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Sean Russell - Nazi-Kollaborateur oder Freiheitskämpfer?

Von Dieter Reinisch

Wissen

Bei Demonstrationen und Auseinandersetzungen um die Statue des ehemaligen IRA-Oberkommandanten verschwimmen ideologische Trennlinien.


Sean Russells umstrittene Statue im Dubliner Fairview Park (hier auf bemaltem Sockel) .
© CC Dwmalone

Spätestens seit dem Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ist die Debatte um bedenkliche Denkmäler wieder in Europa angekommen. Zumeist sind die ideologischen Linien klar getrennt. Auf der einen Seite liberale, progressive Protestierende, auf der anderen Seite konservative bis rechtsextreme Gegendemonstranten, wie bei der antirassistischen Demonstration gegen die Churchill-Statue in London Anfang Juni.

Auf der anderen Seite der Irischen See verlaufen die Konfliktlinien nicht derart klar. In Irland hat die Debatte um historische Statuen zu einer neuen Beschäftigung mit der Frage der Geschichte des irischen Republikanismus und der Zusammenarbeit von Irisch-Republikanischer Armee (IRA) und Nazideutschland geführt.

Seit 1951 steht im Dubliner Fairview Park die Statue von Sean Russell. Russell war IRA-Oberkommandant, als er 1940 an Bord eines U-Bootes der deutschen Kriegsmarine starb. In Deutschland hatte Russell um Unterstützung für eine Bombenkampagne in England geworben. Im Juni 2020 forderte der damalige irische Regierungschef Leo Varadkar zusammen mit seinem Parteikollegen, dem Councillor der rechts-konservativen Fine Gael, Ray McAdam, die Entfernung des Denkmals. Russell sei ein "Nazi-Kollaborateur" gewesen.

Schwarz-rote Fahnen

In der Frage der Russell-Statue verschwimmen ideologische Trennlinien. Während konservative Parteien in Dublin die Entfernung des Denkmals fordern, organisierten am 21. Juni Republikaner eine Kundgebung für dessen Erhalt. Redner war Malachy Steenson, ehemaliger Aktivist der Workers’ Party. Diese war aus der IRA entstanden und hatte enge Verbindungen in die Sowjetunion und in die DDR. Ihr ehemaliger Präsident, Sean Garland, soll Anfang der Nullerjahre Dollarnoten für Nordkorea gefälscht haben.

Zu den Mitorganisatoren gehörte die links-republikanische Gruppe Antiimperialist Action Ireland. Einer ihrer Sprecher erklärte im Gespräch mit dem Autor: "Russell war ein militanter Republikaner, nicht mehr und nicht weniger. Er glaubte an eine vereinte Republik Irland und war der Meinung, dass der einzige Weg dahin durch den bewaffneten Kampf führen wird." Andere Teilnehmer der Veranstalter waren Mitglieder von Saoradh ("Befreiung"), dem politischen Arm der Neuen IRA.

Obwohl Russell die Unterstützung Nazideutschlands suchte, traten Teilnehmer mit den schwarz-roten Fahnen der Antifaschistischen Aktion, wie sie von der Kommunistischen Partei Deutschlands in den 1930er Jahren verwendet wurden, auf - um für den Erhalt der Statue eines angeblichen Nazi-Kollaborateurs zu demonstrieren.

Wenige Tage nach der Kundgebung wurde der Sockel der Statue in den Regenbogenfarben bemalt. Die Motive sind unklar, denn von Russell sind keine homophoben Aussagen erhalten. Seán Óg Garland, republikanischer LGBTQ-Aktivist aus Belfast, selbst ein Organisator der Belfast Pride in den 1990er Jahren, verurteilt die Tat: "Es war ein Fehler, die Regenbogenfarben der LGBTQ-Bewegung auf die Statue zu malen. Russell war kein Nazi. Irische Republikaner haben immer gegen Faschismus gekämpft, ob hier gegen die Blueshirts oder in Spanien. Für mich ist die Bemalung der Statue des Patrioten Sean Russell reaktionär."

Sean Russell in den 1930er Jahren.
© Wikimedia Commons

Wer aber ist diese historische Figur, die ideologische Trennlinien in Irland verwischt? Wer ist Sean Russell, und vor allem: War er ein Nazi-Kollaborateur? Sean Russell wurde 1893 in Dublin geboren. Er trat den Irish Volunteers, dem Vorläufer der IRA, im Gründungsjahr 1913 bei und nahm drei Jahre später am Osteraufstand teil. Nach einem überwältigenden Wahlsieg von Sinn Féin kam es von 1919 bis 1921 zum Unabhängigkeitskrieg. Der IRA-Kommandant Russell lehnte das von Michael Collins unterzeichnete Abkommen mit den Briten ab. Im darauffolgenden Bürgerkrieg kämpfte er auf der Seite der Vertragsgegner.

