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Nacht ohne Finsternis

Von Peter Payer

Wissen

Die Geschichte der Leuchtreklame in Wien verrät viel über den Wandel der Werbe- und Sehgewohnheiten.


Kärntner Straße bei Nacht. Ansichtskarte, 1970.
© Archiv Payer

Es war ein Eyecatcher, der mir - als frisch nach Wien Zugezogenem - in den 1980er Jahren auffiel: die überdimensionalen Konturen des Moulin Rouge am Beginn der Kärntner Straße. Nachts stach die Leuchtreklame besonders ins Auge, thronte die rote Windmühle eindrucksvoll hoch über der Straße, strahlend und verlockend, und ein langgezogener Pfeil verwies in die Richtung des berühmt-berüchtigten Erotiketablissements.

Seit den 1920er Jahren trug das Nachtlokal in der Walfischgasse diesen klingenden, dem großen Pariser Vorbild nachempfundenen Namen; ein Inbegriff und Hotspot des Wiener Nachtlebens bis in die jüngere Zeit. So war es wohl auch kein Zufall, dass die bekannten "Geilomobil"-Fotos unseres jetzigen Bundeskanzlers noch im Jahr 2010 genau vor dieser Location aufgenommen wurden.

Ein für die Kulturgeschichte Wiens hoch aufgeladener Ort also, dessen Fassadenwerbung es wert gewesen wäre, erhalten zu werden. Umso größer war meine Enttäuschung, dass diese um die Mitte der 2000er Jahre verschwand. Unwiederbringlich, denn kein Mu-seum hatte sich dafür interessiert, keine privaten Interessenten hatten sich gefunden - heute undenkbar! Das Bewusstsein für die Erhaltenswürdigkeit von Leuchtreklamen und Stadtbeschriftungen hat sich nicht zuletzt dank so verdienstvoller Initiativen wie dem 2012 gegründeten Verein Stadtschrift oder dem Grafiker und "Ghostletters-Vienna"-Rechercheur Tom Koch nachhaltig gewandelt.

Werbebuchstaben stehen mittlerweile hoch im Kurs, sind begehrte Sammlerstücke im musealen Bereich wie am privaten Kunstmarkt. Gerade Wien hatte und hat hier einiges zu bieten.

Versunkener Himmel

Ein früher "Eyecatcher": das Moulin Rouge in Wien, 1959
© Archiv Payer

Ein Blick zurück zu den Anfängen der Lichtwerbung im öffentlichen Raum mag dies verdeutlichen, in jene Zeit, als die immense Suggestivkraft der nächtlichen Stadtbeschriftung noch frisch und neu war: "Alles glüht in Licht. Alles strahlt. Der Himmel mit seiner fernen Sternenpracht ist versunken. Aber die Straßen wie riesige Schaufenster eines Juweliers glitzern und locken mit farbigen Strahlen. Alles ruft, bittet, befiehlt."

Der österreichische Autor Gustav von Felsenberg staunte im Spätwinter 1935 beinahe ehrfurchtsvoll über die Wiener Nacht. Zwei Jahrzehnte zuvor war er zum letzten Mal in der Stadt gewesen, nun schienen ihm die neuen Lichteindrücke überwältigend - insbesondere in den Geschäftsstraßen, wo raffinierte Reklameanlagen und grell erleuchtete Schaufenster um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlten.

Mehr als 7000 Lichtreklamen gab es 1932 bereits in Wien, eine rasant angestiegene Zahl, nachdem zu den punktförmig leuchtenden Glühlampen die Neonröhre hinzugekommen war, die kontinuierliche Lichtbänder in allen erdenklichen Formen und Farben ermöglichte. Vom französischen Physiker und Geschäftsmann Georges Claude erfunden, waren erste Neonreklamen ab 1910 in Paris entstanden. In den 1920er Jahren verbreiteten sie sich in die US-amerikanischen Metropolen.

Absoluter Höhepunkt war die Präsentation auf der Weltausstellung in Chicago 1933/34: Von der Eingangsfront herab rieselten die Kaskaden eines 15 Meter hohen, mit Hilfe von grünen und blauen Neonröhren imitierten Wasserfalls. Springbrunnen, von unten mit Leuchtröhren erhellt, warfen bunte Wasserfontänen in die Luft.

