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Frankreichs Desaster in Vietnam: "Wir warten auf euch"

Von Rolf Steininger

Wissen
Französische Fallschirmjäger springen über Dien Bien Phu ab.
© Keystone/Getty Images

Vor 65 Jahren, am 7. Mai 1954, kapitulierten die Franzosen in Dien Bien Phu und besiegelten damit ihr Ende in Indochina.


In Dien Bien Phu, einem unscheinbaren Ort im Nordwesten Nordvietnams an der Grenze zu Laos, umgeben von Hügeln, wollte Frankreich die Entscheidungsschlacht in dem seit acht Jahren andauernden Krieg gegen die kommunistischen Vietminh führen. Oberbefehlshaber war Colonel Christian Marie Ferdinand de La Croix de Castries. Die Opera- tion "Castor" begann Ende November 1953, als die ersten 2200 Soldaten mit Fallschirmen absprangen (für die meisten war dies der erste Absprung überhaupt).

In Dien Bien Phu lieferte Nordvietnams General Giap dann sein Meisterstück - mit chinesischer Hilfe. Er brachte Artillerie in Stellung, was die Franzosen für unmöglich gehalten hatten. Auf deren Flugblättern hieß es: "Worauf wartet ihr? Warum greift ihr nicht an, wenn ihr keine Feiglinge seid? Wir warten auf euch." Am 13. März 1954 griffen sie an. Giap hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 50.000 Mann Kampftruppen herangeführt mit 23.000 Mann Hilfstruppen (dan cong) und weiteren 23.000 Soldaten, die die Hauptverbindungslinie zur chinesischen Grenze offen hielten. Die Franzosen hatten etwa 14.000 Soldaten im Tal, darunter viele Fremdenlegionäre aus Deutschland und Österreich; ein Drittel der Truppe waren Vietnamesen.

Nach schweren Kämpfen fielen die Außenposten Béatrice und Gabrielle. Dien Bien Phu beherrschte die Schlagzeilen der Weltpresse. In den USA beteten Schulkinder für den Sieg der Franzosen gegen die Atheisten. Am 20. März war der französische Generalstabschef Paul Ely in Washington und bat um Hilfe. Würden die USA eingreifen? Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Admiral Arthur Radford, war dazu bereit und wollte in der Operation "Vulture" 60 B-29-Bomber, Jagdflugzeuge der 7. US-Flotte und auch taktische Atombomben einsetzen. Nathan Twining, der Chef der Luftwaffe, stimmte zu, während der Chef der Armee, General Matthew Ridgway, anderer Meinung war. Er erinnerte an Korea.

Seiner Meinung nach brauchte man Bodentruppen, und zwar sieben Divisionen plus Atombomben und zwölf Divisionen, falls China eingreifen sollte. Das war für ihn ein "falscher Krieg am falschen Platz". US-Präsident Eisenhower wollte, wenn überhaupt, zunächst die Zustimmung des Kongresses und eine Teilnahme Großbritanniens. Nur bei einer united action mit London war er bereit, über eine Intervention nachzudenken. Die britische Regierung lehnte jedoch am 25. April 1954 ab.

Premierminister Churchill fasste die Stimmung intern so zusammen: "Es ist nicht ratsam, Truppen einzusetzen, um die Lage im Dschungel in die Hand zu bekommen. Außerdem begreife ich nicht, warum wir für Frankreich in Indochina kämpfen sollen, wenn wir selber Indien aufgegeben haben. Ich hätte mit dem größten Vergnügen für England um Indien gekämpft. Malaysia kann, denke ich, auch gehalten werden, wenn Indochina verloren geht."

Am 7. Mai 1954 kapitulierten die Franzosen. Der Kampf hatte 56 Tage gedauert. 1700 Soldaten waren tot, 1600 galten als vermisst, 4400 waren verwundet, 8000 wurden gefangen genommen - und anschließend auf einen 800 Kilometer langen Marsch in die Gefangenenlager geschickt; nur etwa die Hälfte überlebte. In Paris verkündete Ministerpräsident Joseph Laniel, schwarz gekleidet, die Nachricht in der Nationalversammlung.

