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Von wem kam der zweite Schuss auf Engelbert Dollfuß?

Von Kurt Bauer

Wissen
Die Leiche von Engelbert Dollfuß wurde im Bundeskanzleramt aufgebahrt.
© ullstein bild

Am 25. Juli 1934 starb der Bundeskanzler des Ständestaates, getötet von einer Kugel aus der Waffe des SS-Unterführers Otto Planetta. Neue Erkenntnisse über die ungelöste Frage, wer damals noch geschossen hat.


An jenem schwülen Sommertag, Mittwoch, den 25. Juli, fuhr eine Lkw-Kolonne in raschem Tempo durch die Löwelstraße Richtung Ballhausplatz. Auf den Plattformen der Lastautos standen dicht gedrängt Uniformierte - Soldaten des Bundesheeres, wie es schien, flankiert von Beamten der Bundessicherheitswache. Um 12.53 Uhr passierten die ersten Wagen das weitgeöffnete Tor des Bundeskanzleramtes. Im Hof sprangen die vorgeblichen Soldaten sogleich ab und verteilten sich planmäßig im weitläufigen Gebäude.

Eine Schar von ungefähr dreißig Mann eilte über die breite Feststiege in den oberen Stock. Dort angekommen, teilte sich die Schar in drei Gruppen auf. Geführt von einem Mann in der Uniform eines Leutnants des Bundesheeres, Otto Planetta, drang eine der Gruppen in das vor ihnen liegende Eckzimmer ein, ein Durchgangszimmer, das auf der linken Seite in das Arbeitszimmer des Kanzlers führte, rechts in den Kongresssaal.

Otto Planetta schoss als Erster auf Dollfuß - irrtümlich.
© Wikimedia Commons

An der Tür zu diesem Saal nahm Planetta einen sehr großen und einen sehr kleinen Mann wahr, offenbar auf der Flucht. Er eilte auf diese zu, die Pistole in der Hand. Was nun geschah, darüber gehen die Aussagen der Anwesenden weit auseinander. Es scheint zu einem Handgemenge mit dem Kleinen gekommen zu sein. Ein Schuss ging los, jemand fiel, Planetta beugte sich zu dem Getroffenen nieder - und erkannte den Bundeskanzler. Er blutete. Engelbert Dollfuß erlag gegen 15.45 Uhr seiner schweren Verletzung. Nichts und niemand hätte sein Leben noch retten können.

Ungeplanter Tod

Die Putschisten hatten die Ermordung des Bundeskanzlers nie geplant. Man wollte ihn zur Abdankung zwingen und an seine Stelle den nazifreundlichen Christlichsozialen Anton Rintelen setzen. Otto Planetta, der entlassene Stabswachtmeister des Bundesheeres und Unterführer der illegalen SS-Standarte 89, sollte Dollfuß arretieren, nicht erschießen. Der ungeplante Tod Dollfuß’ war der Hauptgrund für das Scheitern des Unternehmens.

Bei der am Abend des 25. Juli im Bundeskanzleramt überhastet und oberflächlich durchgeführten Obduktion stellte sich allerdings heraus, dass Dollfuß nicht von einer, sondern von zwei Kugeln getroffen worden war. Der erste, von Planetta ungewollt abgegebene Schuss hatte den Kanzler tödlich verletzt, der zweite, offenbar bewusst abgefeuerte, ihn nur oberflächlich getroffen. Das Gericht machte Planetta für beide Schüsse verantwortlich - und fälschte, wohl aus Staatsräson, im Protokoll sogar die Aussagen eines wichtigen Zeugen, der nur einen Schuss wahrgenommen hatte.

Der ermordete Bundeskanzler unmittelbar nach dem Attentat im Bundeskanzleramt.
© ullstein bild- Imagno/ÖNB

Bei unbefangener Befragung sämtlicher verfügbaren Quellen stellt sich tatsächlich heraus, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass Planetta zweimal geschossen haben könnte. Von wem stammte dann der zweiten Schuss? Wer war so brutal gewesen, erneut eine Waffe auf den hilf- und wehrlos am Boden liegenden Kanzler zu richten und abzufeuern? Diese Frage beschäftigte geschichtlich Interessierte, Historiker und Verschwörungstheoretiker durch die Jahrzehnte.

