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St. Germain und die Flucht aus der Krone

Von Herbert Hutar

Wissen

Der Friedensvertrag hatte für Österreichs Wirtschaft katastrophale Folgen: Die kriegsbedingten Zustände wurden festgeschrieben.


Ökonom Joseph Schumpeter plante 1919 als Kurzzeit-Finanzminister u.a. eine Vermögenssteuer, um soziale Gegensätze auszugleichen, scheiterte aber am politischen Widerstand.
© ullstein bild/Imagno

Als Staatskanzler Karl Renner am 10. September 1919 in dem festungsartigen und eher düsteren Schloss von St. Germain-en-Laye bei Paris seine Unterschrift unter den Friedensvertrag setzte, wurden kriegsbedingte katastrophale Zustände besiegelt: Hunger, Kälte und Krankheit, nicht nur in Wien, sondern auch in Agrargebieten, Einkommensverluste und Versorgungskrisen. Die These von der Lebensunfähigkeit des neuen Staates und damit der - illusorische - Anschlussgedanke an Deutschland waren allgegenwärtig. Tatsächlich hatten die Sieger nicht an die wirtschaftlichen Folgen gedacht, als sie die neuen Grenzen zogen.

In einem dramatischen Appell wandte sich Renner im Dezember 1919 an die Siegermächte. Sie mögen, wie er schrieb, "ein Massensterben ohne geschichtliches Beispiel" verhindern, denn "binnen drei Wochen wird Wien ohne Brot und Mehl sein". Auch am Land hungerten die Menschen, zum Beispiel in der Oststeiermark: Die Ernte konnte kaum eingebracht werden, die Männer waren im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft, Zugtiere waren beschlagnahmt. Und was da war, musste aufgeteilt werden - an durchziehende Soldaten oder auch an die Hungernden in Graz und Wien. Im Krankenhaus in Hartberg hatte es im Winter unter zehn Grad, weil Kohle zum Heizen fehlte.

Kein Sommertourismus

Der extreme Nahrungsmangel führte zu grotesken Situationen im eben erst wieder auflebenden Tourismus. Der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber zitiert aus einem unveröffentlichten Manuskript: "Ende Juli marschierten Lenzinger Arbeiter nach Seewalchen, um gegen die etwa 500 dort anwesenden Sommergäste zu demonstrieren, drangen schließlich in die Küchen zweier Gasthäuser ein und nahmen das dort gerade für das Abendessen vorbereitete Beuschel, etliche Kilogramm Kartoffeln, Gulasch, Zucker, Mehl, Rosinen und Wein mit."

Der Landtag beschloss daraufhin: "Ein Sommerfremdenverkehr findet in Oberösterreich im Jahr 1920 nicht statt."

Erst Mitte 1920 kamen US-Nahrungsmittelkredite. Das ständige Zögern selbst bei kleinen Hilfskrediten hatte seine Ursache in dem in Artikel 197 festgeschriebenen Generalpfandrecht der Siegermächte auf den gesamten Besitz und alle Einnahmequellen des Staates für Reparationen, also Wiedergutmachung und andere Lasten. Konkrete Summen wurden nicht festgelegt, denn nach hartnäckigen Verhandlungen mussten die Sieger einsehen, dass von dem zerrütteten Reststaat Österreich nichts zu holen war. Die Reparationskommission der Siegermächte blieb dennoch bestimmende Kraft für Österreich - nicht der einzige Widerspruch in dem Vertrag.

Denn zugleich stellten die Sieger in Punkt 3 der Begleitnote Hilfe in Aussicht: "Die alliierten und assoziierten Mächte haben . . . keineswegs den Wunsch, die unglückliche Lage Österreichs zu erschweren, im Gegenteil wünschen sie lebhaft, alles . . . zu tun, um dem Volk zu helfen, . . . unter der Bedingung, dass dies niemals den neuen, aus dem alten Reich hervorgegangenen Staaten zum Schaden gereicht." Trotzdem: Österreich hatte den überwiegenden Teil der Staatsschuld der Habsburgermonarchie zu übernehmen. Die Begleichung der Kriegsanleihen wurde allerdings durch die galoppierende Inflation leicht gemacht. Die Österreichisch-Ungarische Bank, die Notenbank der Monarchie, wurde liquidiert, Forderungen an die Nachfolgestaaten wurden gestrichen. Österreich verblieben nur 16 Prozent des Goldschatzes.