Für seinen Sieg hatte Giap einen hohen Preis gezahlt: 7900 Vietminh waren tot, 15.000 verwundet. Weitgehend vergessen ist die Tatsache, das darüber hinaus Tausende dang cong, die für Nachschub an der Front gesorgt hatten, an Erschöpfung, Unterernährung, Krankheiten gestorben waren. Nach Dien Bien Phu warnte Ho Chi Minh seine Soldaten vor allzu großer Siegeszuversicht. Ihr Triumph sei "erst der Anfang. Der Weg vor uns kann lang und mühsam sein, bevor wir den endgültigen Sieg erringen". Er hielt eine Pause im Kampf für absolut notwendig, zum einen, damit sich Soldaten und Zivilisten erholen konnten, zum anderen wollte er den Amerikanern keinen Vorwand zur Intervention geben. Genau das fürchtete er nach wie vor am meisten.

Einen Tag nach der französischen Kapitulation begann die Genfer Außenministerkonferenz, um eine Lösung für Korea zu finden, wo ein Jahr zuvor ein Waffenstillstand geschlossen worden war. Das gelang zwar nicht, aber anschließend stand Indochina auf der Tagesordnung. Vertreten waren Frankreich, die Sowjetunion, China, Großbritannien, Laos, Kambodscha, Nord- und Südvietnam; die USA waren nur Beobachter. Wie die Stimmung der Amerikaner war, macht jene Episode deutlich, als sich Außenminister John Foster Dulles weigerte, seinem chinesischen Kollegen Tschu En-Lai die Hand zu geben - mit der Bemerkung, man werde wohl nur bei einem Autounfall zusammenkommen. Tschu ging es darum, den USA keinen Anlass für eine Intervention in Vietnam zu geben, die möglicherweise auch China bedrohen würde. Gegenüber einem französischen Delegierten meinte er: "Wir sind hier, um Frieden zu schließen, nicht um die Vietminh zu unterstützen."

Fragwürdige Einigung

Das wurde in den folgenden Wochen deutlich. Tschu hatte vor seiner Reise nach Genf Ho Chi Minh in China getroffen und ein Ende der Hilfe angedroht, falls er sich nicht flexibel zeigen werde. Der neue französische Ministerpräsident hieß Pierre Mendès-France, der am 17. Juni öffentlich verkündete, er werde in spätestens vier Wochen, d. h. bis zum 20. Juli, eine Regelung gefunden haben oder zurücktreten. Am 23. Juni traf er Tschu in der französischen Botschaft in Bern und einigte sich mit ihm auf drei Punkte:

1. Waffenstillstand, politische

Lösung folgt später;

2. keine weiteren Vietminh in

Laos und Kambodscha;

3. "zwei Vietnams", das hieß

die Teilung Vietnams.

Für Dulles war das alles sehr fragwürdig: "Wir wissen nicht, was da läuft; wir befürchten, dass Frankreich einer Lösung zustimmt, die dazu führt, dass Laos, Kambodscha und Südvietnam nach wenigen Monaten kommunistisch werden." Der Vertreter Nordvietnams, Pham Van Dong, forderte die Teilung Vietnams am 13. Breitengrad; das hätte zwei Drittel des Landes für die Kommunisten bedeutet. Mendès-France forderte den 18. Breitengrad. Am 12. Juli traf er erneut mit Tschu in Bern zusammen, wo dieser meinte, die zwei Parteien sollten jede ein paar Schritte aufeinander zugehen, "was nicht heißt, dass jeder gleich viele Schritte tun muss".

Der nächste Punkt betraf die Wahlen in ganz Vietnam. Pham Van Dong wollte sie nach sechs Monaten, Mendès-France nach zwölf, eventuell nach 18 Monaten. Am 20. Juli traf man sich beim sowjetischen Außenminister Molotow; an diesem Tag lief für Mendès-France das selbst gestellte Ultimatum ab. Molotow schlug den 17. Breitengrad und Wahlen nach zwei Jahren, im Juli 1956, vor. Das Schlussdokument wurde am 21. Juli unterschrieben. Zu dem Zweck hielt man die Uhren an, um Mendès-France entgegenzukommen, der dann verkünden konnte, er habe am 20. Juli eine Einigung erreicht. Für Pham Van Dong war klar: "Tschu hat uns reingelegt." Was so nicht ganz zutraf. Am 14. Juli hatten Ho, Giap und Tschu en En-lai auf einer Geheimkonferenz in Liuzhou in Südchina die Lage besprochen. Das Ergebnis war auf einer Sondersitzung des ZK der nordvietnamesischen KP vom 15. bis 17. Juli beschlossen worden.