Éamon de Valera (um 1930).
© Library of Congress

1925 war Russell mit zwei weiteren IRA-Mitgliedern in die Sowjetunion gereist, wo sie sich mit Josef Stalin trafen. Von 1927 bis 1936 war Russell als Quartiermeister für die Bewaffnung der IRA verantwortlich. Die IRA war damals geschwächt. 1926 hatte der spätere Präsident Irlands, Éamon de Valera, sie verlassen und die Partei Fianna Fáil gegründet. Nachdem er 1932 an die Macht kam, ging er gegen seine ehemaligen Genossen hart vor. Die IRA wurde verboten, Aktivisten wurden interniert. Zugleich versuchten IRA-Teile, neue politische Parteien anstelle von Sinn Féin aufzubauen. Der linke Flügel verließ die Bewegung und gründete den Republican Congress.

Aus den politischen Debatten der 1930er Jahre hielt sich Russell heraus. 1932 und 1936 besuchte er die USA, um dort für Unterstützung zu werben. Bei seinem zweiten Besuch sandte er an den deutschen Botschafter in Washington, Hans Luther, ein Telegramm, in dem er signalisierte, in Zukunft kooperieren zu wollen. Das irische US-Netzwerk Clan na Gael hatte bereits Kontakte mit Deutschen aufgebaut.

Pragmatischer Militarist

Knapp vor Beginn des Zweiten Weltkriegs begann die IRA eine Bombenkampagne gegen Großbritannien. Seit 1938 war Russell ihr Oberbefehlshaber. Am 29. November 1938 detonierten Sprengsätze an sechs strategischen Punkten entlang der nordirischen Grenze. Einen Tag zuvor waren drei IRA-Mitglieder bei einer verfrühten Explosion gestorben. Die Kampagne in England begann am 16. Jänner 1939, vor allem Infrastrukturziele sollten getroffen und die englische Wirtschaft geschwächt werden.

Um Waffen und Geld für die Kampagne zu bekommen, reiste Russell 1940 nach Deutschland, um den SS-Mann Edmund Veesenmayer in Berlin zu treffen. Daneben soll es Gespräche mit dem Außenminister Joachim von Ribbentrop gegeben haben. Im Gegensatz zu anderen, politisch stärker motivierten Republikanern, interessierte Russell sich kaum für europäische Politik. Ihm ging es einzig darum, die irische Teilung durch bewaffneten Kampf zu beenden. Mit der Ideologie der Nazis verband ihn 1940 genauso wenig wie mit dem Bolschewismus, als er 1925 in der Sowjetunion war.

In dieser Haltung stand Russell in einer Reihe von irischen Nationalisten. Die ersten Republikaner Irlands erhofften sich im 18. Jahrhundert Hilfe vom revolutionären Frankreich. Im 19. Jahrhundert kooperierten irische Geheimbünde mit russischen Anarchisten in der Beschaffung von Dynamit auf beiden Seiten des Atlantiks.

Roger Casement.
© Wikimedia Commons

Roger Casement versuchte im Ersten Weltkrieg, in den deutschen Kriegsgefangenenlagern Iren für den Kampf gegen England zu rekrutieren. Casement hatte die Jahrzehnte davor im Kongo und Amazonas verbracht, von wo aus er der britischen Krone von den Verbrechen des Kolonialismus berichtete. Dafür wurde er in den Adelsstand erhoben. Sir Roger Casement war als Republikaner jedoch weniger erfolgreich als noch als Menschenrechtskommissar. Sein Plan, deutsche Waffen nach Irland zu schmuggeln, scheiterte. Nach der Landung wurde er geschnappt und als einer der Rebellen von 1916 hingerichtet.

Deutsche Unterstützung für Revolutionäre war nicht ungewöhnlich. Auch Lenin fuhr mit 30 weiteren Bolschewiki 1917 dank deutscher Hilfe nach Russland. Russell und die IRA der 1930er Jahre sahen sich in dieser Tradition: Englands Schwierigkeiten sind Irlands Möglichkeiten. Dafür war ihnen jeder Partner recht.

