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"Die Option" in Südtirol: Gehen oder bleiben?

Von Rolf Steininger

Wissen
Hitler-Besuch in Rom, Mai 1938. Der "Duce" und der "Führer" lassen sich und die "Achse" Berlin-Rom feiern.
© Archiv Rolf Steininger

Das Hitler-Mussolini-Abkommen vom 23. Juni 1939 stellte die Südtiroler vor die Alternative: Übersiedlung ins Deutsche Reich – oder rigorose Italianisierung.


Seit 1923 betrieben die Faschisten eine rigorose Italianisierungs- und Majorisierungspolitik in Südtirol: die deutsche Sprache wurde verboten, deutsche Schulen geschlossen und Italiener aus dem Süden angesiedelt. Dies führte dazu, dass für die Südtiroler ihre Heimat zunehmend "unwirtlich" wurde. Viele hofften damals auf Hilfe von Deutschland, erst recht und immer mehr seit 1933, fasziniert von dem, was Hitler unter dem Motto "Ein Volk - ein Reich - ein Führer" scheinbar Großes vollbrachte.

Nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 schien es nur eine Frage der Zeit, bis der "Führer" auch Südtirol "heim ins Reich" holen würde. So wie die illegalen Nazis in Österreich triumphierten, hofften die illegalen Nazis in Südtirol, die sich im "Völkischen Kampfring Südtirols" (VKS) organisiert hatten, auch selbst bald zu triumphieren.

Die Ernüchterung war umso schmerzhafter. Sie kam für etliche am 7. Mai 1938 mit Hitlers Rede in Rom, in der er erneut klarmachte, dass es sein "unerschütterlicher Wille und sein Vermächtnis an das deutsche Volk" sei, die "von der Natur aufgerichtete Alpengrenze für immer als eine unantastbare anzusehen". Ein führender Vertreter des VKS, Norbert Mumelter, erlebte die Rede Hitlers mit. Sein Tagebucheintrag zeigt, wohin die Reise des VKS gehen würde: Das "Vermächtnis des Führers" schmetterte ihn zunächst "geistig zu Boden", doch dann fasste er sich und schrieb am nächsten Tag, was für ihn der "Endsinn" war: "Für Großdeutschlands muss man selbst seine Heimat opfern können."

Geopfertes Deutschtum

Konkret wurde das am 23. Juni 1939, als in Berlin das sogenannte "Hitler-Mussolini-Abkommen" unterzeichnet wurde, mit dem das Schicksal Südtirols radikal und endgültig besiegelt werden sollte. Für das Bündnis mit Italien sollte das Deutschtum in Südtirol geopfert werden. Nach zwei Stunden waren sich Deutsche und Italiener grundsätzlich einig über eine Umsiedlung der Südtiroler. "Volkliche Flurbereinigung" hieß das im NS-Jargon, heute würde man es wohl "ethnische Säuberung" nennen.

Federführend bei der ganzen Aktion war bezeichnenderweise "Reichsführer SS" Heinrich Himmler, der im Oktober 1939 von Hitler zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" ernannt wurde.

Täglich verlassen Umsiedlerzüge die SüdtirolerBahnhöfe. Am Ende sind es etwa 75.000 Südtiroler, die ihr Land verlassen.
© Archiv Rolf Steininger

Die Südtiroler wurden vor die Wahl gestellt, entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft zu optieren, was Aussiedlung aus der angestammten Heimat bedeutete, oder für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft - mit der Drohung, dann keinerlei Schutz mehr für sich in Anspruch nehmen zu können. Die bittere Alternative lautete: entweder durch Dableiben dem Volkstum oder durch Gehen der Heimat untreu werden, entweder in der zunehmend "welschen" Heimat bleiben, unter dem Damoklesschwert, "südlich des Po" angesiedelt zu werden - entsprechend der in Berlin entwickelten "Sizilianischen Legende" - oder ins Deutsche Reich bzw. in von Deutschland erobertes Gebiet übersiedeln. Die Heimat würden sie in jedem Fall verlieren.

Bis zum 23. Juni 1939 war das Thema Umsiedlung primär eine deutsch-italienische Angelegenheit - danach wurde es auch eine Südtiroler Angelegenheit und hier zu allererst eine Angelegenheit des VKS.

Von nun an rollte eine gigantische Propagandawelle über das Land. Himmlers Zusage an die VKS-Führung, die Südtiroler in einem Gebiet ihrer Wahl geschlossen anzusiedeln und die gleichzeitige Drohung mit der Zwangsumsiedlung in den Süden Italiens, wenn man nicht für Deutschland stimmen würde, waren die Hauptargumente bei der Entscheidung für Deutschland. Von nun an gab es in Südtirol "Geher", das heißt Optanten, und "Dableiber".

