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Typisch Wienerisch

Von Peter Payer

Wissen
Hölzerne Berge und Täler, die die imperiale Vergangenheit der Stadt zeigen: Bissspuren der Hofpferde in der Durchfahrtshalle des Leopoldinischen Trakres.
© Archiv Payer

Die Entwicklungsgeschichte traditionsreicher Wienbilder bietet interessante Einblicke in die Identitätsbildung der Donaumetropole.


Die jüngste Diskussion über die Verbannung der Fiaker aus der Wiener Innenstadt hat es einmal mehr verdeutlicht: Was als typisch Wienerisch empfunden wird, scheint nahezu unveränderbar - um nicht zu sagen heilig. Tief verankert im kollektiven Gedächtnis der Stadt, ist daran so gut wie nicht zu rütteln. Doch allzu gerne vergessen wir, dass auch die traditionsreichsten Wienbilder historisch gewachsen sind und eine Entwicklungsgeschichte haben, die sie - mit Bedeutung hoch aufgeladen - erst zu dem machte, was sie heute für uns sind. Ob der Steffl, das Riesenrad oder eben die Fiaker: sie alle fungierten über die Zeitläufte hinweg als wichtige soziokulturelle Projektionsflächen und trugen so das Ihre zur sich akkumulierenden Identität der Stadt bei.

Ihre kritische Hinterfragung, bisweilen auch Erweiterung, ist aus historischer Sicht ebenso erkenntnisreich wie gesellschaftlich notwendig. Hat man, wie der Autor dieser Zeilen, regelmäßig mit Texten und Quellen über Wien um 1900 zu tun, stößt man mitunter auf recht kuriose Nachrichten aus der Vergangenheit, die einem das Wesen der Zeit und der Stadt geradezu auf den Punkt zu bringen scheinen.

Nicht nur, dass die reichhaltige Publizistik jener Jahre eine Fülle an stilistisch fein geschliffenen Miniaturen hervorbrachte, auch so manche materielle Zeugnisse vermitteln - bis heute - ein aufschlussreiches Bild des Alltags jener Jahre. Im Folgenden drei quintessenzielle Fundstücke, die das zum Klischee geronnene Image der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien auf ihre Weise widerspiegeln.

"Ameisen imApfelstrudel"

Unter diesem Titel berichtete die konservative "Reichspost" am 21. November 1913 über einen Aufsehen erregenden Zwischenfall, der auf gerichtlicher Ebene gar bis zur Staatsanwaltschaft ging. Was war geschehen? Ein Kunde eines Zuckerbäckermeisters in Wien-Fünfhaus hatte in einem Apfelstrudel Ameisen entdeckt. Friedrich Spangenmacher, der Betriebsinhaber, wurde unverzüglich wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes angezeigt und vor das örtliche Bezirksgericht zitiert.

Die Zeitung berichtete über die Details: "In der Verhandlung hatte der Angeklagte angegeben, daß er alles aufbiete, um seinen Betrieb rein zu halten. Die einvernommenen Angestellten erklärten als Zeugen, daß der Meister mit unnachsichtlicher Strenge auf die von ihm angeordnete Reinlichkeit des Betriebes gesehen habe. Ferner wurde nachgewiesen, daß unmittelbar vor dem verhängnisvollen Verkaufe jenes Apfelstrudels die alljährlich zweimal erfolgte Revision durch einen Ungeziefervertilger gerade stattgefunden hatte. Spangenmacher wurde auf Grund dieses Ergebnisses des Beweisverfahrens freigesprochen." Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil wurde letztlich von der Staatsanwaltschaft zurückgezogen. Der Freispruch erlangte Rechtskraft.

