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Original versus Kopie

Von Eva Stanzl

Wissen

NHM-Direktor Christian Köberl über die Bedeutung von Originalobjekten im Zeitalter der Digitalisierung für die Museen.


Wien. Smart Living ist die weltweite Vernetzung der Dinge auf allen Ebenen: Durch die Digitalisierung bekommen Geräte, Telefone, Autos, Fabriken, Energienetzwerke und die Logistik ganzer Städte ein unsichtbares, vernetztes Eigenleben. Niemand weiß, was diese Technologien alles bringen werden. Das Spektrum all dessen, was sie möglich machen, war Thema einer Diskussion der "Wiener Zeitung" im Rahmen des Schüler-Videowettbewerbs "Future Challenge". Am Rande der Veranstaltung diese Woche im Naturhistorischen Museum Wien gab Museumsdirektor Christian Köberl Einblicke in die Zukunft von Museen in einer Welt, in der theoretisch alle Sammlungsobjekte digitalisiert und ins Internet gestellt werden könnten.

"Wiener Zeitung": Welche Rolle spielt das Museum im digitalen Zeitalter?Christian Köberl: Das Museum spielt die selbe Rolle wie bisher. Es ist Hort der Objekte, die wissenschaftlich untersucht und öffentlich gezeigt werden. Wir stellen nur etwa ein Prozent unserer Schätze aus, der Hauptteil unserer Arbeit dient der Forschung - und sie kommt ohne Untersuchung der Originale nicht aus. Auch für die Besucher hat das Original einen anderen Stellenwert als die Kopie. Natürlich kann ich mir die Venus von Willendorf im Katalog oder als digitales Bild anschauen, aber wenn ich vor dem Original stehe, hat das eine andere Bedeutung. Reproduktionen können hier nie den gleichen Stellenwert einnehmen. Denn für die wissenschaftliche Forschung ausschlaggebend ist der Informationsgehalt eines Objekts, der in vielen Fällen viel tiefer geht und dreidimensionale Untersuchungen und DNA-Proben oder isotopische Zusammensetzungen erfordert. Das funktioniert nicht mit 2D-Reproduktionen.

Tools wie Google Megapixel digitalisieren Originale in so hoher Auflösung, dass man sie bis ins kleinste Detail heranzoomen kann. Welchen Wert hat das?

Es hat sicher einen Wert, aber ich muss nicht die ganze Sammlung digitalisieren, sondern nur ausgewählte Objekte, an denen ich das Interesse der Besucher hervorrufen möchte, um sie ins Museum zu bringen - zum Original. Eine Reproduktion ist dem nicht gleichzusetzen, auch, weil sie anders beschaffen ist. Ein Meteorit ist 4,5 Milliarden Jahre alt. Das lässt sich auch messen. Ein Foto davon besteht aus einem anderen Material und hat nicht denselben Informationsgehalt. Es ist ein bisschen, wie wenn ich mir einen Plastikkäse in einem Scherzartikel-Geschäft kaufe: Essen kann ich ihn nicht. Auch macht es einen Unterschied, ob das Objekt ein Bild ist oder ein Gestein: Von einem braunen Stein werden alle Fotos langweilig sein, weil das Visuelle nicht sein Informationsgehalt ist. Von der Mona Lisa hingegen sind alle Bilder gut. Aber ob ich die echte sehe oder eine 200 Jahre alte Kopie, lässt sich nur am Original untersuchen.

Wie sinnvoll ist es, wenn Museen ihre Archive digitalisieren?

Die erste Frage ist: Für wen tue ich das? Wer ist mein Empfänger? Ist es das allgemeine Publikum? Dann brauche ich nicht, wie es im NHM der Fall wäre, 30 Millionen Objekte zu digitalisieren, weil sich niemand durchklicken wird. Es ist sinnlos, sich sechs Millionen Käfer anzuschauen, zwischen denen der Laie keinen Unterschied sieht. Mache ich es für die Wissenschafter, stellt sich die Frage, ob es den Aufwand wert ist. Denn eine naturkundliche Sammlung digitalisiert man nicht einfach durch abfotografieren. Man braucht Experten, die die alten Inschriften lesen können, und Wissenschafter, die die Objekte kennen und feststellen, ob die Beschriftungen wirklich zum Objekt gehören oder in der Lade herumgerutscht sind. Und bei einem Stein ist es überhaupt schwierig - was digitalisiere ich? Sinnvoll ist es, den Inventarkatalog in eine digitale Form zu überführen, sodass er leichter zu navigieren ist - aber auch hier muss man den Aufwand und den Nutzen in Relation stellen. Ein 500 Jahre altes Buch kann man hingegen immer lesen und es braucht nicht einmal Strom.

Das Pariser Kunstzentrum will mit seinem "Atelier des Lumières" neue Besucherschichten gewinnen: Mit 140 Videoprojektoren werden in einer ehemaligen Werkshalle Bilder von Gustav Klimt an die Wand geworfen, damit Familien-Publikum, das in der Freizeit nicht in Ausstellungen geht, angesprochen wird. Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der Vermittlung, etwa wenn Schüler sich an Selfie-Stationen mit Objekten fotografieren können?

Das ist eine sehr oberflächliche Geschichte, denn gerade das Beispiel Selfie-Stationen zeigt, dass man an sich selbst interessiert ist und nicht an dem Objekt. Es geht nur um den Effekt. Daher muss man mit der Digitalisierung in der Vermittlung vorsichtig sein. Es soll eine sinnvolle Mehrinformation sein. Man muss aber aufpassen, dass sie nicht zu lange und zu viel wird, weil sie sonst niemand liest.

Was digitalisieren Sie im NHM?

Wir haben viele Fotos digitalisiert. Manchmal ist das nicht unwichtig, denn gerade alte Dias zerfallen. Manche Fotoschichten bleiben lichtsensitiv und bekommen einen Braunstich. Ich habe aber von Kollegen im Filmmuseum gelernt, dass digitale Archive mittlerweile analog archiviert werden. Sie drucken sie auf Filmstreifen wieder aus. Das Material hält länger - vielleicht 100 Jahre und nicht nur einige Jahrzehnte.

Und Ihre Dinosaurier-Skelette?

Ich denke, so ein Riesenskelett ist etwas Eindrucksvolles, und es wird immer besucht werden. Obwohl man dazusagen muss, dass manche unserer Skelette auch Abgüsse sind.

Zur Person

Christian
Köberl
ist Generaldirektor und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Naturhistorischen Museums Wien. Als Geochemiker widmet er sich vor allem der Meteoritenforschung.