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Jenseits von Saint Germain

Von Michael Gehler

Wissen
Im Steinzeitsaal des Musée des Antiquités nationales in Saint Germain-en-Laye musste Staatskanzler Dr. Karl Renner am 10. September 1919 stehend den Friedensvertrag unterschreiben.
© Gerhard Stadler

Die Pariser Vororteverträge und ihre Folgen im europäischen und globalen Kontext.


Die viereinhalb Jahre Kampfmaßnahmen während des Ersten Weltkriegs bedeuteten eine neue Dimension in der Geschichte der Gewalterfahrung und Gewaltverdichtung der Moderne. Rund 40 Prozent der Kriegstoten waren Zivilisten. Das war eine Opferzahl in weit kürzerem Zeitausmaß als im Europa des Dreißigjährigen Krieges. Von 65 Millionen mobilisierten Soldaten waren 9,6 Millionen gefallen. Die neu entstandenen Staaten hatten für Millionen von Witwen, Waisen und Kriegsversehrten zu sorgen. Zu den Millionen Kriegstoten kamen von Frühjahr 1918 bis März 1920 die vielen Opfer der sogenannten Spanischen Grippe. Sie forderte mehr Opfer als der Krieg selbst.

Die Kriterien und Maßstäbe von Recht und Unrecht hatten sich durch den Krieg völlig verschoben, was sich in der Regelung der sogenannten Friedensverträge von 1919/20 und der Nachkriegsstruktur Europas manifestierte, die Arnold Suppan bezogen auf St. Germain und Trianon die "imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas" nennt. Sowohl US-Präsident Wilson als auch der britische Premier Lloyd George waren für Verhandlungen mit dem ehemaligen Kriegsverbündeten Russland, das sich allerdings mitten in einem verheerenden Bürgerkrieg befand. Frankreichs Premier Clemenceau und der italienische Außenminister Sonnino widersprachen jedoch und verhinderten es. Als "Kompromiss" wurde Russland nur zu Verhandlungen auf die Prinzeninseln im Marmara-meer eingeladen, aber es lehnte ab. Damit war eine Vorentscheidung getroffen worden und der Osten Europas praktisch vom Frieden ausgeschlossen.

Der Friede als Diktat

Es sollte 1919/20 keine gesamteuropäische Friedenskonzeption geben. Mit den Verliererstaaten fanden keine Verhandlungen statt. Sie mussten die ihnen auferlegten Bedingungen unterzeichnen. Das traf in Versailles für das Deutsche Reich am 28. Juni 1919, in Saint Germain-en-Laye am 10. September 1919 für Österreich, in Neuilly-sur-Seine am 27. November 1919 für Bulgarien und in Trianon für Ungarn am 4. Juni 1920 zu. Alle öffentlichen Proteste halfen nichts. Es waren Diktate zur Friedenserzwingung. Frankreichs Marshall Ferdinand Foch nannte Versailles "einen Waffenstillstand auf 20 Jahre". Der "Krieg in den Köpfen" (Gerd Krumeich) ging weiter.

Die alten imperialen Ordnungen waren zerfallen. Zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion einerseits und Italien mit dem Schwarzen Meer andererseits entstanden insgesamt 13 neue Staaten: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Österreich, Jugoslawien, das vergrößerte Rumänien, Albanien und die Türkei sowie vorübergehend auch die Ukraine. Die von Frankreich vorgeschlagenen Donauföderationspläne blieben, zumal sowohl das Vereinigte Königreich als auch die USA kein Interesse daran hatten, geschweige denn diese zu unterstützen bereit waren.

Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich vom 21. Juli 1920: Verkündung des Vertrages von Saint-Germain-en-Laye.
© Abb.: Archiv

London und Washington betrieben - im Unterschied zu Paris - keine spezifische Nachkriegspolitik für Mittel- und Osteuropa. Statt die wirtschaftliche Integration des Kontinents mit einer europäischen Freihandelszone zu fördern, zog man auf den Karten Europas neue Grenzen. Über 10.000 Kilometer Handelsbarrieren waren im Zeichen der Neuvermessung der Alten Welt im Sinne von Zollschranken entstanden, die wirtschaftliche Abschottung und neue politische Konfliktpotentiale und Minderheitenprobleme erzeugten.

