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Reformpädagogik und Auslese

Von Leo Leitner

Wissen
Einst Kadettenschule, dann Bundeserziehungsanstalt (Boerhaavegasse, 1030 Wien).
© Archiv

Schulreformen am Beginn der Ersten Republik: Der Bogen reichte von Schülermitwirkung über neue Lehrpläne bis hin zu Begabtenschulen.


"Die Schüler sind in einer ihrem Fassungsvermögen entsprechenden Form darauf aufmerksam zu machen, dass die österreichisch-ungarische Monarchie zu bestehen aufgehört hat und dass die Schüler nunmehr Angehörige des neuen Staatswesens Deutsch-Österreich sind."

Geschäftsordnungsmäßig wie die Anzeige einer Firmenübergabe mutet dieser Erlass des Staatsamtes für Unterricht (damals dem Staatsamt für Inneres eingegliedert) vom Dezember 1918 an. An die Stelle des gestürzten Kaisers ist das republikanische Staatswesen Deutsch-Österreich, später, in der Verfassung von 1920, als Republik Österreich, getreten. Die Schüler sind "Angehörige" der neuen staatlichen Gemeinschaft, ihr in Rechten und Pflichten verbunden; in dem revolutionären Prozess, der die Geburt des Kleinstaates begleitete, sind sie bereits präsent. Aufmärsche, Demonstrationen, Versammlungen und Petitionen dokumentierten dies.

Als Angehörige der großen staatlichen Gemeinschaft wie der überschaubaren Gemeinschaften ihrer Schulen fühlten sie sich berechtigt, Forderungen (in höflicher Form nannten sie es "Bitten und Wünsche") zu stellen und Aufgaben zu übernehmen. Die Ausrufung der Republik wirkte wie ein Signal! Dass das große Reich der Habsburger zerfallen war, war weniger beeindruckend als die Chancen einer Mitwirkung in der Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens.

Schulgemeinden

Durch Demonstrationen, an denen Schülervertreter aus den oberen Klassen teilnahmen - wichtig für die Organisation war die Mithilfe der vom Militärdienst zurückgekehrten Schulkameraden, belastend hingegen die eingeschleusten Randalierer, durch die es mehrmals zu blutigen Auseinandersetzungen mit Männern des Wachtdienstes kam - wurde die Öffentlichkeit auf die Anliegen der Schüler aufmerksam gemacht. Besprechungen im Staatsamt für Unterricht in Wien (das spätere Unterrichtsministerium) im Februar 1919 zeigten die möglichen Arbeitsfelder für die Schülervertretungen. Dazu gehörte vor allem das Zusammenwirken von Lehrern, Eltern und Schülern in den "Schulgemeinden".

Die Schulgemeinde, für die es schon vor dem Ersten Weltkrieg Ansätze gab, konnte aber nur in Kleinarbeiten erfolgreich sein (Nutzung der Bibliothek, Einsatz außerschulischer Referenten, Spezialkurse wie Rhetorik und Diskussion, Schulsport, künstlerisches Arbeiten). Fragen der Lehrplangestaltung hingegen, die den Schülern außerordentlich wichtig waren (Verringerung der Wochenstundenzahl für die alten Sprachen, Einführung moderner Fremdsprachen, Verstärkung des naturwissenschaftlichen Unterrichtes) waren für die Beratungen in den Schulgemeinden keine Themen.

In Berichten einzelner Schulen finden sich Hinweise auf das besondere Engagement sozialdemokratischer Schüler, mitunter auch von Gruppen jüdischer Schüler in den Schulgemeinden. Budgetäre Schwierigkeiten, aber auch das Zögern von Lehrern, die einen Abbau ihrer Autorität befürchteten, ließen die anfängliche Euphorie schwinden. Die Idee der Schulgemeinde konnte sich in dieser Phase der Schulentwicklung allgemein nicht durchsetzen.

