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Lob des Zauderns

Von Christian Hütterer

Wissen
Ulrich, Hauptfigur in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", ist der Prototyp eines Zauderers. Hier (li. im Bild, dargestellt von Alexander Khuon) in einer Aufführung der Kammerspiele Berlin im Jahr 2007.
© ullstein bild - Lieberenz

Vom "Mann ohne Eigenschaften" bis zu "Oblomow": Ein Versuch über literarische Helden, die innehalten.


Es stand schlecht um Rom im Jahr 217 vor Christus. Ein Jahr zuvor war Hannibal mit seiner Armee über die Alpen marschiert, seitdem zogen die Karthager plündernd durch Italien. In höchster Not wählten die Römer Quintus Fabius Maximus zum Diktator, er sollte die Republik in dieser verzwickten Lage retten. All jene, die einen heldenhaften Angriff gegen die Karthager erwarteten, wurden enttäuscht. Fabius tat etwas Unerwartetes: Anstatt die Entscheidung in einer offenen Schlacht zu suchen, beobachtete er aus sicherer Entfernung den Feind und wartete darauf, dass sich die Karthager eine Blöße geben würden.

Fabius musste von seinen römischen Landsleuten viel Kritik für sein Zögern einstecken, seine Gegner nannten ihn spöttisch cunctator, den Zauderer. Am Ende sollte sich diese Strategie aber bezahlt machen. Die Karthager, die im Feindesland operierten, verausgabten sich und mussten sich schließlich geschlagen geben.

Seit Fabius sind mehr als zweitausend Jahre vergangen und in ihnen kam das Zaudern zusehends aus der Mode. In den Buchhandlungen finden sich heute vielmehr Ratgeber wie "21 Wege, um sein Zaudern zu überwinden und in weniger Zeit mehr zu erledigen". Anpacken und betriebsam sein, das sind die Tugenden unserer Tage. Dies gilt erst recht, seit die elektronischen Medien den Takt vorgeben. In Zeiten von Internet, Twitter und Co sind schnelle Reaktionen gefragt. Innehalten, um sich blicken und die Gedanken sickern lassen, das ist in dieser von Geschwindigkeit geprägten Welt verpönt.

Es gibt aber noch ein Gebiet, auf dem sich die Zögerlichen und Zaudernden wohlfühlen, nämlich zwischen Buchdeckeln. In der europäischen Literatur gibt es viele Beispiele jener Gattung, die sich mit Entscheidungen schwertut - und sie lieber auf die lange Bank schiebt.

Achtzehn Jahrhunderte nach dem "cunctator" war es ein anderer bekannter Feldherr, der lange zögerte, nämlich Albrecht von Wallenstein. Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges hatte er eine Armee aufgestellt und mit ihr den Habsburgern den Thron gerettet, Wallenstein wurde dadurch zum mächtigsten Feldherren der katholischen Seite. 1633, also fünfzehn Jahre nach dem Ausbruch des Krieges, war zwar ein großer Teil Deutschlands verwüstet, doch keine der beiden Parteien konnte einen entscheidenden Sieg verbuchen. Wallenstein zog sich mit seiner Armee nach Böhmen zurück und nahm Kontakt zu seinen protestantischen Gegnern auf. Eigenmächtig und ohne Genehmigung des Kaisers verhandelte er mit ihnen über einen möglichen Friedensschluss.

Feldherr Wallenstein aus Friedrich Schillers "Wallenstein", um 1859.
© Friedrich Pecht

Wallenstein war zwischen den beiden Konfliktparteien hin- und hergerissen und löste sich samt seiner Armee zusehends aus dem kaiserlichen Lager. Als der Kaiser Wallenstein nach Regensburg beorderte, um die Stadt vor der Eroberung zu schützen, verweigerte er den Gehorsam. Bald darauf wurde ihm von den Protestanten die Krone Böhmens versprochen, um ihn endgültig zum Abfall vom katholischen Kaiserhaus zu bewegen. Wallenstein nahm das Angebot zwar nicht an, aber er schwankte, konnte sich für keine der beiden Seiten entscheiden und verärgerte dadurch schließlich beide. Bis heute ist unter Historikern umstritten, warum er so zögerlich war und sich zu keinem Entschluss durchringen konnte.