Nicht alle Republikaner sahen es wie Casement und Russell. Die vom Sozialisten James Connolly, ebenfalls einer der 1916 hingerichteten Aufständischen, gegründete Gewerkschaftsmiliz Irish Citizens’ Army hatte im Ersten Weltkrieg ein Transparent über den Eingang ihres Hauptquartiers gespannt, auf dem es hieß: Wir dienen weder König noch Kaiser, sondern Irland.

Russell sah sich dagegen als pragmatischer Militarist, der jede Hilfe annahm. Der Historiker Adrian Hoar zitiert ihn mit den Worten: "Ich bin kein Nazi. Ich bin nicht einmal ein Freund der Deutschen. Ich bin ein Ire, der für die Unabhängigkeit Irlands kämpft. Die Briten sind seit mehreren Jahrhunderten unsere Feinde. Heute sind sie auch die Feinde Deutschlands. Wenn es Deutschland passt, uns Hilfe für unser Streben nach Unabhängigkeit zu geben, dann bin ich bereit, diese anzunehmen, aber nicht mehr. Und es dürfen keine Gegenleistungen verlangt werden."

Am 14. August 1940 wurde Russell im Atlantik beigesetzt - eingewickelt in eine Hakenkreuzflagge. An Bord des deutschen U-Bootes war auch Frank Ryan. Dieser hatte in Spanien mit den internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft. Anders als Russell ist Ryan als glühender Sozialist und Antifaschist in Erinnerung geblieben.

Die Russell-Statue im Fairview Park wurde 1951 errichtet. Viele sahen darin eine kommunistische Ästhetik. Aufgrund seiner Reise in die Sowjetunion war Russell im erzkonservativen Irland der 1950er Jahre als Kommunist verschrien. Sein Besuch in Berlin interessierte damals nicht. Im Mai 1965 wurde daher eine neue Statue mit Russell "in weniger kommunistischer Pose" aufgestellt.

Geköpfte Statue

2005 wurde die Statue von einer Antifa-Gruppe geköpft. In einer Aussendung hieß es: "Russell war ein Fanatiker, der Irland mit Hilfe der Gestapo vereinigen wollte." Vier Jahre später wurde von der National Graves Association, die sich der Pflege der Gräber und Mahnmale irischer Unabhängigkeitskämpfer verschrieben hat, die heutige Statue enthüllt.

Die enthauptete Statue.
© CC Dwmalone

Für die Aktivistin Cáit Trainor war Russell schlicht und einfach ein "traditioneller irischer Republikaner": "Wie viele vor ihm suchte er um Hilfe im Ausland an, er war weder Nazi noch Bolschewik." Differenzierter sieht es der Historiker Brian Hanley im Gespräch mit dem Autor: "Sean Russell war kein Nazi, aber er war politisch blind für die Realitäten und dafür, was es bedeutet, mit den Nazis zusammenzuarbeiten. Seine Statue ist ein Denkmal für die Generation der irischen Republikaner der 1940er Jahre. Heutige Republikaner sollten eine offene Diskussion über die Politik der damaligen Zeit führen."

Die beiden konservativen Parteien Fianna Fáil und Fine Gael versuchen, mit den Angriffen auf Russell Sinn Féin in Verbindung mit Nazi-Kollaborateuren zu bringen. Sinn Féin, der politische Arm der IRA, war der Wahlsieger der Parlamentswahlen im Februar, wurde als stärkste Partei aber von den Koalitionsverhandlungen ausgeschlossen. Ihre Umfragewerte sind anhaltend hoch.

Doch wie eine von Hanley geforderte Debatte innerhalb des Republikanismus täte auch den beiden konservativen Parteien eine Aufarbeitung ihrer eignen Vergangenheit gut. Die faschistischen Blueshirts der 1930er Jahre sind eine Vorläuferorganisation der
Fine Gael des ehemaligen Pre-mierministers Leo Varadkar. Ihr Anführer, Eoin O’Duffy, orientierte sich mit seinen Schlägertrupps an der British Union of Fascists von Oswald Mosley.

Der Fianna-Fáil-Gründer und spätere Präsident Éamon de Valera stattete der deutschen Botschaft am 3. Mai 1945 einen Kondolenzbesuch ab, nachdem er vom Selbstmord Hitlers erfahren hatte.

Dieter Reinisch ist Historiker am Institute for Advanced Study, Central European University, und lehrt an der Webster Vienna Private University.