Zum Hauptinhalt springen

70 Jahre deutsches Grundgesetz

Von Michael Gehler

Wissen

Am 23. Mai 1949 trat jenes Gesetz in Kraft, das in der Folge zu den zwei deutschen Staaten BRD und DDR führte. Ein mühsamer Prozess.


Es ist hinter den Mauern des Reichstagsgebäudes in Berlin sicher verwahrt, 2,7 Zentimenter dick, trägt einen Einband aus Pergament, wiegt 1396 Gramm und wurde vor 70 Jahren in Bonn auf Büttenpapier mit schwarzer Schrift gedruckt. Es hat trotz 62 Änderungen und Zusätzen immer noch 146 Artikel. Es ist die Urschrift des deutschen Grundgesetzes. Öffentlich zu sehen ist sie nur, wenn Bundeskanzlerin oder Bundespräsident ihren Amtseid leisten und schwören, jenes Dokument zu wahren und verteidigen.

Das Grundgesetz ist nur vor dem spezifisch zeithistorischen Hintergrund der Bildung zweier völlig konträrer deutscher Staaten zu verstehen. Das zeichnete sich durch politische Weichenstellungen der letzten Kriegsjahre und in der ersten Nachkriegszeit ab.

Im Zeichen der Forderung der westalliierten Konferenz in Casablanca von 1943 kapitulierte die Deutsche Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 bedingungslos. Bezeichnend war die Unterfertigung von zwei Kapitulationsurkunden: in Reims gegenüber den westlichen und in Berlin-Karlshorst gegenüber den sowjetischen Militärs.

Das Ende der NS-Herrschaft ging mit militärischer Besetzung des Deutschen Reichs durch amerikanische, britische, französische und sowjetische Truppen einher. Ihre vier militärischen Oberbefehlshaber besaßen mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 und dem Alliierten Kontrollrat die höchste Gewalt in Deutschland, das damit jegliche Souveränität verlor. Entgegen der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 wurde Deutschland nicht als wirtschaftliche Einheit behandelt. Frankreich verweigerte seine Zustimmung zur Bildung deutscher Zentralbehörden.

Die USA scheiterten zunächst mit dem Vorstoß einer gemeinsamen Wirtschaftsverwaltung für die drei Westzonen. Während die Sowjets den US-Vorschlag ablehnten, stimmten die Briten zu. Am 1. Jänner 1947 folgte die Vereinigung zur amerikanisch-britischen "Bizone". Frankreich bildete erst am 8. April 1949 mit ihr die "Trizone". Der Kontrollrat verabschiedete Direktiven und Verordnungen im Sinne der fünf "Ds" von Potsdam hinsichtlich Dekartellisierung, Demilitarisierung, Demokratisierung, Denazifizierung und Dezentralisierung, wobei die Oberbefehlshaber in ihren Zonen eigenmächtig vorgingen.

Die Besatzungszonen

Hinsichtlich der Länder griffen die vier Mächte größtenteils auf historische Strukturen zurück - bis auf Preußen, das durch die Grenzen der Besatzungszonen aufgesplittert wurde. Im Juli 1945 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg gegründet. Das Office of Military Government of the United States (OMGUS) machte im September 1945 Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und im Jänner 1947 Bremen zu Ländern. Seit Mitte 1946 wurden in der britischen Zone zum Teil neue Länder mit Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg gebildet, in der französischen Zone Baden, Württemberg-Hohenzollern und Rheinland-Pfalz. Das Saarland hatte Sonderstatus und wurde in das französische Zollgebiet eingeschlossen. 1955 folgte seine Rückgliederung an die Bundesrepublik durch Volksabstimmung.

Rasch regte sich politisches Leben. Parteien waren zugelassen, die zum geringen Teil auf Personal und Organisation der Weimarer Republik aufbauten. Moskau erteilte am 10. Juni 1945 den Befehl zur Gründung "demokratischer Parteien" in der SBZ. Tags darauf rief das ZK der KPD auf, Deutschland "den Weg der Aufrichtung eines antifaschistisch-demokratischen Regimes, einer parlamentarisch demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk" zu weisen. Walter Ulbricht, kurz vor Kriegsende am 20. April als Leiter deutscher Exilkommunisten aus Moskau nach Berlin eingeflogen, war einer der Unterzeichner.