Deutsch oder walsch! Zusammenbleiben und gemeinsam eine neue Heimat aufbauen! Das waren griffige und erfolgreiche Formeln. Dieser Propaganda konnten sich auch diejenigen nicht entziehen, die bis dahin der Politik gegenüber eine eher indifferente Haltung eingenommen hatten. Die Flut von Flugblättern, Hetzschriften und Kettenbriefen drang bis ins kleinste Bergbauerndorf und zielte vor allem auf die Verfemung und Denunziation von "Dableibern".

Wo die Propaganda ihre Wirkung verfehlte, griffen die Nazis zum Terror. Die wohl hervorragendste Persönlichkeit Südtirols damals, Kanonikus Michael Gamper, kämpfte im wahrsten Sinne des Wortes unter Einsatz seines Lebens fürs Dableiben. Man hätte ihn am liebsten gesteinigt. Das übelste Kapitel in der Geschichte Südtirols wurde jetzt von den Südtirolern selbst geschrieben! Erst dieser Umstand erklärt, warum die tiefen Wunden, die damals geschlagen wurden, in den Jahren nach 1945 nur schwer verheilten und immer wieder aufbrachen.

In Innsbruck kommen im Jahre 1940 an manchenTagen bis zu 800 "Rückwanderer" an. Begrüßungstafel am Bahnhof.
© Archiv Rolf Steininger

Wenn man heute liest, wie die VKS-Führung die Dinge damals beschrieb, bekommt man einen Eindruck davon, wohin politischer Fanatismus führen kann. Karl Nicolussi sprach von einer positiven "Abstimmungs-Psychose", von "Musterdörfern", wo man zur "geschlossenen Meldung" übergegangen sei: Die Stimmabgabe habe sich zu einer "Volkskundgebung" gestaltet; die Leute seien "freudig gestimmt" und hätten sich "z. B. in Gossensass auch nicht durch den Pfarrer abhalten lassen, der sich dem Zug der Abstimmenden auf der Straße zwischen Gossensass u. Sterzing entgegengestellt hat".

Nicolussis Brief an VKS-Führer Peter Hofer endet wie folgt: "Ich bin auf unser Volk noch nie so stolz gewesen wie an diesen letzten zwei Tagen, wo ich Gelegenheit hatte, seine höchsten nationalen Werte zu bewundern. Nach Jahren voll unzähliger Enttäuschungen
[. . .] entschließt sich ein ganzes Volk, Hab und Gut, vor allem seine Heimat zu verlassen, nur im Glauben und Vertrauen an Deutschland und an den Führer; bei Gott, solche Deutsche hat der Führer noch nirgends gefunden. Was dabei aber unsere Bewegung getan hat, werden Außenstehende nie erfassen können."

Propagandalawine

Die Mehrheit der Südtiroler war angesichts der Propagandalawine, die über sie hinwegrollte, zutiefst verunsichert, zumal auch die Kirche gespalten war: der Klerus war gegen, der Brixner Fürstbischof Johannes Geisler für die Option. Der Klerus wies auf die Kirchenverfolgung und die Euthanasie in Deutschland hin - und wurde in dem Punkt von seinem Bischof der Zensur unterworfen.

Geisler kam aus Nordtirol, er war ein liebenswürdiger, sehr menschlicher, aber auch ein sehr schwacher Kirchenfürst, der im entscheidenden Moment versagte. Er schwankte anfangs zwischen Zustimmung und Ablehnung, änderte dann aber seine Haltung und stimmte für die Umsiedlung, als er mehr und mehr unter den Einfluss seines Generalvikars Alois Pompanin geriet. Pompanin war Ladiner, ein fanatischer Befürworter der Umsiedlung ins Reich und glühender Bewunderer Hitlers.

Am 25. Juni 1940 (für die Kirche war die Optionsfrist bis zum 30. Juni 1940 verlängert worden) optierte Geisler mit dem Argument: "Der gute Hirt folgt seiner Herde." Geislers Entscheidung war genau das, worauf die Nazis gewartet hatten, und wurde von ihnen propagandistisch entsprechend ausgeschlachtet (auch wenn es auf das Optionsergebnis natürlich keinen Einfluss mehr hatte). Der Klerus entschloss sich dagegen mehrheitlich für den Verbleib in der Heimat; nur rund 20 Prozent entschieden sich dafür, dem Bischof zu folgen; im deutschen Anteil der Diözese Trient waren es sogar nur zehn Prozent.

