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"Die Hitlerjungen wollten, dass ich die Hakenkreuzfahne grüße"

Von Michael Schmölzer

Reflexionen
Gerald Stourzh, geboren 1929, war Professor für Geschichte an der Universität Wien.
© Schmölzer

Der Historiker und Zeitzeuge Gerald Stourzh erinnert sich an die letzten Tage des NS-Regimes in Wien im April 1945.


Der Text ist ein Auszug aus diesem kürzlich im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienenen Buch (131 Seiten, 15, - Euro), in dem 17 Frauen und Männer sich an die Kämpfe zur Befreiung Wiens 1945 erinnern.

Der Zeitzeuge und spätere Hochschulprofessor für Geschichte, Gerald Stourzh, hat in den Apriltagen 1945 "sehr viel Glück gehabt", wie er erzählt. Er war noch nicht eingerückt, weil er erst am 15. Mai 16 Jahre alt wurde. Das Haus, in dem er 1945 lebte, war nicht ausgebombt worden. "Es gab nur zerbrochene Fensterscheiben, weil in der Nähe Bomben gefallen sind, und Risse in der Wand." Auch als die Russen einmarschiert waren und die Plünderungen begannen, sei man glimpflich davongekommen.

"Ich bin der Sohn von extrem antinazistisch eingestellten Eltern. Mein Vater war Landesbeamter und Schriftsteller und hat schon 1934 einen Artikel geschrieben, in dem er den Nationalsozialismus als ,Nationalbestialismus‘ bezeichnet und von der ,nationalsozialistischen Barbarei‘ gesprochen hat. Natürlich haben meine Eltern, als die Nationalsozialisten an die Herrschaft gekommen sind, größte Angst gehabt, dass meinem Vater etwas passieren könnte." Der Vater, so Stourzh, erkrankte aber an Krebs und starb, bevor er von den Nazis verhaftet werden konnte.

Nicht zur Wehrmacht

Er selbst sei bemüht gewesen, mit den Nazi-Strukturen nicht in Berührung zu kommen. Mit Erfolg, wie Stourzh berichtet: "Ich habe nicht eine Stunde meines Lebens Dienst im Jungvolk oder in der HJ gemacht." Als das Dritte Reich seinem Ende zusteuerte, wurde es für Stourzh aber eng: "Im März 1945 bin ich dazu aufgerufen worden, mich freiwillig zur Wehrmacht zu melden." Nicht der Volkssturm hatte es auf ihn abgesehen, sondern die Wehrmacht. Und die Meldung musste freiwillig erfolgen: "Man musste sich freiwillig melden, weil es keine gesetzliche Handhabe gab", erklärt Stourzh.

"Hitlerjungen" rücken zum Kriegsdienst ein (Aufnahme vom 27. Jänner 1944).
© CC Bundesarchiv/Scherl Bilderdienst (Schwahn)

"Man musste sich ausziehen. Die, die gesund waren, kamen zur Infanterie. Ich habe gesagt, ich kann mich nicht melden, weil ich die Zustimmung der erziehungsberechtigten Mutter brauche. Da habe ich Hohn und Spott auf mich gezogen. Da war Gelächter. Die haben mich dann in den Keller geführt und zugesperrt. Er soll nachdenken, hieß es. Es war so um die Mittagszeit. Ein zweiter Bursch mit einer Knickerbocker-Hose wollte sich auch nicht melden. Man hat uns alleine gelassen. Nach drei Stunden wurde wieder aufgesperrt. Ich habe nachgedacht, weil meine Mutter alleine stand als Witwe", so Stourzh. Er habe befürchtet, dass seiner Mutter Schaden entstehen könnte. "Ich habe mich also zur Sanität gemeldet. Dann haben sie mich laufen lassen. Das war schon Mitte März."