Ho hatte argumentiert, die Annahme der Genfer Konditionen sei der einzige Weg, um eine US-Intervention zu verhindern und die langfristigen Interessen der kommunistischen Revolution zu sichern. Die entscheidende Frage blieb, ob es innerhalb von zwei Jahren in ganz Vietnam freie Wahlen geben würde. Es sollte sie nicht geben.

Frankreichs Niederlage in Dien Bien Phu war letztlich für die USA, wie Außenminister John Foster Dulles es formulierte, "Glück im Unglück" ("a blessing in disguise") gewesen. Die USA könnten in Vietnam ganz von vorne anfangen, ohne auch nur in den Geruch einer Kolonialmacht zu geraten. Von nun an ging es in Vietnam um den Kampf gegen den Kommunismus und um Demokratisierung, d. h. nation building: Am 12. August 1954 unterzeichnete Eisenhower das neue Strategiepapier NSC 5429/2 für Südostasien. Demnach sollten alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden, um weitere kommunistische Siege in der Region zu verhindern. Helfer im politischen Geschäft der Amerikaner wurde der Katholik Ngo Dienh Diem, Jahrgang 1901, eine Mischung aus Mönch und Mandarin.

USA zieht in den Sumpf

Das Genfer Abkommen sah für 300 Tage eine vollständige Bewegungsfreiheit in Vietnam vor. Diese Zeit nutzten die Amerikaner, um Nordvietnam zu destabilisieren und Südvietnam unter Diem zu stabilisieren. Die CIA betrieb unter Colonel Edward Lansdale, einem ehemaligen Werbefachmann, psychologische Kriegsführung und Sabotage in Nordvietnam. Die antikommunistischen Einheiten wurden auf der Clark Airbase auf den Philippinen geschult, die Führer der aufständischen Stämme im Norden erhielten jeder drei Millionen Dollar aus CIA-Mitteln.

Wahrsager, die bestochen worden waren, verkündeten: "Die Jungfrau Maria zieht nach Süden." Dem folgten etwa 900.000 bis eine Million Katholiken, die für den Katholiken Diem im Süden die einzige politische Stütze werden sollten. Diem führte im Herbst 1955 ein Referendum durch, bei dem sich 98,2 Prozent für ihn aussprachen; dass mehr Stimmen abgegeben worden waren, als es Wähler gab, spielte offensichtlich keine Rolle. Am 26. Oktober 1955 rief Diem die Republik Vietnam aus - mit sich als Präsident. Washington erkannte dies sofort an.

In den USA gab es inzwischen die einflussreichen American Friends of Vietnam. Ihr Motto lautete: "Ein freies Vietnam bedeutet eine bessere Garantie für die Freiheit in der Welt." Für John F. Kennedy war Südvietnam 1956 ein "Eckpfeiler der freien Welt in Südostasien". Für Dulles reichte es, dass Diem "kompetent, antikommunistisch und entschlossen" war. Unter diesen Umständen fanden die in Genf vereinbarten Wahlen 1956 nicht statt.

In den folgenden Jahren entwickelte sich Diem allerdings zu einer "Puppe, die an den eigenen Strippen zieht"; mit ihm war ein Sieg gegen die Kommunisten offensichtlich nicht zu erringen. Er wurde am 1. November 1963 gestürzt und am Tag darauf ermordet. Am 22. November 1963 fiel Präsident Kennedy einem Attentat zum Opfer. Die mit Diems Ende erhoffte politische Stabilität in Südvietnam blieb aus: In den folgenden Monaten löste in Saigon ein Militärputsch den anderen ab - bis die USA 1965 die Sache endgültig in die eigenen Hände nahmen und den Weg in den Sumpf (quagmire) Vietnam beschritten.

Rolf Steininger, geboren 1942, Em. o. Univ.-Prof., war von 1984 bis 2010 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. www.rolfsteininger.at