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Joseph Goldmark: Doktor der Deeskalation

Von Brigitte Biwald

Wissen

Zum 200. Geburtstag des jüdischen Arztes und Chemikers, einem Revolutionär von 1848, der stets nach gewaltfreien Lösungen suchte.


Joseph Goldmark, Lithographie von Eduard Kaiser, 1848.
© Abb.: Archiv

Der jüdische Mediziner und Chemiker Joseph Goldmark war einer der engagiertesten Revolu-tionäre von 1848 und Abgeordneter des konstituierenden Reichstags. Er war stets auf der Suche nach einer konfliktfreien, gewaltlosen Lösung. Dennoch wurde ihm großes Unrecht zugefügt.

Joseph Goldmark gehörte 1848 zu jenen jüdischen Medizinern, die in führender Position für eine politische und soziale Erneuerung der Gesellschaft eintraten und damit ihre berufliche Existenz gefährdeten. Sie arbeiteten in allen Körperschaften, die die Revolu-
tion als neue Machtzentren hervorbrachte. Wie die Medizinhistorikerin Katherine Kogler in ihrer ausgezeichneten Quellenstudie über die "Beteiligung von Medizinern an der Revolution von 1848 in Wien" belegt, lebten viele Ärzte, vor allem junge Juden aus Böhmen, Mähren, Ungarn oder Gali-zien, in ärmlichen Verhältnissen.

Joseph Goldmark wurde als Sohn eines Kantors am 15. August 1819 im damals ungarischen Keresztur (ab 1924 Cherestur, Rumänien) geboren. Seine Familie zog 1834, als er 15 Jahre alt war, nach Deutschkreutz im heutigen Burgenland, das damals zum ungarischen Teil der Habsburger Monarchie gehörte. Josephs Halbbruder Carl (1830-1915) zog 1848 im Alter von 14 Jahren nach Wien und arbeitete viele Jahre als Geiger im Orchester des Carltheaters. Mit 28 Jahren gab Carl Goldmark sein erstes Konzert mit eigenen Werken. Geschätzt von Gustav Mahler und Johannes Brahms, wird er bis heute vor allem von der ungarischen Musikwelt mit Aufmerksamkeit bedacht.

Sekundararzt am AKH

Sein elf Jahre ältere Bruder Joseph studierte in Wien unter schwierigen Bedingungen Medizin und Chemie und hielt sich als Hauslehrer über Wasser. Im August 1847, kurz nach seinem 29. Geburtstag, promovierte er zum Doktor der Medizin. Er wurde Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhaus, arbeitete als Internist in der Abteilung für Hautkrankheiten, die Primarius Hebra (1816-1880) leitete.

Goldmark, der wenig verdiente, wohnte zunächst mit seinem befreundeten Kollegen, dem jüdischen Sekundararzt Adolf Fischhof (1816-1893), in einer kleinen, dürftig eingerichteten Kammer des Allgemeinen Krankenhauses. Wien zählte 1848 mit rund 450.000 Einwohnern zur viertgrößten Stadt Europas. Im Allgemeinen Krankenhaus mussten über 2000 Patienten versorgt werden. Die zeitweise über einhundert Krankensäle waren je nach Größe mit bis zu 45 Betten vollgefüllt.

Goldmark und Fischhof bildeten sich in der Nacht durch Lesen politischer, historischer und staatswissenschaftlicher Lektüre weiter. Am 13. März 1848 hielt Fischhof vor dem Landhaus der Niederösterreichischen Stände eine erste öffentliche Rede und forderte die Aufhebung der Zensur, Gewährung der "Preßfreiheit" und eine "Constitution". Joseph Goldmark ging anschließend mit der drängenden Menge, die lauthals den Rücktritt von Staatskanzler Metternich forderte, in den Sitzungssaal des Landhauses, um eine Petition an Kaiser Ferdinand I. zu erzwingen.

Da randaliert wurde, zog sich die Ständedeputation zurück. Trotzdem kam es zur Zertrümmerung des Sitzungssaales. Daraufhin rückte das Militär an. Als jedoch ein Offizier von einem Möbelstück getroffen worden war, erfolgte der Schießbefehl. Verletzte und fünf Tote waren zu beklagen.