Die Lichtstärke der Neonröhre war groß, ohne zu blenden. Die Linien, die sie durch die Nacht zog, verhielten sich zur Glühlichtreklame, so der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch, wie ein stromlinienförmiger Rennwagen zur ersten Benzinkutsche. Klar, modern und dynamisch, verkörperte die Neonröhre die Licht-Version der Stromlinie. Euphorisch sprach man in Wien und anderen Großstädten vom "Zeitalter des Lichts", von der "Nacht ohne Finsternis" und einer "neuen Symphonie der nächtlichen Lichtstadt". Endgültig schien die Nacht besiegt, hatte die Stadt sich ihrer bemächtigt und sie in ihre Dienste gestellt.

Ganz anders sahen dies konservative Kreise der Bevölkerung, insbesondere die Anhänger der seit der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich aktiven Heimatschutzbewegung. Sie empörten sich über die zunehmende Dominanz der kommerziellen "Lichtflut", die das traditionelle Stadtbild verunstalte, die Augen überreize und ein visuelles Chaos auf den Straßen erzeuge.

Die natürliche Nacht käme in der Stadt rein gar nicht mehr zur Geltung. Sozialpsychologisch gesehen, schienen die zuckenden Lichtreklamen, wie der Feuilletonist Siegfried Kracauer diagnostizierte, wie "ein flammender Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins, ein Protest der Lebensgier", mit dem man die existenzielle Leere und Müdigkeit des modernen Großstadtbewohners verdecke. All diese Kritik wurde von den wirtschaftlichen Argumenten zurückgedrängt, wenngleich die zunehmende Verwendung von Leuchtstoffröhren immerhin zu einer deutlichen Lichtberuhigung im Straßenbild führte.

"Lichtzeitungen"

Wie sah es nun um 1930 konkret in Wien aus? Unterschiedlichste Techniken der Lichtreklame waren verbreitet. Zum einen jene großflächigen Wechselschriftreklamen, die auf dem Dach des Dianabades, auf dem Heinrichhof und dem Hapag-Haus am Opernring montiert waren. Aus bis zu 4000 Glühlampen bestehend, fungierten sie als moderne "Lichtzeitungen", die neben Reklame auch aktuelle Nachrichten verkündeten.

Zum anderen spektakuläre Neonreklamen, insbesondere in den Hauptgeschäftsadern: In der Kärntner Straße war der Namenszug des Kaufhauses Neumann mit seinen "ungewohnten Dimensionen" zu bestaunen. In der Mariahilfer Straße warb das Großkaufhaus Gerngross mit rot strahlenden Neonröhren: eine Reklameanlage von fast 12 Metern Höhe und 7 Metern Breite. Weiter stadtauswärts stach das Teppich- und Möbelhaus Schein mit sich vertikal über die ganze Hausfassade erstreckenden Leuchtbändern hervor.

Auch niederrangige Geschäftsstraßen erhielten beeindruckende Neonreklamen: In der Währinger Straße ließ die Kathreiner Malzkaffee-Fabrik ein riesiges Ziffernblatt errichten, das fünf Uhr zeigte und dazu den Slogan "Um diese Stunde trinke Kathreiner", eine Konstruktion, die durch ihre "besonders wirkungsvollen, wechselnden Lichteffekte allgemeines Aufsehen erregte". In der Meidlinger Hauptstraße stand in riesigen Lettern "ATA putzt alles!" zu lesen, in der Wiedner Hauptstraße propagierten die Städtischen Elektrizitätswerke mit einer überdimensionalen Lichtreklame "Strom für Alles im Haus". Große und phantasievolle Lichtinstallationen wurden nicht selten in den Rang von Wahrzeichen erhoben.

Neben den Warenhäusern gehörten die Kinos zu den Pionieren der Leuchtreklame. Ihre Lichtarchitektur setzte unübersehbare Akzente in der Großstadtnacht. Knapp 170 "Lichtspieltheater" zählte Wien um 1930; vor allem die neuen Großkinos mit ihren weithin sichtbaren Lichtsignalen beeindruckten, etwa das Lustspieltheater im Prater (1927), das Apollo in der Gumpendorfer Straße (1929) oder das Scala in der Favoritenstraße (1931).