Die Konstituierung des Völkerbundes am 10. Jänner 1920 bedeutete zwar noch keinen Durchbruch, aber einen Fortschritt hinsichtlich internationaler Zusammenarbeit. Die Satzung sah allerdings keinen Gewaltverzicht wie die spätere UN-Charta und nur ein relatives Kriegsverbot vor. Erschwerend hinzu kam das Fernbleiben von einer vertragsrechtlichen Zusicherung seitens der USA, deren Kongress die Pariser Friedensverträge nicht ratifizierte.

Führendes Frankreich

Die USA hatten den Ersten Weltkrieg entschieden, aber den Frieden verloren. Der europäischen Nachkriegsordnung blieb die Zustimmung der wesentlichsten westlichen Siegermacht versagt - welch Unterschied zur Zeit nach 1945, als die USA die Gründung der UNO förderten und so auch hinter dem Konzept der westeuropäischen Integration standen.

Mit den Pariser Vororte-Verträgen wurde Frankreich die führende Macht auf dem Kontinent. Es instrumentalisierte den Völkerbund für seine deutschlandpolitischen Interessen, was der Akzeptanz der Genfer Organisation nicht zuträglich war. Ihr sinkendes Ansehen fand Ausdruck in fluktuierenden Mitgliederbewegungen sowie zahlreichen Austritten (Deutschland 1933, Japan 1933, Italien 1937 und die UdSSR, die 1939 ausgeschlossen wurde). Nach Jahren der Etablierung und erster Achtungserfolge (1924-1931), v.a. in der Flüchtlingshilfe, folgte eine Phase nicht mehr zu bewältigender Konflikte (1931-1939), die angesichts des Zusammenbruchs der internationalen Staatenordnung zum Schattendasein und zur Selbstauflösung des Völkerbundes führte.

USA und Russland

Als Katalysator des globalen Vernichtungspotentials brachte der Erste Weltkrieg die Gewalt der Kolonisatoren aus den Kolonien in die Städte und Regionen der Mutterländer zurück, wo sie sich bündelte und entlud. Nun waren es Nachfahren ehemals Kolonisierter aus Überseegebieten, Asiaten und Afrikaner als Besatzungssoldaten, als Hafen- und Textilarbeiter und Beschäftigte in vergleichbaren Niedriglohnbereichen, die das gesellschaftliche Bild der Städte veränderten.

Panafrikanisten führten ab 1919 in den europäischen Metropolen erste Kongresse durch, an denen Repräsentanten aus den britischen Kolonien Westafrikas, der Karibik und den USA teilnahmen. Der Panafrikanismus wirkte stimulierend auf die sich bildenden nationalistischen Bewegungen Afrikas. Der Prozess der Dekolonisation nahm mit dem allmählichen Rückzug der europäischen Kolonialmächte Fahrt auf, was durch den Zweiten Weltkrieg mit der weiteren Schwächung der Staaten Europas beschleunigt wurde.

Die Beteiligung am Ersten Weltkrieg und der alliierte Sieg 1918 ermöglichten den politischen Aufstieg der USA zur Weltmacht und den Durchbruch des amerikanischen Imperialismus, dem durch eine kurzfristige kriegsproduktionsbedingte Konjunktur und mit dem Friedensschluss eine Depression mit einer zwölfprozentigen Arbeitslosigkeit folgte. Die Krise war ab dem Zeitpunkt erkennbar, als Märkte für expansiven Absatz fehlten. Gedrängt von ihren Bürgern in der Tradition privater Eigeninitiative und ökonomischer Selbstständigkeit, gelang der US-Industrie in den 1920er Jahren der Übergang von einer quantitativen zu einer qualitativen Expansion.

Die Industrie erreichte ein neues Niveau der Fertigung großer Mengen von Waren - Produktion am laufenden Band, symbolisiert durch den Namen Henry Ford. Doch auch diese neue qualitative Expansion stieß nach einer beispiellosen, aber kurzen Konjunktur an eine innere Grenze. Es gab keinen Absatz mehr. So wurden die USA mit dem Zusammenbruch der New Yorker Stock Exchange auch Ausgangsland der Weltwirtschaftskrise nach dem sogenannten Schwarzen Freitag, dem 24. Oktober 1929.

Weder war der Oktober 1917 das Signal zur Weltrevolution, noch gelang es den kapitalistischen Weltmächten durch ihren Interventionskrieg 1918-1920 gegen die Bolschewiki und Trotzkis Rote Armee, die "konterrevolutionären" Kräfte hinreichend zu unterstützen und die kommunistische Revolution rückgängig zu machen. Am Scheitern der westlichen Militärintervention wurde deutlich, dass Russland bei aller wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Westen nicht bloß eine östliche Peripheriemacht, sondern eine politische Großmacht war. In dieser Rolle wurden den Nationalbewegungen an der Westgrenze zwar Konzessionen gemacht, der Kern des russischen Potentials blieb jedoch in der Hand der Bolschewiki.