Von den etwa 230.000 Südtirolern stimmten am Ende rund 86 Prozent für Deutschland, 75.000 verließen tatsächlich ihre Heimat in Richtung Norden; es waren jene, die am wenigsten zu verlieren hatten, hauptsächlich Besitzlose und Arbeiter. Sie wurden in Österreich, Böhmen, Westfalen und Luxemburg angesiedelt. Ab 1941 geriet die Umsiedlung ins Stocken. Ein Grund war das fehlende Siedlungsgebiet.

Im Frühjahr 1940 waren Gerüchte über eine eventuelle Ansiedlung in Elsass-Lothringen aufgetaucht; im Juni 1940, nach Beendigung des Frankreich-Feldzuges, legte Himmler Burgund als neues Siedlungsgebiet fest. Die Städte sollten dort einfach in Bozen, Meran, Brixen, Bruneck etc. umbenannt werden. Die VKS-Führung stimmte zu, aber Hitler hatte andere Vorstellungen: Nach dem Waffenstillstand in Frankreich lag Burgund im Wirkungsbereich der Vichy-Regierung.

Schließlich wurde eine Ansiedlung auf der Halbinsel Krim erwähnt. Die Südtiroler sollten dort einen neuen "Reichsgau Thaurien" bilden und damit einen, wie es hieß, "einzigartigen Beweis für die Rassentheorie" des Nationalsozialismus liefern. Bemerkenswert bei allen Diskussionen über das "geschlossene Siedlungsgebiet" ist, dass sich die Südtiroler Naziführer keine Gedanken darüber machten, dass, wo auch immer dieses Gebiet sein würde, dessen Bewohner zuerst einmal vertrieben werden mussten.

Betrogene Umsiedler

Das fehlende Siedlungsgebiet war aber nicht der einzige Grund für die Verzögerung der Umsiedlung. Die anfängliche Begeisterung war schnell Ernüchterung gewichen. Die ersten Umsiedler waren am obligaten ersten Aufnahme- und Durchgangsort Innsbruck noch mit Marschmusik und zündenden Reden empfangen worden.

Das änderte sich im Laufe des Krieges sehr schnell. Von den großen Versprechungen blieb nicht viel übrig. Die Umsiedler wurden in Notunterkünften untergebracht und mussten eine Arbeit annehmen, die oft ihren Gewohnheiten widerstrebte. Hinzu kam, dass seit Ende 1941 der ranghöchste Vertreter der deutschen Umsiedlungsbehörde in Bozen, Ludwig Mayr-Falkenberg, alles andere als ein linientreuer Parteigenosse war und alles tat, um die Umsiedlung zu verzögern. Und die "Sizilianische Legende" entpuppte sich als perfide Propaganda: kein "Dableiber" wurde nach Sizilien zwangsumgesiedelt.

Die Option gehört zu den leidvollsten Kapiteln in der Geschichte der Südtiroler. Jede Familie war betroffen. Es ging um Südtirols Lebensfragen: Erhalt und Verlust von Heimat, Einheit und Spaltung der Volksgruppe. Jahrzehntelang waren diese Fragen Tabuthemen in Südtirol. Die Emotionen wirkten lange nach.

Von den 75.000, die das Land verlassen hatten, kehrten nach 1945 nur etwa 20.000 zurück. Ein weit größeres Problem war, dass jene Südtiroler, die für Deutschland gestimmt, aber das Land nicht verlassen hatten (etwa 130.000), ihre italienische Staatsbürgerschaft verloren, aber die deutsche noch nicht erhalten hatten. Sie waren damit staatenlose, rechtlose DPs - displaced persons - geworden. Im September 1946 unterzeichneten der österreichische Außenminister Karl Gruber und Italiens Alcide De Gasperi in Paris das nach ihnen benannte Abkommen. Darin wurde das Hitler-Mussolini-Abkommen zwar für null und nichtig erklärt, dennoch war es ein mühsamer, Jahre dauernder Prozess, bis der italienische Staat den Optanten die italienische Staatsbürgerschaft zurückgab.

Literaturhinweis:
Rolf Steininger: Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Haymon tb, Innsbruck/ Wien 2014, 295 S., 13,95 Euro.

Rolf Steininger, geboren 1942, Em. o. Univ.- Prof., war von 1984 bis 2010 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. www.rolfsteininger.at