Harte Einschnitte gab es auch für die Industrie: Der Friedensvertrag sah eine Vernichtung der Munitionsfabriken und der Flugzeugindustrie vor. Die Industriegebiete in und um Wiener Neustadt sowie Steyr wurden zu Zen-tren der Arbeitslosigkeit in der gesamten Zwischenkriegszeit.

Trotzdem hatte Österreich mit der Eisen- und Stahlindustrie oder mit der Textilindustrie kein schlechtes Erbe angetreten. Allerdings war alles völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Ein über Jahrhunderte bestehendes Wirtschafts- und Handelssystem wurde zerrissen. Der Austausch von Nahrungsmitteln gegen Dienstleistungen und Industriewaren hörte im Oktober 1918 wegen einer Handelsblockade fast schlagartig auf. Am 20. Februar 1919, also ein halbes Jahr vor St. Germain, schuf die neu geschaffene Tschechoslowakei mit der Zolltrennung Fakten.

Kein Personenverkehr

Gut ein Drittel der Roheisenproduktion der Monarchie blieb in Österreich, aber nur sechs Prozent der Kohleförderung. Die Steinkohle hatte die Tschechoslowakei. Im obersteirischen Industriegebiet mussten die Hochöfen ausgeblasen werden. Nicht nur die neuen Grenzen, auch der Zusammenbruch des Eisenbahnsystems hatte verheerende Folgen. Lokomotiven konnten wegen Kohlemangels nicht fahren, der Personenverkehr musste 1918 eingestellt werden, nur Nahrungsmittel wurden befördert. 80 Prozent der Autoproduktion und über die Hälfte der Fahrradproduktion der Monarchie waren im kleinen Österreich verblieben.

Viel hätte exportiert werden können, aber wohin? Die Nachfolgestaaten umgaben sich mit Zollmauern. Die wechselseitigen Zolltarife stiegen auf 20 Prozent und mehr. Staatliche Förderung, Handelskontingente, Devisenregulierung oder Betätigungsverbote ausländischer Banken gehörten zur nationalen Wirtschaftspolitik. Im Donauraum sank der Warenverkehr bis 1935 auf 15 Prozent des Wertes von 1914, als es die Monarchie als Wirtschaftsraum noch gab.

Der Frieden von St. Germain wurde nicht nur in Österreich als schlimmes Diktat gesehen, auch international machte man sich ernsthafte Sorgen um Wirtschaft und Finanzen. Im Sommer 1919 sickerten die Friedensbedingungen durch, sofort begann eine Spekulationswelle gegen die Landeswährung, eine "Flucht aus der Krone". Der Dollarkurs stieg bis ins Jahr 1920 hinein um das 20-fache gegenüber November 1918.

Die Preise in Österreich stiegen aber nicht stärker als bisher. Die Inflation war eine ständige Begleiterin Österreichs schon während des Krieges. 1914 lag sie bei 70 Prozent, nach 1916 verdoppelten sich die Preise in jedem Jahr. Die Notenpresse trug wesentlich zur Kriegsfinanzierung bei, was nicht weiter störte, war doch der Außenwert der Krone ohne Außenhandel nicht so wichtig.

Kleine Hilfskredite

Das wurde anders, als Österreich Importe brauchte. Mit großer Mühe konnten Lebensmittellieferungen durch kleinere Hilfskredite finanziert werden. Diese Lebensmittel aber waren in Österreich durch den Währungsverfall sehr teuer, der Ausweg waren Subventionen, die wiederum den Staatshaushalt belasteten. Andererseits hatten österreichische Exporte einen gewaltigen Preisvorteil, und wer ausländische Zahlungsmittel hatte, konnte in Österreich billig einkaufen: Vom Familienschmuck verarmter Bürger bis hin zu Aktiengesellschaften.

Schieber & Spekulanten

Der Industrielle und Börsenspekulant Camillo Castiglioni (1879-1957) ließ das Theater in der Josefstadt renovieren.
© Archiv

Schieber und Spekulanten wurden die neue Oberschicht, der bekannteste war wohl Camillo Castiglioni, der unter anderem erfolgreich mit Alpine-Montan-Aktien handelte, das Theater in der Josefstadt renovieren ließ und Max Reinhardt finanzierte.