Der russische Bürgerkrieg war mit aller Härte gegen die Zivilbevölkerung geführt worden. Kannibalismus und Verwüstungen prägten das Bild. Dieser von innen und außen geführte Krieg hatte mehreren Millionen Menschen das Leben gekostet. Das Eingreifen der Entente und anderer Mächte trug noch maßgeblich zur Verschärfung und Verlängerung des Bürgerkriegs 1918-20 bei: Amerikanische, finnische, französische, italienische, japanische, polnische, serbische sowie tschechische Einheiten hatten im Kampf gegen die Bolschewiki interveniert und vergeblich auf der Seite der zarentreuen "Weißen" gekämpft.

Der Sieg der revolutionären "Roten" und das Ausbleiben bzw. Scheitern sozialistischer Revolutionen im Westen Europas 1919/20 versetzten die KPdSU in eine Lage, in der sie nicht mehr auf die solidarische Kooperation mit dem Proletariat eines fortgeschrittenen Landes hoffen konnte. Es ging für Stalin nur mehr um einen "Sozialismus in einem Lande" unter Zurückstellung der Weltrevolution. Partei und staatliche Bürokratie machten sich nun selbst zum historischen Subjekt der drängenden nationalen Aufgaben, insbesondere der nachzuholenden Industrialisierung, die mit Brutalität und Gewalt forciert wurde.

Japan und China

Nachdem sich die Streitkräfte Japans in den Kriegen gegen China 1894/95, Russland 1904/05 und das Deutsche Reich 1914/18 hatten durchsetzen können, rückte der befohlene ergebnislose Abbruch der Sibirien-Intervention in die Nähe einer militärischen Niederlage. In Verbindung mit ihrem Scheitern standen die für Japan nachteiligen Ergebnisse der Washingtoner Flottenkonferenz, die die anglo-japanische Allianz beendeten, Obergrenzen für Kriegsschiffstonnagen und gegenüber China eine Politik der offenen Tür festschrieben sowie die Zurückweisung des "Racial Equality"-Vorschlags zur Folge hatten, den die japanische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz eingebracht hatte.

Im Versailler Vertrag ging das Pachtrecht von Kiautschou und Tsingtau (China) auf Japan über. Der Völkerbund übertrug ihm bisher deutsche Kolonien in Fernost. An den Friedensverhandlungen in Paris wie auch an den Grenzregelungskommissionen waren japanische Diplomaten und Militärs beteiligt. Japans Einfluss in China wurde aber begrenzt und eine Hierarchie der Kriegsflotten mit Japan als nur zweitrangiger Macht begründet. Aus der Sicht der ehrgeizigen Streitkräfte hatte die Taish-Regierung damit den Status verspielt, den Japan am Beginn der Pariser Friedenskonferenz noch hatte. Das beträchtliche Engagement in internationalen Angelegenheiten, dem sich die Regierung seit Ende des Ersten Weltkrieges verschrieben hatte, war weder in militärische Macht noch in diplomatischen Einfluss umzusetzen. Japans Außenpolitik sollte sich ab den 1930er Jahren vermehrt einer aggressiven und expansionsorientierten Politik in Ostasien zuwenden.

Die Zeit von 1916 bis 1926 war ein Jahrzehnt der inneren Wirren in China. Die Zentralgewalt war zerbrochen und es folgte ein langanhaltender Bürgerkrieg. In Peking protestierten am 4. Mai 1919 Studenten gegen die Übertragung von Souveränitätsrechten der Provinz Shangdong an Japan. Die "4.- Mai-Bewegung" griff auch auf andere chinesische Städte über und wandte sich gegen den Konfuzianismus mit seinem Brauchtum, seiner Ehrfurcht und seinem Gehorsam als Legitimation des kaiserlichen China.

Sun Yat Sen baute in Kanton mit Hilfe Moskaus und der Komintern seit 1923 ein revolutionäres Regime auf, welches sich mit der 1921 gegründeten chinesischen KP verbündete. Nach Sun Yat Sens Tod 1925 wurde sein Programm zur Erreichung einer vollständigen Vereinigung Chinas von seinem Gegenspieler General Chiang Kai-shek weitergeführt, der sich beim Machtkampf innerhalb der Nationalisten durchsetzen konnte. Sein Plan, mit Hilfe der jungen "Nationalen Revolutionsarmee" die "Kriegsherren" zu überwältigen und damit China unter eine Zentralregierung zu stellen, stieß von Anfang an auf Tokios Missbilligung.