Die bekannteste der Spekulationen über den ominösen zweiten Schuss wurde von einem sozialdemokratischen Juristen namens Fritz Kreisler in die Welt gesetzt. Er hatte als Zuseher am Prozess gegen Planetta und Holzweber teilgenommen und zuvor - seinen Aussagen nach - als Gerichtspraktikant den Prozessakt studiert. Dadurch sei er dem wahren Täter auf die Spur gekommen.

Im Herbst 1934 brachte er in der Tschechoslowakei, wohin er mittlerweile emigriert war, eine Broschüre mit dem Titel "Wer hat Dollfuß ermordet?" heraus. Heimwehrführer Emil Fey, der frühere Vizekanzler und Sicherheitsminister, der von Dollfuß Degradierte und Gedemütigte, soll es gewesen sein. Eine abstruse These. Fey hatte sich als Gefangener der Putschisten im Kanzleramt zweifellos ambivalent verhalten. Aber auf Dollfuß gefeuert? Mit Sicherheit nicht. Kreisler zeigte, wie der sozialdemokratische Journalist Friedrich Scheu schreibt, später übrigens "Anzeichen von Verfolgungswahn".

War es ein Polizist?

1975 erklärte der Kanzleramtsputschist Wilhelm Kern bei einer Befragung durch den Historiker Gerhard Jagschitz, der zweite Schütze habe seinen Kameraden die Tat in der Nacht nach Ende des Putsches gestanden. Einer der an der Besetzung beteiligten, später hingerichteten Polizisten sei es gewesen. Nach Lage der Dinge kann es sich nur um den im August 1934 justifizierten Sicherheitswachebeamten Franz Leeb gehandelt haben.

Was ist von dieser These zu halten? Einiges. Immerhin war Kern Mitglied jener SS-Einheit gewesen, die das Bundeskanzleramt gestürmt hatte. Er mochte das Geständnis Leebs selbst gehört oder durch Dritte davon erfahren haben. Persönlich beobachtet hatte er die Vorgänge im Eckzimmer freilich nicht.

Von den im Lauf der Jahre lancierten, in der Regel abenteuerlichen Theorien über den zweiten Schuss sei eine aus dem Jahr 2014 herausgegriffen. Georg Markus, Autor populärhistorischer Bücher und Zeitungsartikel, hat sie von Hofrat Peter Broucek, einem pensionierten Militärhistoriker und Beamten des Kriegsarchivs, erfahren, geglaubt und publiziert. Demnach soll ein aktiver Major des Bundesheeres namens Rudolf Prochaska der zweite Schütze gewesen sein.

General Rudolf Kiszling, Leiter des Kriegsarchivs von 1936 bis 1945, will sich persönlich an der Planung des Dollfuß-Attentats beteiligt und Planetta und Prochaska für dessen Durchführung angeworben haben. Jener Kiszling erzählte diese Räuberpistole im Greisenalter dem jungen Archivar Broucek, der sie wohl fünfzig Jahre später dem gutgläubigen Publizisten weitererzählte.

Hier ist nicht der Platz, um im Detail auf diese Geschichte einzugehen. Sie widerspricht allem, was über Hintergründe, Planung und Durchführung des Putsches bekannt ist. Ein der illegalen SA angehörender Rudolf Prochaska war nie und nimmer am 25. Juli 1934 in dem von der illegalen SS besetzten Bundeskanzleramt gewesen, und ein Rudolf Kiszling hatte weder mit der Vorbereitung des Putsches das Geringste zu tun gehabt noch in der NS-Führung von 1934 irgendeine Rolle gespielt.

Kreis der Putschisten

Tatsächlich kann derjenige, der ein zweites Mal auf Kanzler Dollfuß feuerte, nur in der Gruppe der sogenannten Kanzleramtsputschisten zu finden sein. Das sind jene rund 150 Angehörigen der SS-Standarte 89, die am 25. Juli 1934 das Bundeskanzleramt besetzten, um die Regierung zu stürzen. Der Amateurhistoriker Nikolaus Kukula hat sich auf Basis von Originalquellen intensiv mit dieser Gruppe beschäftigt. Er könnte die Lösung des Rätsels gefunden haben. Betonung auf "könnte".

