der Innsbrucker hat mehrere Felder der Expertise: Er studierte zunächst Teilchenphysik, danach Wirtschaftswissenschaften. Ende der 1990er Jahre lernte er am Santa Fe Institute im US-Staat New Mexico erstmals den damals neuen Forschungszweig der "Complexity Science" kennen - eine Netzwerkwissenschaft, die an großen Problemen wie Klimawandel, Migration, Ungleichheit, systemischen Risiken und Fairness in demokratischen Systemen arbeitet.

"Wiener Zeitung":Wie geht es Ihnen als Österreichs Wissenschafter des Jahres 2018?

Stefan Thurner: Ich freue mich wahnsinnig. Ich hätte es irgendwie nicht für möglich gehalten, dass jemand aus einem Fachgebiet, das sogar im Namen das Wort "Komplexität" trägt, Wissenschafter des Jahres werden kann. Daher freut es mich umso mehr. Wissenschaft ist eine bewährte Art, Fakten zu schaffen. Wenn bei den Menschen nicht ankommt, was wir machen und warum das wichtig ist, werden sie sich fragen, warum sie dafür bezahlen sollen - heute gehen immerhin drei Prozent der heimischen Wirtschaftsleistung in die Forschung.

Was macht ein Komplexitätsforscher?

Komplexitätsforschung schafft Grundlagen, die einen unmittelbaren Nutzen für die Gesellschaft haben können. Jedes komplexe System beinhaltet Netzwerke. Zu verstehen, wie sie funktionieren und welcher Dynamik sie folgen, wie sie auf Stress reagieren, was sie alles aushalten oder wann sie zusammenbrechen, zeigt viel über das System. Die Bezüge zwischen diesen Bausteinen lassen es uns verstehen.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Wir wollen Modelle schaffen, mit denen wir Gesellschaft eins zu eins nachbauen können. Jede Person in einem Land und jede Firma, jede Bank und jeder Kindergarten ist einem Avatar in einem Computermodell zugeordnet. Mit den Modellen können wir gesellschaftsrelevante Szenarien durchspielen. Wir können virtuell neue Gesetze einführen und sehen, wie sich diese auf Personen oder Wirtschaftszweige auswirken. Wir können alle möglichen beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen von Entscheidungen vor Augen führen, ohne sie durchleben zu müssen. Wir können Katastrophenszenarien durchspielen, etwa indem wir eine virtuelle Jahrtausendflut durch das Donautal schicken und sehen, wie das Wirtschaft, Haushalte und Staatsfinanzen trifft und was sich Jahre danach verändert, wenn spezielle Maßnahmen gesetzt werden. Auch medizinische Präventionsmaßnahmen lassen sich durchspielen. Wären derartige Simulatoren vielen Menschen zugänglich, würde das Fakten und deren Zusammenhänge viel transparenter machen.

Was begeistert Sie ganz besonders an Ihrem Fachgebiet?

Bisher hatten wir in den Naturwissenschaften fast ausschließlich Daten über tote Materie - wie Steine fallen, Raketen fliegen, Quasare blitzen, sich Moleküle falten oder wie man Photonen zählt. Daten, die in der Gesellschaft anfallen, wo praktisch alles live passiert und mitgeschrieben wird, erschließen ein neues Gebiet: die Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen den Menschen. Dadurch werden Gesellschaften unmittelbar zum Subjekt der naturwissenschaftlichen Untersuchung. Das finde ich sehr faszinierend.

Viele Bürger sind der Ansicht, dass die Welt immer verwirrender und vor allem widersprüchlicher wird. Ein Beispiel: Autofahren und Energieverschwendung schaden dem Klima. Doch was tut es zur Sache, wenn Einzelne weniger Kilometer mit dem Auto zurückzulegen, wo doch die Wiener Stadtverwaltung ihre Straßen künftig mit LED-Lampen von 4000 statt 3000 Kelvin ausleuchtet?

Der Homo sapiens ist so ausgerichtet, dass er viel lieber den eigenen Nutzen optimiert als den Nutzen für das Gemeinwohl - obwohl es dann allen besser gehen würde. Um dieses Dilemma zu lösen, brauchen wir soziale Spielregeln und Institutionen, die sie implementieren und ihre Einhaltung garantieren. Wenn aber Regierungen kurzsichtige Eigeninteressen vertreten, die nicht das Gemeinwohl optimieren, ist es doppelt traurig. Dann versagen die Institutionen und Populismus herrscht. Populismus hat noch nie in der Geschichte etwas nachhaltig für die Gesellschaft verbessert, weil er das Dilemma nicht lösen kann, sondern dieses noch verschärft.

Noch eine Frage zum Test: Wie steigt die Pandemie-Gefahr, wenn immer mehr Menschen um den Erdball fliegen?

Pandemien sind komplexe Systeme par excellence. Es reicht nicht, zu wissen, welche Personen wann wohin fliegen. Es geht auch darum, wie der Brutzyklus der Mücken ist, die den Erreger tragen, wie das Wetter ist und wo die Mücke brütet, wie der Erreger mutieren kann, wie sich lokale Impfkampagnen auswirken und wie hoch der Immunisierungsgrad in verschiedenen Bevölkerungen ist. Wenn man hier das Kleinste vergisst, kann man riesige Fehler in der Prognose machen.

Komplexitätsforschung kann Antworten errechnen. Ist sie die Wissenschaft der Zukunft?

Ich glaube, dass Komplexitätsforschung noch einige Zeit bestehen wird. Komplexität durchdringt alle Bereiche des Lebens und ist keineswegs gelöst oder verstanden. Auch die Ära der großen Datensätze hat eben erst begonnen. Wir benötigen Leute, die aus diesen Daten sinnvolle Schlüsse ziehen und daraus verwertbares Wissen schaffen. Dazu ist ein Verständnis im Umgang mit Daten erforderlich, sowie Modellieren, Mathematik und Expertise in mindestens einem Fachgebiet erforderlich. Ich glaube nicht, dass Künstliche Intelligenz uns diesen Job abnehmen wird. Gerade mit komplexen Systemen, die sich ständig verändern und anpassen, kann die Computer-Intelligenz nämlich nicht umgehen. Sie wird uns helfen, Daten aufzubereiten und Muster zu erkennen, aber sie wird keinen Sinn draus ziehen. Wie man Wissen aus Daten schafft, bleibt bis auf weiteres in der Hand des Menschen.

Welchen Stellenwert haben Intuition und Bauchgefühl dabei?

Es gibt die verschiedensten Algorithmen. Die einen bereiten Daten auf, die anderen versuchen, einen Sachverhalt aufzuklären, wieder andere rechnen ein mathematisches Problem aus und wieder andere wollen mir Katzenfutter auf der Basis meines Persönlichkeitsprofils verkaufen. Wieder andere versuchen, überprüfbare Vorhersagen zu machen - genau sie interessieren mich. Bevor man solche Algorithmen aber programmieren kann, muss man verstehen, wie ein System funktioniert oder funktionieren könnte. Und um sich das vorzustellen, braucht man Intuition und Bauchgefühl.

Wie relevant sind Gefühle in einer algorithmischen Welt?

Wir müssen einfach darauf bestehen, dass Gefühle eine relevante Kategorie bleiben. Sonst geht der Sinn des großen Spiels unwiederbringbar verloren.

Stefan Thurner ist Österreichs erster Professor für die Wissenschaft
Komplexer Systeme an der Medizinuniversität Wien und Leiter des von ihm
ins Leben gerufenen "Complexity Science Hub Vienna" (CSH).