Allerdings beeinträchtigten die massiven Interventionen japanischer Truppen in der Provinz Shandong die Geschwindigkeit des Nordfeldzuges, konnten jedoch die Eroberung Pekings durch Chiangs Streitkräfte 1928 nicht verhindern.

Während die chinesischen Umwälzungen kaum Wirkungen auf die politische Entwicklung Russlands entfalten konnten, hatten die russische Februar-Revolution und der Oktoberputsch der Bolschewiki von 1917 auf zweifache Weise Auswirkungen auf die politischen Veränderungen in China.

Erstens war der Sturz des Zaren einhergegangen mit dem vorläufigen Ende der russischen Ausdehnung nach Osten. Zum anderen hatte die sowjetische Führung im Mai 1924 alle ungleichen Verträge, die das zaristische Russland mit dem Kaiser von China abgeschlossen hatte, für ungültig erklärt. Am 17. Juli 1924 erkannten sich die UdSSR und die Republik China wechselseitig an und knüpften erstmals diplomatische Beziehungen. Von Peking wurde die Vereinbarung als erster völkerrechtlicher Vertrag bejubelt, den China seit den Opiumkriegen (1839-1842, 1856-1860) auf der Basis der völligen Gleichberechtigung mit einer fremden Macht unterfertigt hatte.

Zweitens befeuerten die politischen Ereignisse im Oktober in St. Petersburg das Bekanntwerden und die Verbreitung der marxistischen Ideologie in China. Diese Tendenzen trugen zur Gründung einer neuen politischen Bewegung bei, nämlich jener der Kommunisten, die die chinesische Geschichte in Folge entscheidend prägen sollten. Mao Zedong soll gesagt haben: "Es war der Kanonenschuss der Oktoberrevolution, der uns den Marxismus gebracht hatte." Die Machtübernahme der bolschewistischen Putschisten war für die chinesischen Kommunisten Motivation und Stimulation zugleich. Im Juli 1921 gründen sie in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Mao war einer von 21 Gründungsmitgliedern.

Durch den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg war ihr Aufstieg und ihr Durchbruch zur globalen Wirtschaftsmacht vorprogrammiert. Der Dollar als Leitwährung löste den britischen Sterling-Block allmählich und geräuschlos ab. Die USA scheuten in Nachfolge und Tradition des British Empire, welches das portugiesische, niederländische und spanische Kolonialreich sowie das Empire Napoleons und das wilhelminische Deutschland besiegen konnte, auch nicht die Auseinandersetzung mit hegemonialen Konkurrenten und imperialen Rivalen (Spanien, das deutsche Kaiserreich, NS-Deutschland, das britische Empire und zuletzt die Sowjetunion). Wobei man sich fragt, ob sie nunmehr mit der Herausforderung der neuen Weltmacht China noch zurande kommen, zumal das Leitmotiv der US-Politik nach Expansion an Grenzen stößt wie auch die Kombination von global-imperialem Anspruch und Verheißung der Demokratie nicht mehr funktioniert. Der aktuelle Präsident hat alle Hände voll zu tun, "Amerika wieder groß zu machen".

Weltpolitisches Fazit

Die Region Ostasien mit China und Japan verweilte nach 1918 in einer Art Wartestellung. Nach der von westlicher Seite verweigerten internationalen Anerkennung 1919 und dem damit verzögerten politischen Durchbruch folgten zwei antagonistisch-imperiale Gegenentwürfe: das Kriegsimperium Japans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welches scheitern und mit den beiden US-Atombombenabwürfen symbolisch und praktisch dem Erdboden gleichgemacht, aber auf kompensatorischem und rekonstituierendem Wege nach 1945 in ökonomischer Hinsicht eine globale Weltmacht werden sollte, während China ab den 1980er Jahren schrittweise zu einem Weltwirtschaftsimperium des 21. Jahrhunderts aufstieg - mit einem infrastrukturellen und ökonomischen Ausgreifen in Richtung Westen in Form von zwei Seidenstraßen-Projekten.

So spiegeln sich in den Jahren von 1917/18 bis 1920 nicht nur Entwicklungslinien der europäischen, sondern auch weite Teile der Weltgeschichte von zunächst noch scheinbar nebeneinander bestehenden Erdteilen wider, die jedoch immer stärker wechselseitig verbundene und vernetzte Globalgeschichte schreiben sollten.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim.