Nach Verhandlungen vom 18. September 1973 bis zum 21. Juli 1975 in Genf wurde vor 45 Jahren, am 1. August 1975, die Schlussakte von Helsinki der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet. Der norwegische Historiker Odd Arne Westad zählt sie in seinem Buch "Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte" rückblickend zu den "größten Erfolgen der Entspannungspolitik in Europa".
Der zweijährige Verhandlungsvorlauf von hunderten Diplomaten aus 35 Ländern unter Einschluss Kanadas, der UdSSR und der USA wurde in der westlichen Öffentlichkeit kritisch beäugt. Kalte Krieger hatten keine Freude. Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski war entschieden dagegen.
Es war Egon Bahr, der Willy Brandt vom Konzept des "Wandels durch Annäherung" überzeugt hatte. Es basierte auf der Überlegung, dass man mit den sozialistischen Staaten nicht erfolgreich verhandeln könne, wenn ihre Bevölkerungen zugleich aktiv und offen zum Regierungssturz ermutigt wurden. Brandt wusste, dass die Überwindung der Teilung Europas noch viel Zeit benötigte.
Eine Vision am Beginn
In der Zwischenzeit sollten Kriege verhindert und menschliche Begegnungen ermöglicht werden. Vor der UNO führte Brandt 1973 aus, dass zwischen beiden deutschen Staaten "ein Zustand des täglichen Friedens" nötig sei. Die exorbitanten Rüstungskosten gelte es zu reduzieren: "Sollte es gar gelingen, durch vertrauensbildende Schritte jene ungeheuerliche Verschwendung zu mindern, die das Ergebnis des Misstrauens zwischen antagonistischen Systemen ist, dann würden wir damit ein historisches Beispiel gesetzt haben." Und weiter: "Der Friede darf in Wahrheit, wenn man ihn gewinnen will, nicht Sieg des einen und Niederlage des anderen verlangen, sondern nur den einen Sieg der Vernunft und der Mäßigung erstreben." Brandts Vision für ein friedlicheres Europas sollte dazu beitragen, die KSZE zu einem Abschluss zu führen.Nach der westlichen Ablehnung der Stalin-Noten von 1952, die auf einen Friedensvertrag mit einem koalitionsfreien Deutschland abzielten, schlug die Sowjetunion unter Chruschtschow eine Konferenz für eine ganz Europa umfassende Sicherheitsstruktur vor, welche die Machtblöcke in Europa überwinden sollte. Nach Moskaus Wunsch waren die USA als "nichteuropäische" Macht fernzuhalten, was jedoch die EWG-Staaten, die allesamt der NATO angehörten, rundweg ablehnten. Ende der 1960er Jahre unterbreitete Moskau neuerdings Angebote für Verhandlungen, die auf positivere Reaktionen stießen, wobei den Westeuropäern viel daran lag, dass die Entscheidungen der beiden Supermächte zur Entspannung nicht über ihre Köpfe hinweg getroffen werden sollten.
Die Ostpolitik der sozial-liberalen deutschen Koalition unter Brandt und Scheel (1969-1974) hatte zu Verträgen mit Moskau, Warschau und Prag geführt, die durch Gewaltverzicht viel Angst vor der "deutschen Gefahr" abbauen halfen. Der Grundlagenvertrag mit der DDR war ein konsequenter weiterer Schritt zur Normalisierung. Der Westen war trotz der sowjetischen Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 immer noch zu Verhandlungen bereit, denn es gab keine Alternative zu Verhandlungen mit der UdSSR, wollte man die Konfrontation beenden.

Leonid Breschnew legte großen Wert auf die Zusicherung des territorialen Status quo in Europa. Über die Normalisierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sollte die westliche Embargo-Politik aufgeweicht und ein Beitrag zur Modernisierung der sowjetischen Ökonomie geleistet werden.
Aufeinander zuzugehen wurde möglich, weil Einigkeit über das Fortbestehen von NATO und Warschauer Pakt bestand. Trotz zeitweiliger Skepsis gegenüber der deutschen Ostpolitik und dem KSZE-Prozess gestattete die US-Administration unter Präsident Richard Nixon Handlungsspielräume für ihre westeuropäischen Verbündeten, um Verhandlungschancen mit dem Osten zu sondieren.
Europas kleinere Staaten forderten, von Frankreich unterstützt, Fragen der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte neben vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich und wirtschaftliche Zusammenarbeit in die Verhandlungen einzubeziehen. Eine weitere westliche Bedingung bestand in der Einbeziehung der USA in die Unterredungen, was der Kreml schlucken musste. Wiederkehrende Konsultationen in der NATO über den Stand der jeweiligen Verhandlungen (damit keine allianzinternen Konflikte aufkommen sollten) wurden von östlicher Seite akzeptiert.
Für das Erstaunlichste auf dem Weg zur KSZE hält Historiker Westad die Aktivitäten Polens und Ungarns, die zuvor noch loyal am Einmarsch in Prag 1968 mitgewirkt hatten, nun aber eigene Pläne für eine schrittweise Überwindung der Teilung Europas präsentierten. Ebenso wie im Westen gab es auch auf östlicher Seite Konsultationen innerhalb des Warschauer Paktes. Die Sowjets gerieten ab 1973 zunehmend in ein Dilemma: Sie hatten den Verhandlungsprozess angestoßen mit der Absicht, die Position der Amerikaner in Europa zu schwächen und sie auf Dauer zu verdrängen.
