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Im spirituellen Stundentakt

Von Ingeborg Waldinger

Wissen
Der Einband des Schwarzen Stundenbuches (l.) und ein Einblick in sein Innenleben.
© Fotos: Waldinger (l.)/ÖNB

Ein Schwarzes Stundenbuch aus dem 15. Jahrhundert zählt zu den Schätzen der Österreichischen Nationalbibliothek. Nicht nur die Herkunft der luxuriösen Handschrift ist bis heute nicht restlos geklärt.


Als physikalische Größe sind sie mit sechzig, beim Arzt und in der Schule mit fünfundvierzig Minuten bemessen: Die Stunden geben unserem Alltag Struktur, sie takten seinen Ablauf. Manche aber geraten als simples Richtmaß zu groß und lösen sich aus dem Raster - als besondere, entscheidende Momente des Daseins: Wir fürchten unsere letzte Stunde und vielleicht auch jene der Wahrheit. Der Kluge erkennt das Gebot der Stunde oder nutzt ihre Gunst. Die Sternstunde überglänzt, mit Stefan Zweig gesprochen, die Nacht der Vergänglichkeit; die Stunde null wiederum läutet - auf Trümmern - Neues ein. Und die Blaue Stunde taucht die Welt in magisches Licht, ihre Glocke schlägt dem Romantiker, dem Träumer.

Keine metaphorische, sondern eine metaphysische Dimension eröffnen die Stundengebete (Horen). Diese spirituelle Zeitordnung, festgeschrieben in liturgischen Büchern für Klerus und Laien, hat die Heiligung des Tages zum Ziel. Doch auch religiöse Praktiken sind ein Spiegel irdischen Distinktionsbedürfnisses. So ließ sich der Adel für diese Form der Andacht besonders prunkvolle Stundenbücher (Horarien, Livres d’heures) fertigen. Im späten 14. und im 15. Jahrhundert erlebte das Genre in Frankreich und Flandern seine Blütezeit, die "Très riches heures" des Duc de Berry sind ein berühmtes Beispiel dieser Buchkunst.

Streng unter Verschluss

Weniger bekannt, aber äußerst luxuriös sind die Schwarzen Stundenbücher. Sie haben nichts mit Okkultismus zu tun, sondern verdanken die Bezeichnung ihren schwarz gefärbten Seiten. Und sie geben der Fachwelt noch viele Rätsel auf. Eines dieser raren Gebetbücher ruht in den Archiven der Österreichischen Nationalbibliothek. Der Hüter dieses Schatzes, Direktor Andreas Fingernagel, legt uns die Fakten, Fakes und Forschungsprobleme dar: Auf einem großen Tisch seines Büros in der Nationalbibliothek liegen der Originaleinband des Schwarzen Gebetbuchs und das originalgetreue Faksimile aus dem Insel Verlag bereit: Zahlreiche Gouttes d’or (Goldtropfen) zieren den dunkelroten Samteinband.

Dekor und Schließen sind Silber vergoldet, in jede Schließe ist ein emailliertes Medaillon (vermutlich Madonna bzw. Anna Selbdritt) eingearbeitet. Dass wir hier sogar ein Originalblatt dieses Gebetbuchs studieren können, verbuchen wir als persönliche "Sternstunde": Zwischen gelöcherten Acrylplatten konserviert, wird die Originalhandschrift streng unter Verschluss gehalten.

Das hat mit der extremen Fragilität des Pergaments zu tun: "Für die Konservierung spielt es eine erhebliche Rolle, ob das Pergament oberflächlich schwarz angemalt ist wie beim Stundenbuch der Maria von Burgund (ebenfalls im Besitz der ÖNB, Anm.), oder ob die Blätter getränkt sind", erklärt der Leiter der Handschriftensammlung. Nur sechs Exemplare sind erhalten, manche bloß fragmentarisch, sowie ein schwarzes Tanzbuch (Musikhandschrift). "Kurioserweise findet sich in der Nationalbibliothek der ehemaligen DDR ein Medaillon aus unserem Exemplar, wo genau dieses Element fehlt."

Die Blätter der Handschrift sind mit einer Kupfer-Eisen-Lösung getränkt. "Die wirkt sich leider stark degenerativ auf das Pergament aus, sie zerstört die Faserstruktur. Es ist eigentlich totes Material", erklärt der Experte. "Das Original wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast permanent ausgestellt. Es lag in Eichenholzvitrinen, einem sehr sauren Umfeld, das jeder Restaurator zu vermeiden sucht. Vielleicht hat auch die Heizung eine Rolle gespielt."