Getrennte Linke

Erschwerend wirkten die Besatzungszonen für gesamtstaatliche Parteigründungen, aber auch ideologische Gegensätze. Im Westen reorganisierte der frühere Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher die SPD. Ihr Berliner Zentralausschuss forderte unter sowjetischer Aufsicht am 15. Juni 1945 die "organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse", was Schumacher jedoch ablehnte. Auf der "Reichskonferenz" der SPD in Wennigsen bei Hannover am 5./6. Oktober 1945 folgte die organisatorische Trennung. Für Schumacher waren Kommunisten "rot lackierte Faschisten".

In der Erkenntnis, weniger Anhänger als die SPD zu haben, drängten die Kommunisten in der SBZ mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) auf eine Fusion mit der SPD, was Schumacher auch verwarf. Es folgte die teils erzwungene, teils gewollte Zusammenlegung von KPD und SPD am 21./22. April 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der SBZ. Den Vorsitz übernahmen zunächst paritätisch der Kommunist Wilhelm Pieck und der Sozialdemokrat Otto Grotewohl. 1948 wurde die SED dann straff als Kaderpartei "neuen Typus" umformiert und damit uniformiert, d.h. Moskau völlig untergeordnet. Widersetzliche Altkommunisten und Sozialdemokraten landeten im Speziallager Nr. 2 auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald. Dort waren bis 1950 rund 28.000 Oppositionelle, darunter etwa 1000 Frauen, interniert. Rund 7000 Häftlinge kamen aufgrund der unmenschlichen Verhältnisse zu Tode und wurden in Massengräbern verscharrt.

Spaltung Deutschlands

Nach den Sowjets gestatteten Amerikaner und Briten im Spätsommer 1945 die Bildung von Parteien. Die neu gegründete CDU und ihre bayerische Schwester CSU gaben sich ein überkonfessionelles Profil als Volksparteien der rechten Mitte. Den stärksten Einzugsbereich liberaler Parteien in den Westzonen gab es in Baden und Württemberg. Theodor Heuss war ihr führender Mann. Nachdem die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) in der SBZ unter SED-Einfluss kam, löste sich die 1947 gebildete gesamtdeutsche Parteiorganisation rasch auf. Die westzonalen Landesparteien fusionierten am 11. Dezember 1948 in Heppenheim an der Bergstraße zur FDP mit Heuss als Bundesvorsitzenden.

Eine Wende in der US-Deutschlandpolitik deutete sich schon durch die Rede von US-Außenminister Byrnes am 6. September 1946 in Stuttgart an, in der er für die rasche Errichtung eines nichtkommunistischen deutschen Kernstaates eintrat. Große Differenzen entstanden unter den Siegern über die deutschen Reparationskosten und die damit verbundenen Demontagen von Industrieanlagen. Amerikaner und Briten wehrten den sowjetischen Zugriff auf das Ruhrgebiet ab, der sich fortan auf die Ausbeutung der SBZ konzentrierte.

Harry S. Truman, 33. Präsident der USA.
© Archiv

US-Präsident Truman reagierte auf die kommunistische Bedrohung mit einer Politik der "Eindämmung". Die Westzonen wurden in das von US-Außenminister Marshall am 5. Juni 1947 in Harvard angekündigte "European Recovery Program" (ERP) einbezogen, zumal die Ernährungs- und Versorgungslage schlecht war.

Zeitgleich scheiterte die Münchner Ministerpräsidenten-Konferenz - die ostzonalen Vertreter kritisierten, dass bereits eine festgelegte Tagesordnung bestand und das Thema "deutsche Einheit" auf Drängen der Westmächte von der Agenda abgesetzt worden war. Bayerns Ministerpräsident Hans Ehard kommentierte die Abreise der ostdeutschen Amtskollegen so: "Dieser Vorgang bedeutet die Spaltung Deutschlands". Nicht nur die Alliierten, auch deutsche Politiker hatten sie zu verantworten.