Von März 1919 bis Oktober 1920 war Otto Glöckel, ehemaliger Volksschullehrer und sozialdemokratischer Abgeordneter zum Reichsrat, Unterstaatssekretär im Staatsamt für Unterricht und als solcher dem Staatssekretär für Inneres und Unterricht beigestellt. Bemerkenswert ist, dass zur gleichen Zeit der Gymnasialprofessor und spätere Bundespräsident Wilhelm Miklas ebenfalls Unterstaatssekretär in diesem Amt war (zuständig für Kultusangelegenheiten).

Reformer Glöckel

Der für das Schulwesen zuständige Unterstaatssekretär Glöckel nutzte die Möglichkeiten, die den Zuständigkeits- und Entscheidungsbereichen eines Ministers gleichkamen, intensiv. Dies zeigte sich besonders in der Einrichtung einer eigenen Abteilung Schulreform, die ihm unmittelbar unterstellt war. Hier wurden die grundlegenden Konzepte für neue Lehrpläne, Lehrbücher, didaktische und methodische Unterrichtsgebiete wie für Lehrerfortbildung entwickelt. Zum festen Stamm der Referenten aus der Schulpraxis, der Lehrerbildung und den Erziehungswissenschaften zog man für spezifische Aufgaben Mitarbeiter befristet bei.

Aus internationalen Kontakten (im Besonderen zu Deutschland, auf die Glöckel großen Wert legte) kamen wichtige Impulse. Die Information der Lehrer über die Intention der Schulreform war ein vordringlicher Auftrag, ebenso die breit ausgebaute Publikationstätigkeit. Die Abläufe in den Versuchsschulen wurden genauestens beobachtet und ausgewertet. Die Arbeiten der Reformgruppe, forciert durch die Energie Glöckels, waren in ihren Ergebnissen zutiefst beeindruckend, allerdings in den regionalen Auswirkungen sehr eingeschränkt. Skepsis und Vorbehalte waren in den Bundesländern einfach zu groß.

Nach 19 Monaten beendete Otto Glöckel seine Tätigkeit im Staatsamt; er wurde 1922 geschäftsführender Präsident des Stadtschulrates für Wien und konnte in dieser Funktion in Verbindung mit dem Neuen Pädagogischen Institut die Arbeiten für die Schulversuche weiterführen.

Der Versuchslehrplan für die 1. bis 4. Schulstufe (Grundschule) war als "offener Lehrplan" (Rahmenlehrplan) konzipiert. Leitlinien der auf die jeweils gegebene Situation bezogenen Lehrplangestaltung kamen aus der Reformpädagogik: Kinderorientiertheit, Selbstständigkeit und Bodenständigkeit. Vom Lehrer, für dessen Unterricht bisher der Stofflehrplan maßgebend war, wurde nun auch ein hohes Maß an Engagement erwartet. Das pulsierende Leben in den einzelnen Klassen des Schulversuches bewies die große Wirkung dieser Initiativen. Joseph Roth, der große Erzähler, hat mit seinem Artikel "Versuchsklassen - zu Otto Glöckels Schulreform" einen hymnisch-utopischen Text über eine "Neu-Schule" geschrieben: "Wenn dieses System sich erhält, so wird es ganz neue Menschen hervorbringen."

Problem Unterstufe

Neuralgischer Punkt dieser (wie auch aller späteren) Schulreformen blieben die Schulen der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Volksschuloberstufe, Bürgerschule, Mittelschule, Unterstufe von Gymnasium und Realschule, Sekundarstufe I: es sind nicht nur Variationen in der Namensgebung, auch Bildungsstufen und -grade werden hier erfasst.

Eine weitergehende, stark emotional bestimmte Benennung ist wohl die "Deutsche Mittelschule". Gerade in der Reformzeit unter Glöckel tauchte diese Bezeichnung immer wieder auf. Nicht nur die Sehnsüchte nach einer stärkeren Bindung an Deutschland zeichnen sich darin ab, es wird auch auf den Punkt präzisiert, dass die deutsche Sprache Mittelpunkt des Unterrichtes ist und deutschkundliche Lehrstoffe eine wichtige Rolle im Lehrplan spielen.

Nach 1920 wird mehr und mehr die Bezeichnung "Allgemeine Mittelschule" verwendet. An mehreren Wiener Bürgerschulen wurde der Schulversuch "Allgemeine Mittelschule" eingerichtet. Dem Grundsatz der Leistungsdifferenzierung folgend, wurden die neue Organisationsform einer Hauptschule mit zwei Zügen (Hauptschulgesetz 1927) und eine weitgehende Identität der Lehrpläne zwischen dem I. Klassenzug der Hauptschule und der gymnasialen Unterstufe festgelegt. Darin konnten die Vertreter der "Wiener Schulreform" einen Teilerfolg für die Einheitsschule erblicken.

Im Herbst 1918 waren etwa 1500 Militärzöglinge in den Bildungsanstalten des Heeres stationiert (Wien/Breitensee, Traiskirchen und Wiener Neustadt). Mit dem Ende der Monarchie brach ihr Weg der Ausbildung zum Offizier und damit jede Zukunftsperspektive weg. Als Provisorium wurde ein Unterricht nach dem Lehrplan der Realschule eingerichtet und der Stand an Zöglingen jahrgangsweise abgebaut.

Begabtenschulen

Unterstaatssekretär Glöckel traf für die weitere Nutzung der in die Zuständigkeit der Unterrichtsverwaltung übertragenen Objekte (zu den drei erwähnten Standorten kamen noch die Militärerziehungsanstalt in Graz-Liebenau und zwei Mädchenpensionate in Wien) eine außergewöhnliche, herausragende Entscheidung, die unverkennbar von der Idee der deutschen Landerziehungsheime beeinflusst war. Es sollten Ausleseschulen, Begabtenschulen eingerichtet werden!

Das Ziel dieser Staatserziehungsanstalten umriss Glöckel im parlamentarischen Ausschuss folgendermaßen: "Unserem Volke überragende geistige Führer zu geben, deren es in der Zeit des Wiederaufbaues so notwendig bedürfen wird, soll dadurch erzielt werden, dass jeder Begabung, welcher Art immer und wo sie sich finden mag, die Möglichkeit der Entfaltung gegeben wird."

Pädagogische, bildungspolitische und sozialpolitische Faktoren sind hier gebündelt; Auslese und Leistung werden stark betont, finanzielle Unterstützung von sozial oder wirtschaftlich Schwächeren wird zugesichert. Auf die Bezeichnung "Begabtenschule", die - ebenfalls nach einem deutschen Vorbild - Glöckel angeblich erwogen haben soll, wurde nach Abraten aus seiner Partei verzichtet, "denn das erzeugt geistigen Hochmut und Dünkel." Die Unterstufen der "Staatserziehungsanstalten" (ab 1920 Bundeserziehungsanstalten) sollten nach dem Lehrplan der "Deutschen Mittelschule" geführt und die Oberstufen in ein System von Fachschulen und Oberschulen (Matura) aufgegliedert werden. Nur die Fähigsten sollten mit der Maturität auch die Hochschulreife erlangen können.

Fügt man die einzelnen Baustücke der Schulorganisation nach Glöckel zusammen, zeigt sich ein ideologisch geschichtetes Bild: in der unteren und mittleren Region ein breites, allen gemeinsames Feld, an der Spitze die höchste Weihe nur für Wenige.

Mit Beginn des Schuljahres 1919/20 wurden die ersten Klassen der Bundeserziehungsanstalten eröffnet. Eine neue Schule zog in die Altbauten der Vergangenheit ein.

Leo Leitner, Sektionschef i. R., leitete von 1970 bis 1992 die Allgemeine Pädagogische Sektion im Unterrichtsministerium.