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1945: Als Österreich wieder hochgefahren wurde

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg - und die Zweite Republik begann, unter mancherlei Schwierigkeiten, sich zu formieren. Ein differenzierter historischer Rückblick.


Am 9. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit einem Waffenstillstand und der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten, darunter kroatische und slowakische Truppen. Für das Oberkommando der Wehrmacht unterzeichnete zunächst der Stabschef Hitlers, Generaloberst Alfred Jodl, in der Nacht vom 6./7. Mai in Reims, dem Hauptquartier der Westalliierten, die Urkunde, welche die Niederlage NS-Deutschlands besiegelte.

Zwei Kriegsenden

Der Waffenstillstand sollte am Folgetag in Kraft treten; doch die Sowjets beharrten darauf, dass OKW-Chef Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am 8. Mai in Berlin ein weiteres Mal die Kapitulation vor ihren Marschällen unterzeichnete, welche wiederum am Folgetag in Kraft trat. Deshalb schwanken in den Geschichtsbüchern die Daten über das offizielle Ende der Kampfhandlungen auf unserem Kontinent, weil im Westen der achte, im Osten aber der neunte Mai der Stichtag war, an dem die Kapitulation wirksam wurde. Deshalb feiern die angelsächsischen Länder am 8. Mai den VE-Day (Victory in Europe), in Russland aber gedenkt man am 9. Mai des Sieges über Hitler-Deutschland.

Für die österreichische Bevölkerung spielte das nur eine untergeordnete Rolle, weil sich die Besetzung der heutigen Republik im Osten bereits in den ersten Apriltagen unmittelbar nach Ostern ereignet hatte - und dies unter sehr dramatischen Umständen. Anfang Mai übernahmen die Amerikaner in Tirol das bereits von einer Widerstandsgruppe um Karl Gruber (später Landeshauptmann und sodann ab 25. 9. Unterstaatssekretär und "Außenminister") befreite Innsbruck und konnten vom Norden her in Oberösterreich, vom Süden her mit britischer Unterstützung in Kärnten eindringen.

Ganz ohne Reibungen verlief die Besetzung nicht. Das historische Treffen auf der Ennsbrücke am 8. Mai zwischen russischen und amerikanischen Offizieren (Generalleutnant Walker, USA, und Generalleutnant Brinkow, UdSSR) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich beide großen Besatzungsarmeen in Österreich kurzfristig unter "friendly fire" gesetzt hatten. Einmal bombardierte die US-Luftflotte das Operationsgebiet rund um den Wechsel, später hielten russische Jagdflieger amerikanische Panzerspähwagen in Amstetten für zurückhängende deutsche Truppen, wobei es einige Tote unter den US-Soldaten gab. Im Süden operierten neben US-Truppen auch englische Militärs, die Kärnten und Osttirol besetzten und jugoslawische Formationen zurückdrängten. In Vorarlberg und Tirol folgten französische Besatzer den US-Truppen.

Der entscheidende Kampf rund um Wien, der in eine regelrechte Schlacht zwischen abziehenden SS-Einheiten und der Roten Armee ausartete, fand in nur einer Woche zwischen dem 6. April und dem 13. April statt (siehe dazu den Beitrag von Kurt Bauer vom 4. 4.). Doch in dieser Woche bestand absolute Lebensgefahr für jeden, der zwischen die vor allem am Gürtel und Donaukanal heftig kämpfenden Einheiten geriet. Noch heute erinnern Reste einer russischen Granate in der rechten Eingangstür der Votivkirche an den Häuserkampf in der Innenstadt.

Unbeteiligtes Parlament

Bereits am 14. April 1945 war die Stadt von der NS-Herrschaft befreit, noch vor dem Ende des Monats etablierte sich aufgrund einer Erklärung der "antifaschistischen" Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ die provisorische Staatsregierung unter dem Kanzler Dr. Renner. Wie im Jahr 1918/19 nannte sich die Regierung nicht "Bundesregierung", weil sie zunächst zentralistisch den Staat - soweit das im besetzten Gebiet möglich war - leiten wollte; zudem blieb, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, das Parlament an der Gründung der Zweiten Republik zunächst unbeteiligt.

Karl Renner meinte zwar in seiner Denkschrift über die "Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs", dass er vorgehabt hätte, das Parlament einzuberufen, doch scheiterte dies schon aus faktischen Gründen an der Absenz der meisten Mitglieder von 1933.