Wenig später sollte es dann ernst werden. Stourzh erhielt die Benachrichtigung, dass er sich am Bahnhof Nussdorf oder Heiligenstadt, genau weiß er es heute nicht mehr, zu melden hätte. "Meine Mutter und ich haben beschlossen, dass ich dort nicht hingehen werde. Ich habe mich ins Bett gelegt und habe eine Art Hungerstreik begonnen, um mich zu schwächen. Meine Mutter ist hingegangen. Der zuständige Feldwebel war aber nicht da. Dann ist sie am nächsten Tag wieder dorthin, meine Mutter hat sich mit unglaublicher Energie für mich eingesetzt. Sie hat angegeben, ich läge mit Grippe im Bett. Man hat ihr dann einen neuen Termin gegeben, eine Woche später."

Damit war Stourzh "aus dem Schneider". "Ich bin nicht hingegangen. In den letzten Märztagen ist die ganze NS-Verwaltung zusammengebrochen."

Schatten in der Lunge

Die ganze Sache erinnere ihn heute an den pointierten Ausspruch: "Stell dir vor, es ist Krieg - und du gehst nicht hin", so der Zeitzeuge. "Bei mir war es so." Ein Klassenkollege, erinnert sich Stourzh, sei hingegangenen, eingerückt und einige Tage später von Russen gefangen genommen worden. "Er war drei Wochen älter als ich. Sein Vater war ein altösterreichischer hoher Offizier, der hat ihn dann wieder freibekommen."

Zuvor, so Stourzh, konnte der Beitritt zur HJ umgangen werden: "Durch einen befreundeten Arzt, der mir einen Schatten in der Lunge attestiert hat, habe ich die sogenannte ,gelbe Legitimation‘ bekommen, die mich vom Dienst in der HJ freigestellt hat. Das war davor. Das war 1943. Ich bin nie bei einem HJ-Dienst gewesen", sagt Stourzh.

Und an noch etwas kann er sich lebhaft erinnern: "In den letzten NS-Tagen haben wir im 19. Bezirk gewohnt, dort gab es enorm viele Weinkellereien. Die Inhaber einiger Weinkellereien haben die Fässer geöffnet, um den Sowjets nicht zu viel Alkohol zu überlassen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie in der Billrothstraße und in der Döblinger Hauptstraße der Wein in den Straßen geflossen ist."

Es sei aber trotzdem noch viel Alkohol übrig geblieben - "und es hat im 19. Bezirk besonders viele Vergewaltigungen gegeben. Es ist schrecklich zugegangen", so der Zeitzeuge. Die Mutter wurde in einer Notambulanz dienstverpflichtet, die während des Krieges eingerichtet worden war. Die Stelle befand sich im Keller eines Klosters in der Hofzeile, Ecke Döblinger Hauptstraße. "Damals gab es dort eine Schule und heute wieder. Dort wurde noch unter den Nazis eine Notambulanz, die hieß Rettungsstelle in der Hofzeile, errichtet. Für Verwundete und Verletzte bei Luftangriffen. Immer, wenn ein Luftangriff war, musste meine Mutter so schnell wie möglich in die Hofzeile, um dort verfügbar zu sein", erinnert sich Stourzh.

Im Klosterkeller

"Der erste Luftangriff war am 10. September 1944", die Mutter habe es gerade noch in den Keller geschafft, "in der Minute", wie Stourzh sich erinnert. Als die Rote Armee näher rückte, hätten die Ärzte einfach ihre Familien in den Keller mitgenommen. "Es gab dort Notquartiere mit Stockbetten. Meine Mutter hat mich und ihre eigene Großmutter mitgenommen. Wir haben dann einige Wochen in den Kellern dieses Klosters wohnen können, das war unsere Rettung."