Breschnews Irrtum
Die gleichzeitige Intensivierung der Beziehungen zu den USA bei fortbestehendem Wunsch der Europäer nach einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz zwang Moskau, diesen Prozess fortzusetzen. Menschenrechtsfragen wurden schließlich in "Korb III" der Arbeitsfelder der Konferenz aufgenommen, nachdem die UdSSR ihrer Aufnahme zur allgemeinen Überraschung zugestimmt hatte. Breschnew sah jedoch diesen Aspekt als relativ gering zu entrichtenden Preis, um seine Positionen in anderen Bereichen zu behaupten.
Der KGB wusste um den unbedingten Wunsch des KPdSU-Chefs nach einer Vereinbarung mit dem Westen und hielt intern fest, dass Korb III letztlich der eigenen Interpretation unterliegen würde: "Er wird durch praktische Schritte der Partei und der Organe der Staatssicherheit umgesetzt werden. Korb III wird niemandem die Möglichkeit geben, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen."
Die Ratifizierung der Schlussakte bezeichnet Westad als "die Krönung der Entspannungspolitik in Europa". Breschnew empfand sie als einen großen Erfolg. Souveräne Staatengleichheit, Unverletzlichkeit der Grenzen und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten waren die hehren Anliegen der Sowjetunion seit ihrer Gründung im Jahre 1922. Weniger in Betracht zog Moskau elementare Grundsätze der Schlussakte wie etwa über Individualrechte, Grundfreiheiten bezüglich Gedanken, Gewissen, Religion und Überzeugung ohne Unterschied von Herkunft, Geschlecht, Glaubensbekenntnis oder Sprache sowie die Anerkennung der universellen Bedeutung der Menschenrechte. Breschnew wiegte sich in der Sicherheit, dass dies alles nur Schall und Rauch sei, Begriffe, die nicht viel bedeuten würden, was eine kolossale Fehleinschätzung war. Sie sollten mehr politische Sprengkraft besitzen und weitreichendere Konsequenzen haben als atomare Sprengköpfe von Mittelstreckenraketen.
Mit der KSZE-Schlussakte hatte der Entspannungsprozess kein Ende genommen. Die Umsetzung von "Korb I" (Sicherheitsfragen in Europa), "Korb II" (Kooperationen auf den Sektoren Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt) und "Korb III" (Menschen- und Bürgerrechte, Kultur- und Informationsaustausch) sollte in Folgetreffen in Belgrad (1977-1979), in Madrid (1980-1983) und schließlich in Wien (1986-1989) geprüft werden. Dem KSZE-Nachfolgeprozess haftete jedoch lange Zeit ein negatives Image an. Da die Schlussakte eine bloße Absichtserklärung ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit war, wurden die Menschenrechtsforderungen zunächst nur sehr eingeschränkt im Osten verwirklicht.
Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow lehnten die KSZE ab, in der sie eine Rechtfertigung der Vormachtstellung der UdSSR in Ostmitteleuropa erblickten. Die Opposition im Osten reagierte in den ersten Jahren nach der Schlussakte reserviert und sah die Gefahr eines Ausverkaufs ihrer Ziele durch den Westen. Für den Historiker Timothy Garton Ash war der Beitrag der KSZE nichts anderes als ein ex-post konstruierter "Helsinki-Mythos". Dafür sprachen die scheinbare Besiegelung des hegemonialen Anspruchs der UdSSR über Mittel- und Osteuropa, die Festschreibung der Teilung des Kontinents, der angebliche "Verrat" am Freiheitsstreben jenseits des "Eisernen Vorhangs", die Gegensätze bei den Folgetreffen, die sowjetische Aufrüstung, der NATO-Doppelbeschluss, der neue Rüstungswettlauf, die Modernisierung der Atomwaffen, die Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme und das Kriegsrecht in Polen.
Diplomatische Umkehr
Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher erkannte nach Belgrad jedoch die langfristige Wirkkraft des Nachfolgeprozesses. Für ihn war die Schlussakte von 1975 "ein internationaler Vertrag neuen Typs". Er begriff sie in ihren Folgen als "Schulfall einer Umkehrung einer sowjetischen Idee". Die Verhinderung der Verdrängung der USA aus Europa durch ihre Einbeziehung in das Konferenzgeschehen sowie die Stärkung ihrer Verantwortung in und für Europa durch die NATO, die ausgebliebene Bestätigung der russischen Hegemonialstellung in Mittel- und Osteuropa sowie die Hervorhebung der humanitären Dimension von Politik als zentralem Thema zielten alle auf das Gegenteil der sowjetischen Ziele.
Der KSZE-Prozess war nicht - wie Zeitgenossen es sahen -Appeasement gegenüber Moskau, sondern "Teil eines umfassenden politisch-militärischen Strategiewechsels des Westens" im Kalten Krieg, wie der deutsche Historiker Matthias Peter es formuliert hat. Das KSZE-Folgetreffen in Wien brachte, auch dank Gorbatschow, den Durchbruch im Jänner 1989.
Doch bis heute besitzt weder die Thematik eines konstruktiven Umgangs mit Russland den gebührlichen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis des "neuen Europa", noch ist es offensichtlich begreiflich zu machen, wie man eine gesamteuropäische Friedensordnung ohne Russland zustande bringen will. Dass dieses Thema keinen prominenten Platz auf der Agenda des deutschen EU-Ratsvorsitzes hat, kann man historisch-politisch schwerlich verantwortlungsvoll nennen.