Somit war die provisorische Staatsregierung als Gründungskomitee der Zweiten Republik kein gewähltes legislatives Organ (Parlament), sondern ein aus eigenem Antrieb tätig gewordenes Exekutivorgan.

Dennoch sind sich Historiker und Juristen einig darüber, dass die Vorgangsweise der Regierung Renner legitim war. Zum einen standen die politischen Parteien, welche die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April proklamiert hatten, als legitimierende Grundlage hinter der provisorischen Staatsregierung, zum anderen agierten in dieser Regierung (mit Ausnahme der Kommunisten) maßgebliche Politiker, die noch Mandate aus der Ersten Republik innegehabt hatten - Renner war immerhin der letzte Nationalratspräsident des Anfang März 1933 aufgelösten Parlaments. Dennoch konnten sich die Akteure nicht auf eine Ermächtigung der Verfassung stützen, wenn sie diese auch ausdrücklich wieder mit dem Stand vom 5. März 1933 in Kraft setzten und andere wichtige Gesetze beschlossen.

Aus diesem Grund geht die Staatsrechtslehre von einem revolutionären Akt der Gründung aus, die Unabhängigkeitserklärung 1945 gilt als "historisch erste Verfassung" im Sinne Kelsens, obwohl sie an das B-VG im Geiste des Jahres 1920 anknüpfte und die Staatsregierung diese Verfassung mit einigen Ausnahmen nach dem Stand der Novelle 1929 (stärkere Stellung und Direktwahl des Bundespräsidenten) wieder in Kraft setzte.

Renners Pragmatismus

Zu den neuen Verfassungsregeln, welche die Staatsregierung dekretierte, zählten das NS-Verbotsgesetz und die Wiedereinführung der Todesstrafe, welche das B-VG bereits im ordentlichen Verfahren abgeschafft hatte. Einmal mehr zeigte sich der Pragmatismus Renners, der zwar nicht blutrünstig war, aber erkannte, dass die Sowjets abschreckende Urteile auch von den österreichischen Gerichten verlangten.

Die eigentliche Demokratisierung der Zweiten Republik erfolgte erst im Spätherbst 1945. Durch die Nationalratswahl vom 25. November 1945, die eine absolute Stimmen- und Mandatsmehrheit der ÖVP (1,6 Millionen gegenüber 1,43 Millionen Stimmen für die SPÖ; Mandatsstand 85:76) brachte, war die Republik Österreich auch nach den offiziellen Verfassungs-Regeln wiederhergestellt.

Rund 800.000 ehemalige NSDAP-Mitglieder waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Kommunisten blieben als dritte Kraft mit knapp 174.000 Stimmen zwar mit vier Mandaten im Parlament vertreten, waren aber in der neuen Bundesregierung nur mit einem Vertreter (Karl Altmann) präsent, den ihnen Bundeskanzler Figl zugestanden hatte, der ansonsten mit der SPÖ und ihrem Chef Adolf Schärf als Vizekanzler koalierte. Vom Modell her handelte es sich um eine Konzentrationsregierung. Für eine Alleinregierung war die Zeit noch nicht reif, doch die Ablöse des KP-Innenministers Honner durch den SP-Nachfolger Oskar Helmer sicherte den Antikommunisten die Oberhoheit über die Polizei.

Die UdSSR reagierte verschnupft und behinderte als Besatzungsmacht die österreichischen Sicherheitskräfte bei ihrer Arbeit. Nicht selten wurden Gendarmen von sowjetischen Truppen verhaftet, wenn diese in deren Besatzungszone gegen Vergehen von Kommunisten einschreiten wollten, was die Souveränität der Republik beeinträchtigte.

Nahe Lüneburg unterzeichnet der deutsche General Hans Kinzel die Kapitulationsurkunde für die Wehrmacht in Nordwestdeutschland, Dänemark und den Niederlanden. Neben ihm der britische Feldmarschall Bernard Montgomery.
© ullstein bild - Roger-Viollet

Die Konstituierung der ersten Bundesregierung, welche die provisorische Staatsregierung ablöste, erfolgte am 20. Dezember. Nach dem B-VG idF 1929 hätte auch die Direktwahl des Bundespräsidenten erfolgen sollen. Im Gegensatz dazu ermöglichte allerdings ein besonderes Verfassungsgesetz (Wahl-BVG 1945, das auch Landtagswahlen am 25. 11. angesetzt hatte) ausnahmsweise noch eine letzte indirekte Wahl durch die Bundesversammlung, die am 20. 12. zur Kür Renners als Bundespräsident für die Jahre 1945-50 führte, der sodann das Kabinett Figl I angelobte. Er hatte dieses Amt bis zu seinem Tod am Silvestertag 1950 inne.