Die Rettungsstelle war mehr als ausgelastet: "In Döbling ist viel gekämpft worden, viele Leute sind wegen Verletzungen durch Schießereien gekommen und haben sich behandeln lassen. Sogar russische Soldaten, das habe ich selber gesehen. Ich habe dort Hilfsdienste geleistet in einem weißen Mantel", erzählt Stourzh. "An einem Tag sind russische Soldaten oben in das Nonnenkloster eingebrochen, es hat Schießereien gegeben, ob Vergewaltigungen auch, weiß ich nicht. Ich musste dann eine angeschossene Nonne auf einem Krankenbett in das AKH bringen, gemeinsam mit einem anderen. Es hat keine Autos gegeben. Das dürfte in der zweiten Aprilwoche gewesen sein. So am 12./13. April. Das Kloster hatte Lebensmittel gehortet. Es hat funktioniert. Eine Zeitlang hat es kein Trinkwasser gegeben, ich habe mir mit Wein die Zähne geputzt."

Stourzh hatte noch am 1. April 1945, knapp bevor die Kämpfe um Wien begannen, eine denkwürdige Begegnung. "Es war Ostersonntag, ich bin friedlich in den Türkenschanzpark gegangen", erinnert er sich. "Ich hatte ein Buch zum Lesen dabei. Einen Roman. Und da marschiert ein mit Panzerfäusten bewaffneter HJ-Zug vorbei. Singend und mit einer Fahne. Ich habe nicht reagiert, sondern weitergelesen. Daraufhin sind zwei oder drei Anführer dieser Gruppe auf mich zugesprungen und haben mich hochgerissen, sodass ich aufstehen musste. Die haben mich angebrüllt und gefragt, warum ich die Fahne nicht gegrüßt habe. Das war eine Hakenkreuzfahne, ich habe sie, zugegeben, nicht einmal bemerkt. Die haben mich dann zu der Fahne gestoßen und ich musste den Hitlergruß leisten. Erst dann haben sie mich in Ruhe gelassen."

Brenzlige Situationen

Der Zug fanatisierter Jugendlicher, so Stourzh, sei möglicherweise ein Teil jener HJ-Bataillone gewesen, die im Westen Wiens gegen die Rote Armee eingesetzt werden sollten. Als die Rote Armee dann in Wien einmarschiert war, wurde es für Stourzh einige Male brenzlig.

Sowjetische Truppen bei der Einfahrt nach Wien (Mai 1945), rechts ein provisorisches, kyrillisch beschriftetes Ortsschild.
© CC/A. Grigoryev

"Ich habe dann einen Freund besucht im dritten Bezirk in der Reisnerstraße", erinnert er sich, "auf dem Weg dahin, in der Beatrixgasse, bin ich von russischen Soldaten aufgehalten und zur Arbeit eingezogen worden. Die haben einfach gesagt: ,Komm mit.‘ Das war mir unheimlich, weil ich nicht gewusst habe, wollen die mich jetzt behalten? Aber das ist öfter passiert. Die Russen haben Leute auf der Straße aufgehalten, zur Arbeit gezwungen und dann wieder laufen lassen. Ich musste in einer Garage Platten ein- und ausladen. Die haben mich zwei Stunden behalten und dann freigelassen."

Kurz davor gerät Stourzh in dem Keller des Klosters in der Hofzeile in eine lebensbedrohliche Situation: "So um den 12./13. April herum bin ich mitten in der Nacht plötzlich in meinem Stockbett aufgeweckt worden und da stand vor mir ein russischer Soldat mit einer Pistole. Und hinter ihm standen die Ärzte der Rettungsstelle. Auch meine Mutter im weißen Mantel. Da haben sie nach SS-Leuten gesucht. Die Ärzte haben gesagt: ,Der ist doch noch so jung.‘ Und der Russe mit dem Revolver ist weitergegangen. Er ist einfach von Bett zu Bett gegangen. Ich habe auch das glücklich überstanden."

Michael Schmölzer, geboren 1972, hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert und ist seit vielen Jahren Außenpolitik-Redakteur bei der "Wiener Zeitung".