Moskau interpretierte das ERP als Einmischung in innere Angelegenheiten, zumal es mit kapitalistischen und privatwirtschaftlichen Auflagen verbunden war. Die 1947/48 zunehmende Ost-West-Konfrontation machte eine gemeinsame Deutschlandpolitik kaum möglich. Am 20. März 1948 verließ der sowjetische Vertreter Sokolowski unter Protest den Kontrollrat angesichts der ersten Londoner Sechsmächtekonferenz vom 23. Februar bis 6. März, auf der sich die drei westlichen Besatzungsmächte mit den Benelux-Staaten auf eine gemeinsame staatliche Ordnung für ihre Besatzungszonen geeinigt hatten.

Sokolowski verließ den Sitzungssaal für immer. Der Kontrollrat war Geschichte und Berlin bereits mit der Blockade durch Stalin (1948/49) praktisch eine geteilte Stadt, während die "Vier im Jeep" im internationalen Sektor Wiens weiter gemeinsam herumfuhren.

Die nächste Londoner Sechsmächtekonferenz vom 20. April bis 1. Juni 1948 sah schließlich einen westdeutschen Staat mit "regierungsartiger Verantwortung" vor. Die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder lehnten diesen zunächst noch ab, wie auch Angebote der UdSSR und der SED, die deutsche Einheit im Sinne einer sozialistischen Volksbewegung zu forcieren. Die "Londoner Empfehlungen" wurden schließlich Basis für die "Frankfurter Dokumente", die die drei Militärgouverneure Lucius D. Clay (USA), Brian Robertson (UK) und Pierre Koenig (Frankreich) den westdeutschen Ministerpräsidenten am 1. Juli 1948 überreichten. Sie beauftragten sie damit, eine verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen.

Die Ländervertreter wollten eine "Spaltung zwischen West und Ost" vermeiden, verwahrten sich daher gegen den staatlichen Charakter des neuen Gemeinwesens und sprachen sich nur für ein Provisorium aus. In dieser Konsequenz fand auch das Wort "Verfassung" keine Zustimmung. Hamburgs Bürgermeister Max Brauer schlug dafür "Grundgesetz" vor, was mehrheitsfähig wurde. Es sollte nicht von einer gewählten Nationalversammlung, sondern von einem Parlamentarischen Rat ausgearbeitet werden.

Ihre Vorbehalte gegenüber einem Separatstaat ließen die Ministerpräsidenten erst fallen, als Clay vor den Folgen für das von Stalin eingekesselte Berlin gewarnt und dessen Regierender Bürgermeister Ernst Reuter davon gesprochen hatte, dass die deutsche Teilung bereits Realität sei.

Nach Ausarbeitung einer Grundlage für eine Art Verfassung im bayerischen Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948 im Auftrag der Ministerpräsidenten entwickelte der "Parlamentarische Rat" in Bonn unter Präsident Konrad Adenauer ein "Grundgesetz" für die "Bundesrepublik Deutschland". Am 8. Mai 1949 - vier Jahre auf den Tag genau nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht - wurde das Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen (der KPD, der DP und des Zentrums sowie sechs der acht CSU-Abgeordneten) angenommen. Unter den 65 Mitgliedern waren vier Frauen: Elisabeth Selbert, Friedrike Nadig (beide SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum), denen die Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter zu verdanken ist.

"Erlöst und vernichtet"

Am 23. Mai wurde das Grundgesetz verkündet und damit eine westdeutsche parlamentarische Demokratie begründet. Ihr erster Bundespräsident Theodor Heuss brachte "die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns" zum Ausdruck, weil "wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind". In bewusster Abgrenzung zur NS-Diktatur wurde auf die Verankerung der Grund- und Menschenrechte größter Wert gelegt.