Zu später Einspruch

Nachträglich zeigte sich, wie klug und pragmatisch die provisorische Staatsregierung gehandelt hatte. Als sich der neu gewählte Nationalrat am 19. Dezember bemühte, eine parlamentarisch legitimierte Verfassungsüberleitung zustande zu bringen, erhoben die Alliierten Einspruch - zu spät, wie Figl richtig erkannte, hatten sie doch die Akte der Staatsregierung im Mai 1945 geduldet, darunter die nicht beeinspruchte Wiederinkraftsetzung der Verfassung und die Schaffung einer "vorläufigen Verfassung".

In der ihm eigenen Klarheit meinte der aus dem Tullnerfeld stammende Bundeskanzler, der bis zum Vorabend des zehnjährigen Staatsvertragsjubiläums lebte (er starb am 9. 5. 1965), dass Österreich ohnehin bereits seine Verfassung habe, weshalb der Einspruch der Alliierten ignoriert werden konnte.

Doch noch lange blieb das drückende Problem der Besatzung und mangelnden Freiheit im Osten Österreichs erhalten. Wirtschaft und Freizügigkeit wären rascher in Gang gekommen, hätte nicht die jahrelange Bevormundung der Besatzer und die Auszehrungspolitik der Sowjets im beginnenden Kalten Krieg die Entwicklung gehemmt. Neue Besatzungs-Hochkommissare von Stalins Gnaden leisteten sich massive Übergriffe, verhafteten Polizisten und Gendarmen und ließen Personen verschwinden, die im Verdacht standen, das von der UdSSR beanspruchte "Deutsche Eigentum" (das waren rund 250 Betriebe) dem sowjetischen Zugriff entziehen zu wollen.

Diese Handlungsweise hatte der russische General Illjitschow mit dem berüchtigten "Befehl Nr. 17" unter Strafe gesetzt. Im Potsdamer Abkommen vom Juli 1945 hatte Stalin mit einem Kunstgriff die Ansprüche der UdSSR auf jene Ressourcen und Bodenschätze mit dem ungenauen Begriff "Deutsches Eigentum in Österreich" umschrieben, den die anderen Alliierten missverstanden, da er wie "deutsches Privateigentum" klang. Deshalb ließen sie es in letzter Minute zu, dass neben den östlichen Staaten Europas auch in der sowjetischen Besatzungszone das ehemals von deutschen Eigentümern beherrschte Wirtschaftsleben in die Hände der Sowjets fiel. Diese beuteten die gesamte Erdölindustrie im Marchfeld, die Donauschifffahrt und andere Schlüsselbetriebe durch die Gründung der USIA-Werke aus und verhinderten damit einen raschen wirtschaftlichen Aufstieg der jungen Republik.

Als sich die Fronten nach dem 11. Juli 1946 verhärteten, wollten die russischen Besatzer sogar die "Erbsenspende" vom 1. Mai 1945 ex post bezahlt haben. Noch lebende Zeitzeugen berichten davon, dass diese Erbsen von Schädlingen befallen und nur mit größter Überwindung konsumiert werden konnten. Trotz der Schikanen der sowjetischen Besatzungsmacht gelang es österreichischen Politikern wie Renner und Figl, im Hotel "Imperial", wo oftmals Gelage in einer teils feindseligen, teils Wodka-getränkten Atmosphäre stattfanden, klare Standpunkte darzulegen und den gemäßigten Marschall Koniev von ihrer Redlichkeit zu überzeugen.

Doch der starke Mann hinter der Militärmacht war der Politoffizier Scheltow, der einst Ringer gewesen war und auf viele Gesprächspartner furchterregend wirkte. Aus heutiger Sicht erscheint dies angesichts der Wiederingangsetzung der demokratischen Instrumente, die Anfang 1946 zum ersten Kabinett Figl und 1953 zur Regierung Raab führten, als historisch nebensächlich. Viel bedeutsamer waren die Initiative und die relative Einigkeit der Staatsregierung (der schlussendlich je neun Politiker der SPÖ sowie der ÖVP und sieben der KPÖ angehörten), die sich am 27. April formierte.