Nach einer Analyse des dramatischen Tages entschied man sich im Studenten-Komitee unter dem Vorsitz von Goldmark für Maßnahmen zur Deeskalation. Dazu gehörte auch die Bewaffnung der studierenden Jugend und zwar mit Bewilligung des Kaisers. Bereits am 14. März wurden die Jungrevolutionäre, unterteilt nach Fakultätszugehörigkeit, aufgerüstet. Jeder Student musste geloben, die Waffen einzig zur Wiederherstellung der Ordnung zu verwenden. Heute würde man von einer Bürgerwehr sprechen.

Damit war die Akademische Legion mit 4665 Legionären (davon 1710 Mediziner) als Unterabteilung der Nationalgarde (42.354 Mann) geschaffen worden. Sie wurde auch gleich eingesetzt, denn die Stadt war in Aufruhr. Vor allem in den Vorstädten zerstörten wütende Arbeiter öffentliche Gebäude und Fabriken. Mit Hilfe der Nationalgarde und der Akademischen Legion, die mit dem Waffengebrauch wenig vertraut war, bekam man die Situation halbwegs in den Griff. Zur Verhinderung weiterer Ausschreitungen ließ Kaiser Ferdinand I. am 14. März die Aufhebung der Zensur verkünden. Am 15. März wurde eine Verfassung versprochen.

Im sogenannten Studentenkomitee, dem Goldmark vorsaß und das als Beratungskörper der Akademischen Legion fungierte, saßen viele Mediziner. Sehr schnell mutierte dieses Komitee zum "Ohr und Sprachrohr" der Bevölkerung. Differenzen blieben auch innerhalb der inhomogenen Studentenschaft nicht aus. Gleich nach Einsetzung des Studentenkomitees kam es zu Streitereien.

Die "Wiener Zeitung" berichtete am 29. März 1848, dass Goldmark bei einer Versammlung in der Klinik wegen dem ". . . unwürdigen Verhalten der untern Volksstände gegen seine Glaubensgenossen. . ." seine bisherigen Ämter niederlegen wollte, doch konnten ihn die anwesenden Mediziner davon abhalten. Ende Mai kam es zu einer ersten offenen politischen Auseinandersetzung innerhalb des Studentenkomitees zwischen Goldmark als Präsidenten und Eduard Neusser, einem Studenten der Rechte, die zugunsten Neussers endete.

Die Akademische Legion als integrierender Bestandteil der Nationalgarde bestand aus fünf Corps. Das von Adolf Fischhof kommandierte Mediziner-Corps war die stärkste Gruppe innerhalb der Legion und setzte sich aus zehn Kompagnien mit insgesamt 1411 Mann zusammen. Joseph Goldmark war Hauptmann der 3. Kompagnie. Diese war insgesamt 134 Mann stark, darunter 61 Akademiker.

Goldmarks und Fischhofs Engagement in den Revolutionsgre-mien wurde Ende Mai durch antisemitische Hetze in Zeitungsartikeln, Flugblättern und Plakaten gestört. Dabei galten die durch die Märzrevolution gewährten bürgerlichen Freiheiten ebenso für jüdische Bürgerinnen und Bürger, auch wenn deren faktische Realisierung noch bis 1867, dem Jahr der Erlangung des Staatsgrundgesetzes, dauerte.

"Sicherheitsausschuss"

Am 5. Mai schlossen sich rund 200 Delegierte der Nationalgarde und der Akademischen Legion "Zum politischen Zentralkomitée der gesamten Nationalgarden Wiens" zusammen. Aufgabe war die Vertretung der Interessen der Wiener Bevölkerung. Mit dabei waren wieder Goldmark und Fischhof, die neben ihrem anstrengenden Spitalsdienst kaum noch zur Ruhe kamen.

Als am 13. Mai bekannt wurde, dass der Oberkommandant der Nationalgarde, Hoyos, in Kooperation mit Innenminister Pillersdorf die Auflösung des Zentralkomitees plante, kam es am 15. Mai zu massiven Ausschreitungen. Goldmark informierte daher die über 2000 versammelten Zuhörer und Zuhörerinnen vor der Universität (heute Dr.-Ignaz-Seipel-Platz) in ruhigen Worten von der Situation und suchte nach einer konfliktfreien, gewaltlosen Lösung. Es gelang ihm, die versammelte Menge von einem bewaffneten Aufmarsch abzuhalten, indem er die Abfassung einer Petition vorschlug. Die sogenannte "Sturm-petition" führte zu schweren Krawallen und Kämpfen in der Stadt.