Der Artikel 1 lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." Die Weimarer Verfassung von 1919 kannte eine solche Bestimmung nicht. In der Präambel des Grundgesetzes wurde der vorläufige Charakter des neuen Teilstaates betont: Es ist von einer "Übergangszeit" des staatlichen Lebens die Rede, welches "eine neue Ordnung" benötige, die auch für Deutsche gelten sollte, denen eine Mitwirkung versagt war: "Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."

Adenauer am Teppich

Ein Bekenntnis zur Einheit Deutschlands in einem vereinten Europa wurde abgelegt, gleichwohl Adenauers Politik der Integration und Souveränität des Weststaates den Vorrang gab. Früh zielte er auf die Revision des Besatzungsstatuts ab. Symbolisch war sein Besuch mit seiner Regierung auf dem Petersberg bei Bonn, dem Sitz der westalliierten Hohen Kommissare. Ein Teppich, auf dem sie standen, sollte Distanz zu den deutschen Vertretern signalisieren. Adenauer betrat bei der Begrüßung bewusst den Teppich, um gleiche Augenhöhe zu demonstrieren. Das war Symbolik, die Bundesrepublik war aber wie die DDR kein souveräner Staat.

Bereits am 6./7. Dezember 1947 hatte sich in Berlin der "Deutsche Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden" gegründet. Die Vertreter wurden auf Anweisung der SED aus Parteien und Massenorganisationen der SBZ gewählt. Aufgrund der westalliierten Absicht, einen westdeutschen Staat zu bilden, forderte der "Volkskongress" Maßnahmen für den Abschluss eines Friedensvertrages und die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, zusammengesetzt "aus Vertretern aller demokratischen Parteien".

Der zweite Volkskongress vom 17./18. März 1948 lehnte den Marshall-Plan ab, erkannte die Oder-Neiße-Grenze zu Polen an, beschloss ein Volksbegehren zur deutschen Einheit und wählte einen "Deutschen Volksrat". Ein Verfassungsausschuss unter Grotewohl erarbeitete einen Entwurf für eine DDR-Verfassung, die am 7. Oktober 1949 angenommen wurde. Ein zweiter deutscher Staat erhielt damit seine Grundlage.

Die Kontroverse über die Außenpolitik Deutschlands geriet rasch in den Strudel des Kalten Kriegs. Führender Exponent der Westoption war Adenauer, während Jakob Kaiser (CDU) für ein neutrales Deutschland als "Brücke" zwischen Ost und West eintrat. Adenauer konnte den Streit für sich entscheiden, zumal er die Westmächte hinter sich hatte. Auf französisches Drängen wurde am 28. April 1949 eine Kontrollbehörde für das Ruhrgebiet gebildet, der Frankreich, Großbritannien, die Benelux-Staaten und die USA angehörten. Sowjetische Ansprüche wurden abgelehnt. Die Demontagen von Industrieanlagen und Werken im Ruhrgebiet und in West-Berlin wurden eingestellt.

Teilung Europas

Mit dem Petersberg-Abkommen vom 22. November 1949 trat die Bundesrepublik der "Internationalen Ruhrbehörde" bei. Adenauer erreichte damit auch die Möglichkeit zur Aufnahme konsularischer Beziehungen zu Drittländern und den Beitritt zu internationalen Organisationen. Die Bundesrepublik erlangte damit Zustimmung für den Beitritt zum Europarat, der sich am 2. Mai 1951 vollzog, nachdem sie bisher nur assoziiert gewesen war.

Zeichnete sich die bundesdeutsche Aufnahme in westeuropäische Institutionen und Organisationen wie bei der Mitbegründung der Montanunion (1952) früh ab, entwickelte sich der östliche Teil Deutschlands allmählich in Richtung des Bündnis- und Organisationssystems der Sowjetunion. Damit war auch die Teilung Europas besiegelt. Im Westen Deutschlands bewährte sich jedoch das Grundgesetz und bildete die Basis für den Beitritt der DDR im Zeichen der deutschen Einheit 1990. Es ist auch ein Beitrag zur europäischen Werteordnung.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim (D).