Zögernder Wallenstein

In seinem Drama "Wallenstein" hat Friedrich Schiller dieses Zaudern des Feldherrn zum Thema gemacht. Auch der literarische Wallenstein hält sich alle Optionen offen, lässt sich von seinem Sterndeuter Horoskope erstellen, von denen er das weitere Vorgehen abhängig macht, und als er von einem seiner Generäle zu einer Entscheidung gedrängt wird, antwortet er mit: "Ich kann jetzt noch nicht sagen, was ich tun will."

Später muss er feststellen, dass er sich durch sein Zaudern in eine prekäre Situation gebracht und nur noch wenige Optionen hat: "Wär’s möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir’s beliebt?" Am Ende sollte es mit Wallenstein ein schlechtes Ende nehmen. Der Kaiser sah ihn nach den Verhandlungen mit den Protestanten und den verweigerten Befehlen als einen Verräter, Wallenstein musste fliehen, wurde aber in der Stadt Eger von kaiserlichen Soldaten ermordet.

Eine andere literarische Persönlichkeit war zwar ebenfalls sehr zauderlich, anders als für Wallenstein brachte ihn seine Unentschlossenheit aber nicht in eine Lage mit tödlichem Ausgang. Die Rede ist von Ulrich, dem "Mann ohne Eigenschaften". Der gleichnamige Roman von Robert Musil gilt als einer der bedeutendsten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Handlung: Im Jahr 1913 beginnen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Thronbesteigung von Kaiser Franz Joseph.

Ulrich soll bei der Planung des Jubiläums mithelfen. Er ist ein großer Zauderer, der sogar bei banalen Dingen wie dem Einrichten seiner Wohnung keine Entscheidung treffen kann, verfügt aber über einen ausgeprägten Möglichkeitssinn: "Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein." Die Spannung zwischen den vielen möglichen Realitäten und der einen, die tatsächlich Wirklichkeit geworden ist, lassen Ulrich immer wieder innehalten, zögern, nachdenken.

Robert-Musil-Denkmal in Genf. Im "Mann ohne Eigenschaften" heißt es: "Man kann nirgends einen ausreichenden Grund dafür entdecken, dass alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können."
© Fanny Schertzer

Aber nicht nur der Protagonist zaudert oft, auch die Handlung des Romans selbst schreitet nur langsam voran, denn sie bildet vor allem den Rahmen für zahlreiche Reflexionen und Betrachtungen über das Leben in modernen Zeiten. Wie ein Mäander wälzen sich diese dahin, kommen von einem zum anderen und finden ihren Weg zu ganz neuen Themen.

Die Zufälligkeit der menschlichen Entwicklung und die zahllosen Möglichkeiten, die nicht Wirklichkeit wurden, rücken immer wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen, denn: "Man kann nirgends einen ausreichenden Grund dafür entdecken, dass alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können." Bei diesen Grübeleien kommen auch die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten nur schleppend in Gang. Graf Leinsdorf, der Vorgesetzte von Ulrich, soll sie koordinieren, ist aber alles andere als ein Freund rascher Entschlüsse.

Viele Vorschläge, wie man das Jubiläum würdig begehen könnte, werden von ihm auf die lange Bank geschoben und mit dem Vermerk "Ass." versehen: "Die Zauberformel hieß ,Asserviert‘, auf Deutsch soviel wie ,Zu späterer Entscheidung aufgehoben‘, und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen lässt und nichts übereilt."