Dass es ausgerechnet diese Meldung in den Chronikteil einer Tageszeitung schaffte, ist wohl nicht nur der hygienischen Übertretung geschuldet. Es war die Verunreinigung einer der köstlichsten Leibspeisen der Wiener, die die Empörung vervielfachte. Galt doch der Apfelstrudel als Inbegriff einer Wiener "Schmauserei". In der sich im Lauf des 19. Jahrhunderts herausbildenden, multinational und bürgerlich geprägten "Wiener Küche" spielte er eine zentrale Rolle, degradierte die durchaus nicht unwichtigen anderen Mehlspeisen beinahe zu Statisten. So war der renommierte Feuilletonist Paul Busson der Meinung, dass insbesondere an Sonntagen "der ausgezogene Apfelstrudel den Weihetag verherrlicht". Zweifellos gehörte er, wie Habs und Rosner in ihrem vielgerühmten "Appetit-Lexikon" über die Mehlspeisen vermerkten, zu den herausragenden "Pointen der Wiener Küche".

Und dann das: Ameisen und Apfelstrudel. Ein größerer Gegensatz lässt sich in der als "Stadt der Phäaken" apostrophierten Donaume-tropole kaum denken, wo die Leidenschaft für das Genießen und eine damit verbundene spezifische "Geschmackslandschaft" zum Markenzeichen geworden war. Ein vielschichtiger und spannender Prozess, den der Kulturwissenschafter Lutz Musner in einer Studie über das Wien um 1900 eingehend dargelegt hat. Spätestens seit damals avancierte der Apfelstrudel neben Sachertorte und Wiener Schnitzel zum fixen Bestandteil jener kulinarischen Trinität, die das Eigen- und Fremdbild der Stadt bis heute bestimmt.

Ein anderer, nicht weniger sinnlicher Aspekt spielte bei der großzügig angelegten Ringstraße eine Rolle: die visuelle Gestaltung und Verschönerung des Stadtbildes. Seit den 1850er Jahren wurde an der Riesenbaustelle gearbeitet, die auch nach der Jahrhundertwende noch keineswegs vollendet war. Allerdings war bereits eine große Zahl an "Sehenswürdigkeiten" zu bestaunen, wie
Raoul Auernheimer, bekannter Feuilletonist der "Neuen Freien Presse", feststellte. Aufmerksam registrierte er die Veränderungen der einstigen Kleinstadt, die so rasch "Carriere gemacht hat".

"Mascherln derStraße"

Auf der Suche nach der neuen, nunmehr deutlich großstädtischeren Physiognomie erkannte er in Wien, im Unterschied zu Berlin oder Paris, eine gesteigerte Vorliebe für das Schauen. Auf der Straße blicke man sich hier merkbar öfter um, man lächle und habe eine Vorliebe, so Auernheimer, für das "Mascherl".

Ein Signet der Stadt: Blumenkörbe an den Lampenmasten am Opernring (um 1910).
© Archiv Payer

Letzteres war für Auernheimer gleichsam das Signet der Stadt, Inbegriff des Hangs zum Schönen und zum Verschönern - egal ob bei der Toilette der Frauen oder den besonders ins Auge springenden Blumenkörben an den Lichtmasten:

"Wien ist, außer Barcelona, hab’ ich mir sagen lassen, die einzige Stadt, in der die Beleuchtungsmasten mit Blumenkörben geschmückt sind. Bei Nacht wird es mit Licht beleuchtet, bei Tag mit Blumen. Und diese bunten, runden Körbe sind Gärten, winzige in die Luft gehängte Gärten, die sich hundertfach wiederholen, wenn man die Ringstraße hinunterblickt. Diese Körbe sind die Mascherln der Straße."

Auernheimer bezieht sich hier auf die hohen Masten der elektrischen Bogenlampen (aufgrund ihrer schneckenförmigen Ausleger "Bischofsstäbe" genannt), die an und für sich schon ästhetisch anspruchsvoll gestaltet waren und nun zusätzlich einen floralen Schmuck erhielten. Der war erstmals im November 1905 anlässlich des Besuchs des spanischen Königs Alphons XIII. an der Ringstraße und am Schwarzenbergplatz angebracht worden. Da die Blumenkörbe auch bei den Wienern großen Anklang fanden, wurden sie beibehalten - und beträchtlich vermehrt.