Der Auftrag für das erste Faksimile ging 1930 an die Staatsdruckerei; es war als Gastgeschenk für Staatsbesuche gedacht. Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt, einzig die Übergabe eines Exemplars an den Vatikan ist dokumentiert. Damals hat man die Handschrift aus ihrem Einband herausgelöst, die Doppelblätter in der Mitte durchgeschnitten und einzeln zwischen Glasplatten konserviert. Die wurden in den frühen 1980er Jahren, vor der zweiten Faksimilierung durch den Insel Verlag, gegen Acrylplatten ausgetauscht. Das Institut für Restaurierung der ÖNB, so Direktor Fingernagel, werde heuer ein Forschungsprojekt einreichen, um die teils widersprüchlichen chemischen Analysen zu wiederholen und die aktuelle Aufbewahrungsmethode zu überprüfen.

Die Geschichte dieser Handschrift böte reichlich Stoff für Romanciers: weder ihre Entstehung noch ihr Weg nach Wien sind restlos geklärt. Fest steht, dass sie aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt: "Bei den Schwarzen Gebetbüchern handelt es sich um einen zeitlich und regional sehr begrenzten Typus von Stundenbüchern, die alle in Flandern entstanden sind, vermutlich in Brügge. Das Wiener Exemplar wird oft einem Notnamen zugeschrieben, dem Meister Anton von Flandern. Das ist in der Forschung nicht wirklich akzeptiert, die stilistische Zuordnung überzeugt nicht", erläutert Direktor Fingernagel. Als erster nachweisbarer Vorbesitzer gilt Galeazzo Maria Sforza, Herzog von Mailand, der 1466-76 regierte.

Prächtige Trauer

Kreuzigungsszene aus dem Schwarzen Stundenbuch.
© Waldinger

Allerdings schreibt man dieses - und noch andere Schwarze Stundenbücher - auch Karl dem Kühnen zu, jenem kunstsinnigen und machthungrigen letzten Burgunderherzog, dessen prunkvolle Hofhaltung Legende ist. Und der übrigens mit Galeazzo Maria Sforza in den Burgunderkriegen durch einen Geheimpakt verbunden war. Hatte Karl der Kühne das Stundenbuch als Geschenk für den Mailänder Herzog in Auftrag gegeben? Oder führt die Spur gar zu seiner Tochter Maria von Burgund, der ersten Ehefrau Maximilians von Österreich?

Alles reine Spekulation. Die Fachliteratur, so Direktor Fingernagel, gehe eher davon aus, dass die Handschrift mit Bianca Maria Sforza, der Tochter des Herzogs von Mailand und zweiten Gemahlin Maximilians, nach Wien kam. In ihrem Nachlassverzeichnis seien zwar Stundenbücher angeführt, doch "die passen beide überhaupt nicht auf dieses schwarze Gebetbuch. Wir wissen nur, dass es im 18. Jahrhundert erstmals in einem Inventar der Hofbibliothek erwähnt wird."

Stellt sich die grundsätzliche Frage: Warum wurden die Seiten schwarz gefärbt? Handelte es sich explizit um Trauerbücher? Nun, es gab offenbar die Praxis, in Trauerfällen schwarze Gebetbücher für Hinterbliebene fertigen zu lassen, erklärt der Handschriftenexperte. Zumindest waren Teile in Schwarz ausgeführt, etwa das Totenoffizium. Im Falle der sechs erhaltenen Exemplare sei jedoch kein solcher Anlass bekannt.

Die Verbindung Schwarz-Trauer habe natürlich Tradition, beim vorliegenden Gebetbuch überwiegt durch das leuchtende Gold und Silber von Graphik und Illustrationen aber der prächtige, elegante Eindruck. - Eine prächtige Trauer, wenden wir ein. Und die wiederum würde durchaus zu Karl dem Kühnen passen. Welches Trauer-Gepränge der burgundische Hof zu inszenieren vermochte, hat der niederländische Historiker Johan Huizinga in seiner berühmten Studie "Herbst des Mittelalters" eindrucksvoll beschrieben.