Zehn Tage später folgte die nächste Aufregung: Als am 25. Mai 1848 ein kaiserliches Dekret die Schließung der Universität und die Auflösung der Akademischen Legion anordnete, konnten Goldmark und Fischhof die Rücknahme des Auflösungsbefehles bewirken. Beinahe wäre die Situation außer Kontrolle geraten: Arbeiterinnen und Arbeiter hatten, mit Schaufeln bewaffnet, Barrikaden errichtet, um die Studenten vor den Angriffen des Militärs zu schützen. Als aber der umsichtige Joseph Goldmark den Abbau der Barrikaden forderte, bekam er, wie die Medizinhistorikerin Kogler belegt, "körperlich den Hass des Volkes zu spüren".

Zudem ließ das revolutionäre Klima die Verbrechensrate ansteigen. Im Mai zog sich daher das Bürgertum verschreckt von der Revolution zurück. Am 27. Mai genehmigte der Ministerrat zur Beruhigung der Lage den sogenannten "Sicherheitsausschuss", dem auch Goldmark und Fischhof angehörten.

Wie sich im Laufe des Sommers 1848 aber zeigte, war dieser Ausschuss überlastet, da er auch in aktuelle politische, soziale und arbeitsrechtliche Fragen eingriff. Letztere eskalierten im Verlauf der Revolution und mündeten in die tragischen Arbeiterunruhen mit 22 Toten im Prater am 23. August 1848. Danach löste sich der Sicherheitsausschuss auf.

Mi der Einsetzung des österreichischen Reichstags am 22. Juli 1848 in der Winterreitschule der Wiener Hofburg verließen Goldmark und Fischhof und weitere Mitstreiter den Sicherheitsausschuss. Goldmark wohnte nun zusammen mit Fischhof in den Tuchlauben, wo sich beide mit anderen Reichstagsabgeordneten über ein gemeinsames Vorgehen berieten.

Fatale Anklage

Im Sommer und Herbst 1848 spitzte sich die Lage neuerlich zu, es kam zu Straßenkämpfen mit Verletzten und Toten. Im Oktober fanden bewaffnete Auseinandersetzungen auch im Stephansdom statt. Am 6. Oktober 1948 versuchten Goldmark und Fischhof den 68-jährigen Kriegsminister Theodor Graf Baillet de Latour vor dem aufgebrachten Mob zu schützen.

Goldmark schilderte den genauen Hergang der Ermordung des Kriegsministers bei seiner Einvernahme am 14. November 1848: ". . . über unsere Köpfe hin griff ihn das Volk, trotz unserer flehentlichen Bitten und unseres Geschreies um Hülfe mit Hacken, Spießen, Hämmern, u. dgl. an.
(. . .) Ich wurde an den Haaren zurückgerissen und so aus der Nähe des Grafen verdrängt." Dennoch fand sich in den Berichten der Geheimpolizei der ungeheuerliche Vorwurf: ". . . wegen Hochverrates und Mord an Latour in Abwesenheit 1856 zum Tode verurteilt und steckbrieflich verfolgt . . ."

Nach Auflösung des nach Kremsier (Kroměříž, Tschechien) verlegten Reichstages am 7. März 1849 floh Joseph Goldmark zunächst nach Paris und dann nach Nordamerika. Dort baute er sich ein neues Leben auf und lebte von seiner gutgehenden Zündholz-Fabrik. Schon als Student hatte er bei chemischen Versuchen den roten Phosphor entdeckt.

Mit dem Verdacht, er wäre am Mord des Kriegsministers Latour beteiligt gewesen, blieb Joseph Goldmark fast zwanzig Jahre belastet. In dieser Zeit, zwischen 1857 und 1874, bekam er mit seiner wesentlich jüngeren Frau Regina (1835-1924) fünf Töchter und drei Söhne, die alle das Erwachsenenalter erreichten. Im Jahr 1868 rollte Joseph Goldmark mit Hilfe seines Rechtsanwaltes Hermann Knepler den Prozess in Wien neu auf und erzielte einen Freispruch. Daraufhin kehrte Goldmark in die USA zurück und starb am 18. April 1881 im Alter von 61 Jahren in New York.

Literatur:
Katherine E. Kogler: ". . . die Heilärzte des kranken Staates." Die Beteiligung von Medizinern an der Revolution 1848 in Wien. Verlagshaus der Ärzte, Wien 2012.

Brigitte Biwald, Historikerin, lebt in Perchtoldsdorf. Publikationen zu medizin- und militärhistorischen Themen.