Stakkato an Botschaften

Neuartige, wenngleich etwas bescheidenere Lichtimpulse gingen auch von jenen Lichtsäulen aus, die Mundwasser der Marke Odol bewarben. Aufgestellt an den Haltestellen der städtischen Straßenbahn, stellten sie eine "reizvolle Bereicherung" und "sehr wirkungsvolle Art der Straßenreklame" dar. Ergänzend zu den Säulen betrieb die Firma Odol einen Leuchtbrunnen am Graben, dessen "malerische Lichtwirkung" entzückte; er wurde später von der Firma Ovomaltine am Neuen Markt nachgeahmt.

Wenngleich die Lichtreklamen in Wien bei Weitem nicht so ausgeprägt waren wie in der Licht-Metropole Berlin, sprengten sie auch hier immer deutlicher die Decke der Nacht und nahmen an Gebäuden Stockwerk um Stockwerk in Beschlag. Diesbezüglich herausragendster Ort war die Kärntner Straße nahe der Oper, Blickrichtung Stephansplatz, wo die Vielfalt an Leuchtreklamen geradezu weltstädtisches Flair evozierte: Salamander, Phillips, Farina, Weiße Woche, Kino, Femina - ein überwältigendes Stakkato an Lichtbotschaften.

Genau diese Ansicht setzte man im März 1928 auf die Titelseite der wichtigsten heimischen Werbezeitschrift, "Österreichische Reklame". Auch die "Bühne" stellte drei Jahre später - als Blickfang und pars pro toto - ein Nachtfoto der Kärntner Straße aufs Cover. Wien konnte endlich konkurrieren mit Potsdamer Platz, Piccadilly Circus oder Times Square. Der Wiener Verleger und Reklameexperte Justinian Frisch konstatierte zufrieden: "Eine riesige Entwicklung hat die Lichtreklame in Wien durchgemacht. Einzelne Stellen der Inneren Stadt, besonders die sogenannte ‚Opernkreuzung‘, wetteifern mit dem in diesem Belange sehr fortgeschrittenen London."

"Demokratische Blitze"

Auf die Bevölkerung übten die immer raffinierteren Lichtinszenierungen eine magische Anziehungskraft aus. Die neu entfesselte Kraft des Lichts faszinierte und überzeugte. Emphatisch vermerkte ein Besucher auf einer Ansichtskarte: "Wien bei Nacht muß man gesehen haben." Und der Schriftsteller und Journalist Friedrich Oppenheimer notierte:

"Längst ist die Leuchtherrschaft öffentlicher Lampen übertrumpft. Eine andere Macht marschiert. Sendet ihre Söldner in den Kampf mit der Dunkelheit: Ihre Majestät, die Reklame. Sobald der erste Stern vom Himmel sieht, beginnt die Schicht der Scheinwerfersonnen, der Lichtkegel, der Strahlenbündel. Demokratische Blitze sind am Werk. Flammen fegen über Fahrdämme, Bürgersteige, klecksen blaue, rote, grüne, gelbe Flecke auf Antlitze, Lastwagen, Limousinen: Reklame . . .!"

Wien war dynamischer und bunter geworden, insbesondere nach 1945, als hier die eigentliche Zeit der Neonreklamen anbrach: Stadtbildbelebung im Nachkriegsgrau, farbenfroh und optimistisch. Der Weg in die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft war gesäumt von leuchtenden Glücksversprechen.

Weitere Lichtreklame-Cluster mit imposanter Fernwirkung entstanden, etwa nahe dem Westbahnhof am Beginn der Mariahilfer Straße, wo Riesenbuchstaben von Persil oder UHU die Nacht erhellten; natürlich im Prater, seit jeher ein nächtliches Licht-Vergnügungszentrum; oder jenseits der Donau am 1962 eröffneten Donauturm, 252 Meter hoch, an dessen Antenne die Logos der Zentralsparkasse und der Brauerei Schwechat prangten. Damals, wie Tom Koch herausfand, die höchsten Neonreklamen der Welt.

Die Geschichte der Wiener Leuchtreklamen verrät - als genuiner Ausdruck der Zeit - vieles über den Wandel von Sehgewohnheiten, aber auch darüber, wie unmittelbar ökonomische und technische Entwicklungen sich im Stadtbild niederschlagen.

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt "Der Klang der Großstadt. Zur Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914" (Böhlau Verlag, 2018). Er arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum Thema "Wien bei Nacht".
www.stadt-forschung.at