In der Konjunkturphase konnten die Industriearbeiter an die Inflation angepasste Indexlöhne durchsetzen, trotzdem blieben die Realeinkommen weit unter Vorkriegsniveau. Zahlreiche Sozialgesetze wurden nicht zuletzt aus Furcht vor sozialrevolutionären Vorbildern in Bayern und in Ungarn von den Unternehmern akzeptiert, deren Kosten konnten in der Inflation leicht auf die Preise überwälzt werden. Die Arbeitslosigkeit sank kurzfristig zwischen 1919 und 1921. Angestellte und Beamte, aber auch weite Kreise des Bürgertums blieben auf der Strecke.

Die Wirtschaftspolitik schien wie gelähmt. Es fehlte die Bereitschaft, die neuen Schwierigkeiten zu überwinden. Einer der wenigen, die dazu aufriefen, war der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter. Als Kurzzeit-Finanzminister plante er unter anderem eine Vermögenssteuer, um soziale Gegensätze auszugleichen, scheiterte aber am politischen Widerstand.

Die Misere war nicht nur den Alliierten anzulasten, die - so wurde der Eindruck erweckt - das Land unbarmherzig im Würgegriff hielten. Im Frühjahr 1921 lag ein umfassender Wiederaufbauplan des Völkerbundes auf dem Tisch mit Budget-, Währungs- und Notenbankreform, mit ausreichenden Krediten und Zurückstellung des Generalpfandrechtes. Dies wurde durch die von der Großdeutschen Volkspartei vom Zaun gebrochenen Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg mit dem Ergebnis für einen - ohnehin verbotenen - Anschluss an Deutschland torpediert: Die Alliierten protestierten, die Regierung warf das Handtuch, der Plan blieb am Papier.

Hungerrevolte 1921

Im Dezember desselben Jahres gelang eine Annäherung an die Tschechoslowakei mit Grenzgarantien und vor allem dringend benötigten Kohlelieferungen. Außenminister Edvard Benes rückte von seiner österreichfeindlichen Linie ab, was für die Kreditwürdigkeit Österreichs wichtig war. Die Großdeutschen aber glaubten, sich als Schutzmacht der Sudetendeutschen aufspielen zu müssen, sprachen von "Verrat" und ließen die Regierung platzen.

Ab Mitte 1921 geriet die Inflation außer Kontrolle: Die Lebensmittelzuschüsse hatten fast 60 Prozent der Budgetausgaben erreicht und sollten abgebaut werden. Die Stimmung war gekippt: Im Dezember kam es zu einer Hungerrevolte auf der Wiener Ringstraße mit Ausschreitungen. 7000 Betriebe waren von 350 Streiks betroffen. Die Notenpresse lief auf Hochtouren, der Geldumlauf explodierte. Im Herbst 1921 stiegen die Preise um 50 Prozent pro Monat, ab August 1922 verdoppelten sich im Monat die Verbraucherpreise. Einkaufen musste man sofort am Zahltag, weil niemand wusste, was ein paar Tage später noch erschwinglich war.

Das Vertrauen der internationalen Geldgeber war im Keller. Im Sommer 1922 kam sowohl aus London als auch vom Völkerbund kühle Ablehnung auf verzweifelte Kreditgesuche der Regierung unter Bundeskanzler Ignaz Seipel. Der hob das Problem auf eine hochpolitische Ebene und sagte in einer Rede vor dem Völkerbund in Genf: Sollten in Österreich als Folge eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs Ruhe und Ordnung in Frage gestellt werden, sei der Friedensvertrag und damit der Frieden im Herzen Europas in Gefahr.

Das wirkte: Es folgten die "Genfer Protokolle" mit dem Völkerbundkredit über 650 Millionen Goldkronen, zwei Jahre später waren die wichtigsten, wenn auch schmerzhaften Reformschritte getan, und 1924, sechs Jahre nach Kriegsende, konnte mit der neuen Währung, dem Schilling, ein neue Zeit für Österreich beginnen.

Herbert Hutar, Wirtschaftsjournalist und Historiker, war früher Leiter des Ö1-Wirtschaftsmagazins "Saldo" und arbeitet nun als freier Publizist.