Wie sehr sie der Bevölkerung ans Herz gewachsen waren, lässt sich daran ersehen, dass ihre Aufstellung selbst nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs eine ungebrochene Fortsetzung erfuhr. Voll Stolz vermeldete man im von der Kommune herausgegebenen Städtewerk "Das Neue Wien", dass die Blumenkörbe an den Lichtmasten nunmehr wieder gefüllt und vermehrt würden. Ihre Zahl sei im Jahr 1926 auf insgesamt 83 gestiegen. Hoffnungsfroh blickte das "Rote Wien" den neuen Zeiten entgegen. Die Stadt mit der "ewigen Schaulust" (Stefan Zweig) hatte im Straßenschmuck ihren unverwechselbaren Ausdruck gefunden.

Eine Tradition, die bis heute anhält. So kann man sich in der Währinger Straße vor dem Café Weimar nach wie vor an einem Bogenlampenmast aus der Gründerzeit in originaler Farbgebung samt Blumenkorb erfreuen (eine Privatinitiative des Cafetiers zum hundertjährigen Jubiläum seines Lokals). Letztlich sind auch das in Mode gekommene urban gardening und die davon inspirierten blumengeschmückten Blechdosen an diversen Verkehrsmasten in diese Richtung zu interpretieren. Ein kleiner Stadtgarten in luftiger Höhe zur Freude und Repräsentation der Bevölkerung.

Biss-Spurender Hofpferde

Den dritten und letzten, im wahrsten Sinne eindrucksvollsten Hinweis auf eine typische Wiener Begebenheit verdanke ich dem Kunsthistoriker und Denkmalexperten Andreas Lehne. Er beschreibt in einem seiner Bücher ein Detail der Wiener Hofburg, an dem wohl nicht nur ich schon viele Male vorbeiging: Die Bissspuren der Hofpferde an einem Holzbalken in der Durchfahrtshalle des Leopoldinischen Traktes.

In dem zwischen Innerem Burghof und Heldenplatz gelegenen Raum waren über Jahrzehnte hinweg die vom Hof benötigten Reitpferde angebunden. Beständig knabberten die Rösser an jenem Querbalken, der dort die Fahrspuren trennt. Eine mehr oder weniger bewusste Geste des tierischen Wartens und Zeitvertreibs. Die Zahnabdrucke hinterließen markante Furchen und Rillen. Und sie hätten das Holz, so Lehne süffisant, wohl durchgebissen, wären nicht die Gründung der Republik und die Erfindung des Automobils dazwischengekommen.

Derartige kleine bis größere Möblierungselemente des Straßenraums aus dem Fin de Siècle sind gerade in Wien erstaunlich zahlreich erhalten. Insbesondere in der Ringstraßenzone, aber nicht nur dort; denken wir etwa an die alten, im historistischen Stil designten Pissoirs und Bedürfnisanstalten, an diverse Beleuchtungskörper und Umfriedungen bis zu den Kanaldeckeln und Pollern. Dass jedoch ausgerechnet die relativ anfälligen Holzstreben die Zeit überdauerten und von sämtlichen Umbauten, Krieg und Devastierung verschont wurden, grenzt beinahe an ein Wunder. Und so sind sie gerade in ihrer Unmittelbarkeit, wie Lehne betont, Denkmäler der besonderen Art als "die letzten im öffentlichen Raum präsenten Gebrauchsspuren, die vom Alltagsleben des Wiener Hofes geblieben sind".

Anhand der kleinen hölzernen Berge und Täler lässt sich der Verlauf der Zeit ertasten und die imperiale Vergangenheit der Stadt, in der Pferde noch ein prägendes Verkehrsmittel waren, auf einzigartige Weise erspüren. Vielleicht einmal ein unikales Objekt für das in unmittelbarer Nähe eröffnete Haus der Geschichte Österreichs? Jedenfalls ein Hands-On mit besonderer Aura, das uns weit in die Vergangenheit zurückzuführen vermag, und das gemeinsam mit dem nostalgisch verbrämten Klang der Fiakerpferde auf dem Kopfsteinpflaster als Signum jener Stadt fungiert, der so gerne ein ausdauernder Blick zurück nachgesagt wird. Womit wir wieder beim Klischee wären.

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, u.a. "Der Klang der Großstadt. Zur Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914" (Böhlau 2018).