Die Faktenlage vermag diese Spekulation nicht zu erhärten. Das Wappenblatt des vorliegenden Stundenbuchs verweist vielmehr namentlich auf Galeazzo Maria Sforza. Das Wappen zeigt einen gekrönten Schild mit Adler und Biscione (Schlange, die einen Menschen verschlingt oder ausspeit). Diese heraldische Figur ist klar mit den Sforzas in Verbindung zu bringen, auch die dargestellten Embleme und Devisen. So etwa die weiße Taube mit dem Spruchband "A bon droit" (mit gutem Recht) oder die Devise "Mit Zait", desgleichen die Attribute der Mäßigung (die Balken mit zwei Wassereimern, das goldene Zaumzeug).

Der Mailänder Herzog hat die Handschrift also besessen - als Auftraggeber scheidet er aber aus, erklärt Direktor Fingernagel: "Stilistische Untersuchungen haben gezeigt, dass das Wappenblatt sekundär eingemalt wurde. Es ist in der Qualität mit der gesamten Handschrift nicht zu vergleichen, die Farben sind relativ stumpf, und das Pergament ist nicht geschwärzt, sondern bräunlich."

Die Herstellung einer solchen Handschrift war äußerst aufwendig (und mithin kostspielig), begonnen vom Färben des Pergaments über die Graphik in Silbertinte, Pinsel- und Blattgold bis zu den prächtigen Bildmalereien und Bordüren. Von einem potenten Auftraggeber ist daher auszugehen. Viele Stundenbücher lassen sich auch personell zuordnen: aus ihrem Inhalt, aus der Art der Darstellung. Oft bekommt der Auftraggeber eine ganzseitige Miniatur, oder sein Namenspatron wird im Kalender durch goldene Lettern hervorgehoben. Leider nicht im vorliegenden Fall.

Repräsentationsstück

Der Kalender ist - wie die Kindheit und Passion Christi, die Marienstunden, die Sequenzen aus den Evangelien und das Totenoffizium - typischer Bestandteil der Stundenbücher. "Der Kalender unseres Gebetbuchs ist ziemlich genau auf Brügge zu lokalisieren, weil hauptsächlich Brügger Heilige vorkommen. Die Bilder zeigen standardmäßig das Sternzeichen und eine für den Monat typische Tätigkeit oder Arbeit, etwa Fischen, Baumschnitt, Schweinemast. Auf der gegenüberliegenden Seite sind jeweils die Heiligenfeste aufgelistet: in Silber die gewöhnlichen, in Gold die Hochfeste, also die Marien- und Apostelfeste."

Die Miniaturen der Wiener Handschrift enthalten nur Szenen aus dem Neuen Testament. Die intendierte Verbindung zu den alttestamentarischen Szenen der Randmedaillons sei nicht immer eindeutig, so Direktor Fingernagel, der auch die ikonografische Kreativität dieses Buchmalers betont: "Neben der Kreuzigungsszene finden wir ein Medaillon, das zeigt, wie die Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet werden. Der naturalistische Realismus ist typisch für die flämische Buchkunst. Wir haben es mit einem äußerst expressiven Maler zu tun, sehen Sie nur die individuellen Kopfgestalten oder die extreme Dramatik der Dornenkrönung. Da schlägt einer mit dem Hammer die Dornenkrone auf das Haupt Christi, und ein anderer schlägt mit dem Stock noch nach!"

Einen völlig anderen Charakter haben die in die Bordüren eingearbeiteten Fabelwesen und Drôlerien. "Solche Darstellungen repräsentieren eine verkehrte Welt. Sie haben keinen unmittelbaren Textbezug, auch nicht zu den Hauptbildern. Da finden wir etwa ein Burgfräulein, das einem Bettler Almosen gibt, dann eine Gestalt, die eine Statue im Schubkarren transportiert. Oder den sogenannten Wilden Mann, eine typische Figur aus dieser Gegenwelt des Höfischen, der das Triebhafte und Ungezügelte repräsentiert."

Ob diese schwarze Prachthandschrift tatsächlich für Stunden der Andacht benutzt wurde, ist fraglich. Eher handelt es sich um ein Repräsentationsstück, worauf die fehlenden Benützungsspuren schließen lassen. Fest steht: Wer immer sich in diese 150 Seiten vertieft, gewinnt kostbare Stunden.

Ingeborg Waldinger, geboren 1956, Romanistin und Germanistin, ist Journalistin und literarische Übersetzerin.