Vorläufige Verfassung

Zwei Tage später traf man sich zunächst im Rathaus, von wo die Regierung unter großem Jubel in das relativ unversehrte Parlamentsgebäude eskortiert wurde, wo sie jene wichtigen Rechtsakte setzte, die am 1. Mai 1945 in Kraft getreten sind. Spätere Gesetze, die erst in der Sitzung des Kabinettsrats vom 13. Mai beschlossen wurden, wie die Vorläufige Verfassung, wurden mit dem historischen 1. Mai 1945 rückwirkend in Kraft gesetzt. Dieser Tag ist somit das Datum der Gründung der Zweiten Republik, wenn auch der 27. April Anspruch auf einen Feiertag hätte, weil an diesem Tag die provisorische Staatsregierung bereits im Sinne des Moskauer Memorandums von 1943 den "Anschluss" für "null und nichtig" erklärte und damit das NS-Regime in Österreich auch formell beendete.

Mit der Bildung der im Westen Österreichs zunächst nicht anerkannten Staatsregierung hatte die moralisch so wichtige Widerstandsbewegung O5 ihre Mission erfüllt, obwohl nur wenige Regierungsmitglieder mit dieser in Kontakt gestanden waren. Die Skepsis der Westalliierten und der Politiker in Tirol, Salzburg und Vorarlberg konnte erst nach einer Länder-Konferenz überwunden werden, die auch dezidierte Antikommunisten wie den Tiroler Gruber in die Renner-Regierung einbezog.

Somit kam es am 25. September 1945 zu einer größeren Umbildung, welche es auch der englischen und der amerikanischen Seite erleichterte, mit den Österreichern in Wien zusammenzuarbeiten. Zunächst hatten die Sowjets die anderen Alliierten nicht einmal nach Wien gelassen, ehe das Besatzungsstatut in Kraft trat, das Wien in vier Zonen sowie die gemeinsam verwaltete Innenstadt teilte. Bewegungsfreiheit war aber nur nach und nach in den West-Zonen möglich, die Sowjets behielten die gefürchteten Personenkontrollen bis 1953 bei.

Später Staatsvertrag

Bemerkenswert ist, dass die Regierungen schon 1945/46 erste außenpolitische Schritte setzten. Als Unterstaatssekretär für Äußeres war es Karl Gruber, der voller Engagement die Tiroler Frage angegangen war. Leider sollte er ohne eigene Schuld in London eine Niederlage einfahren, was seine Hoffnung betraf, Südtirol wieder für Österreich zu gewinnen.

Stattdessen setzte der britische Außenminister Bevin auf die Formel der "Devaluierung der Grenze", das heißt, auf eine wirtschaftliche Öffnung zwischen Nord- und Südtirol - die Sowjets meinten ohnehin, dass die ehemalige Achsenmacht Italien "Österreich nichts schulde". So kam es zum Londoner Vertrag von 1946, den die italienische Seite jahrzehntelang nicht erfüllte, bis Bruno Kreisky die Sache der UNO-Generalversammlung vortrug und zwei Jahrzehnte nach dem wirkungslosen Londoner Abkommen das Südtirol-Autonomie-Paket samt Maßnahmenkatalog geschnürt werden konnte.

Wie lange sich multilaterale Verhandlungen hinzogen, zeigte auch der bereits 1947 angedachte Staatsvertrag, der auf immer neue Hindernisse stieß. So verknüpften die Sowjets sogar die Klärung der Triest-Frage mit dem Staatsvertragsabschluss, konnten aber angesichts der fehlenden politischen Zusammenhänge diesen Standpunkt nicht aufrechterhalten.

Angesichts der Chance eines neutralisierten Österreich zwischen den NATO-Staaten Italien und BRD erkannte Moskau unter Chruschtschow allmählich den Wert eines nicht besetzten, aber auch nicht in eine West- und Ostzone geteilten Österreich. Die klare Absicht des Moskauer Memorandums vom November 1943, in dem bereits die volle Wiederherstellung der Republik Österreich angekündigt worden war, konnten die Alliierten erst zehn Jahre nach ihrem Sieg, am 15. Mai 1955, mit dem Staatsvertrag von Wien einlösen. Doch auch dieser Freudentag wurde nicht zum offiziellen Feiertag.

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Ao. Professor am Institut für
Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät
der Universität Wien.