Es überrascht nicht, dass neben den handelnden Personen auch dem Staat Kakanien, in dem die Feierlichkeiten abgehalten werden sollen, etwas Zauderndes und Bedächtiges anhaftet. Denn in diesem Staat gibt es zwar "Tempo, aber nicht zuviel Tempo", er steht für "Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben". Musil starb (1942), ehe er den Roman zu Ende bringen konnte. So fiel auch beim Verfassen dieses Buches, in dem es um das Verschieben von Entscheidungen geht, keine - und es bleibt offen, welchen Fortgang die Erzählung nehmen hätte sollen.

Auch in der russischen Literatur gibt es ein bekanntes Beispiel für Zögerlichkeit und ihre Auswirkungen, nämlich Ilja Oblomow. Er ist der Protagonist des gleichnamigen Romans, der von Iwan Gontscharow 1859 veröffentlicht wurde. Als Kind wurde Oblomow von seiner Familie und den Dienstboten verzärtelt, jeder Wunsch wurde ihm von den Augen abgelesen. Als junger Mann zog er nach Petersburg, nahm eine Stelle an, doch schon bald verließ ihn die Lust an der geregelten Arbeit. Aufträge erfüllen und herumkommandiert werden, das war nicht nach seinem Geschmack.

Meister im Verschieben

Seitdem verbrachte er seine Tage auf dem Diwan, trank Tee und überlegte, was er tun könnte. Es blieb aber jeden Tag bei der Überlegung, denn Oblomow wurde immer träger und entwickelte eine Meisterschaft im Verschieben. Er zauderte vor jeder Entscheidung so lange, bis die sich ihm bietenden Möglichkeiten vertan waren. Er verliebte sich, die Angebetete machte ihm Hoffnungen - doch Oblomow wartete, zögerte, setzte den nächsten Schritt nicht. So verpasste er die Chance, seine große Liebe zu heiraten und verlor sie an seinen deutschstämmigen und zupackenden Freund, der in jeder Hinsicht das Gegenstück zu Oblomow darstellt.

"Oblomow"-Autor Iwan Gontscharow.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen sollte dieser Roman politische Folgen haben: Lenin sah im Nichtstun, in der Unentschlossenheit und Dekadenz des Oblomow ein Sinnbild für alles, das in Russland falsch lief. Er war der Meinung, dass man gegen träge und wenig produktive Menschen wie Oblomow vorgehen müsse, um den von den Bolschewiken ersehnten Fortschritt zu erzielen - die katastrophalen Folgen dieser Denkart sind bekannt.

Zurück zur Literatur. Hier gibt es noch weitere Beispiele für jene, die sich mit Entscheidungen schwertun und diese nur ungern treffen. Seit Christian Morgenstern wissen wir, dass das Zaudern nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere ein Problem sein kann. In seinem Gedicht "Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst" fragt sich die Schnecke: "Soll i aus meim Haus raus? Soll i aus meim Haus nit raus? Einen Schritt raus? Lieber nit raus?"

Die Schnecke grübelt lange, verfängt sich allerdings in ihren eigenen Gedanken und muss schließlich die Entscheidung der Frage verschieben.

Die Brücke von den zaudernden Figuren aus der Literatur hin zur Realität schlägt der deutsche Kulturwissenschafter Joseph Vogl, der sich intensiv mit dem Zaudern auseinandergesetzt hat. Für ihn unterbricht es "Handlungsketten und wirkt als Zäsur, es führt in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und Nein", wie er in seinem Bändchen "Über das Zaudern" schreibt.

Vogl warnt aber davor, das Zaudern als einen Ausdruck von Faulheit zu verstehen, er betrachtet es vielmehr als einen sehr aktiven Zustand, in dem eine Art von Forschung betrieben wird. Sobald man allerdings zu Ende geforscht hat und sich auf eine der Möglichkeiten festgelegt hat, geht es uns allen wie dem Mann ohne Eigenschaften: "Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren."

Christian Hütterer, geboren 1974, arbeitet in Brüssel und schreibt Kulturporträts und Reportagen.