Einer der Besetzer des Kanzleramtes hieß Alois Platzer, geboren 1911 in Wien. Nach Ende der NS-Ära betätigte sich der gelernte Maschinenschlosser als Konfident der Wiener Staatspolizei. Eine von ihm verfasste 18-seitige Aufstellung ("Liste P") fand in zahlreichen Verfahren vor den nach 1945 zur Ahndung von NS-Verbrechen gebildeten Volksgerichten Verwendung. Und in dieser Liste gab Platzer unter anderem an, der von ihm als SS-Untersturmführer titulierte Otto Käfinger habe den zweiten Schuss auf Dollfuß abgegeben.

SS-Mann Otto Käfinger könnte es gewesen sein, der den zweiten Schuss abgab...
© Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, Gauakt Nr. 45.907

Ein lapidarer Hinweis, mehr nicht. Das Wiener Volksgericht ging dieser Anschuldigung nie nach. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden wurde Käfinger nie der Prozess wegen seiner Beteiligung am Juliputsch und illegaler NS-Betätigung gemacht. Das könnte auf die notorische Überlastung der Justiz zurückzuführen sein. Aber es könnte auch einen speziellen tagespolitischen Grund gehabt haben: In den Nachkriegsjahren waren der ÖVP Gerichts-verfahren, bei denen heikle Fragen zum Juliputsch erörtert worden wären, erkennbar unangenehm. So etwa tat Bundeskanzler Figl alles, um die laufenden Vorerhebungen gegen Rudolf Weydenhammer, den Chefkoordinator des Juliputsches, einstellen zu lassen - was ihm schließlich 1951 auch gelang.

Zurück zu Käfinger. Es fragt sich, ob der knappe Hinweis Platzers, jener sei der sagenumwobene zweite Schütze gewesen, überhaupt von Relevanz ist. - Nun, schon 1938 hätte die SS gerne gewusst, was im Eckzimmer am Ballhausplatz Nr. 2 eigentlich genau vorgefallen war. Reichsführer-SS Heinrich Himmler ließ eine Historikerkommission bilden, die diese Frage klären sollte. Die Kommission nahm alle Tatzeugen der Erschießung Dollfuß’ direkt am Tatort ins Kreuzverhör, elf Personen insgesamt. Unter ihnen: Otto Käfinger und Alois Platzer.

Keine Beweise

Nur der oben erwähnte Polizist Leeb sowie Käfinger seien längere Zeit allein mit Dollfuß gewesen, stellten die SS-Historiker fest. Die zwei galten deshalb als besonders verdächtig. Leeb konnte nichts dazu sagen, er war tot. Und Käfinger? Dieser bestritt entschieden, geschossen zu haben. Und das, obwohl Himmler dem Täter bereits vorab Straffreiheit für sein unbedachtes Verhalten zugesagt hatte. Da sich auch Käfingers Kameraden verstockt und unwissend gaben, resignierte die Historikerkommission und empfahl die Exhumierung Dollfuß’. (Was nie geschah.)

Erwähnt sei, dass die SS-Akten erst 1964 in der Tschechoslowakei gefunden wurden. Das zwischen 1945 und 1955 bestehende Volksgericht hatte davon nichts wissen können. Und nach 1964 interessierte sich die Justiz nicht mehr für Käfingers mögliche Tat. Einzig wegen seiner Beteiligung an einem massenmörderischen SS-Sonderkommando während des Krieges geriet er noch einmal kurz in den Fokus von bald eingestellten Ermittlungen.

Ist Platzer glaubwürdig? Prinzipiell ja. Denn im Gegensatz zu anderen Personen, die behauptet hatten, den zweiten Schützen zu kennen, war er tatsächlich persönlich zum Tatzeitpunkt am Tatort gewesen. Bewiesen ist die Täterschaft Käfingers damit keineswegs. Aber vielleicht findet sich irgendwann irgendwo doch noch ein verstaubtes Aktenkonvolut oder ein posthumes Geständnis, das näheren Aufschluss geben könnte. Bis dahin hat der SS-Angehörige Otto Käfinger als derjenige zu gelten, der am ehesten als zweiter Schütze auf Dollfuß in Betracht kommt.

Kurt Bauer, Historiker, Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Autor des Buches "Hitlers zweiter Putsch" (Residenz Verlag, 2014).

Der Autor dankt Nikolaus Kukula, der ihm seine Forschungsergebnisse zur Verfügung gestellt hat.