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Kärnten: Die Wasserscheide als Grenze

Von Eugen Freund

Reflexionen

Wie die USA nach dem Besuch einer Militärdelegation im Jänner des Jahres 1919 das Schicksal des Bundeslandes mitbestimmten. Ein Rückblick.


Der Zug der "K. u. K. Südliche Staatsbahnen" fährt langsam im Klagenfurter Hauptbahnhof ein. Er hat an diesem 17. Jänner 1919 wieder einmal Verspätung, die Schneemengen der letzten Tage haben es nicht zugelassen, den Fahrplan einzuhalten. Die Kärntner Delegation, die am Bahnsteig auf die Gäste wartet, ist völlig durchfroren. Seit über einer Stunde stehen sie nun schon dort, der Bahnhof selbst war ungeheizt, es hätte wenig Sinn gehabt, sich drinnen aufzuhalten. Sie blicken sich um, ihre Augen fixieren den vorderen Teil des Zuges: Aus dem ersten Waggon steigt ein hochgewachsener Mann, unter seinem dicken, schwarzen Mantel zeigen sich hohe Lederstiefel. "Das muss er sein," sagt Josef Sablatnik, der Abgesandte des "Landesverwesers" Arthur Lemisch, zum Chauffeur, der mit ihm gekommen ist.

Als sie den Waggon erreichen, stehen dort insgesamt drei Männer in Militäruniformen. "Hi, I’m Lieutenant Colonel Sherman Miles - this is Major Lawrence Martin and here is Second Lieutenant LeRoy King - we’re happy to be here!" Der amerikanische Akzent war so stark, dass Sablatnik nur "Schermen", "Meidschor" "Martin" und "King" ausmachen konnte. "Gut afternun, welkom to Carinsia," entgegnete der Kärntner, "come wis us, vi brink you tu se hotel." Schweigend und erleichtert, nicht länger dem Akzent des jeweils anderen zuhören zu müssen, gehen die fünf Männer durch das Bahnhofsgebäude.

Abwehrkampf

Draußen wartet eine Gräf-&-Stift-Limousine, der Dienstwagen des Landesverwesers. Der Chauffeur dreht an der Kurbel unter dem Kühler, mehrmals, mühsam springt der kalte Motor an. Eine dichte, blaue Ölwolke strömt aus dem Auspuff. Die Abgase lassen die Männer fast einstimmig husten, sie verscheuchen, so gut es geht, mit ihren Händen den Gestank. Schnell verstauen sie die Koffer hinter den Rücksitzen und nehmen im Fahrzeug Platz. Nach einer kurzen Fahrt durch die Stadt, vorbei an der Landesregierung, die sie in den kommenden Tagen noch öfter besuchen werden, erreichen sie ihr Ziel, das neu errichtete Hotel Moser Verdino in der Burggasse.

So oder so ähnlich könnte es sich in diesem Jänner 1919 abgespielt haben, als sich die USA ein Bild von der Situation in Kärnten machen wollten. Die Herren kamen aus Wien, wo sie im Auftrag des hoch angesehenen Diplomaten und Historikers Archibald Cary Coolidge die "endgültige Grenze zwischen Österreich und Jugoslawien in den Bundesländern Kärnten und der Steiermark" untersuchen sollten. Der Erste Weltkrieg war zwar vorüber, doch in Kärnten wurde weitergekämpft. Truppen des jugoslawischen SHS-Staates waren im November 1918 in die Steiermark und in Kärnten eingedrungen und hatten u. a. Ferlach, Völkermarkt und Lavamünd besetzt.

Archibald Cary Coolidge (1866–1928).
© Jessamyn

So begann der Kärntner Abwehrkampf, der durch immer neue Vorstöße der jugoslawischen Truppen bis in den Juni 1919 anhielt. Im Friedensvertrag von Saint-Germain wurde dann das Kanaltal Italien und Unterdrauburg Jugoslawien zugesprochen. Gleichzeitig wurde auch beschlossen, die Kärntner mit Hilfe einer Volksabstimmung über die künftige Grenze entscheiden zu lassen. Zehn eng geschriebene Schreibmaschinen-Seiten lieferte Lt. Col. Sherman Miles mit seinen Adjutanten Lawrence Martin und LeRoy King unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Kärnten an Archibald Cary Coolidge ab.

Ich war während meiner Zeit als ORF-Korrespondent in Washington im Jahr 1995 auf diese Dokumente gestoßen und hatte sie mir aus der "National Archives and Records Administration" ausheben lassen. Damals kam eine Delegation der Kärntner Landesregierung unter Landeshauptmann Christof Zernatto und seinem Stellvertreter Karl-Heinz Grasser extra in die USA, um die Amerikaner posthum zu ehren, denen ihr Land seine endgültige Grenze nach Süden (mit-)verdankt.

Sherman Miles blickte aus seinem Hotelfenster in der Klagenfurter Innenstadt: Es schneite noch immer. Seit drei Tagen war nicht daran zu denken, das Land zu erkunden, sich umzusehen und mit den Menschen außerhalb der Landeshauptstadt zu sprechen. Miles wollte vor allem auch die Stimmung unter den Slowenen einfangen, um herauszufinden, wie die Volksgruppe denkt und wohin sie tendiert. Immerhin hatte seine Delegation gleich am zweiten Tag Arthur Lemisch besuchen können, der als Landesverweser die oberste politische Institution Kärntens war.

Arthur-Lemisch-Gedenktafel in Sankt Veit an der Glan.
© Popie

Lemisch war ein gebildeter Mann, ein Mittfünfziger mit schütterem Haar, buschigen Augenbrauen und einem grauen, weit ausladenden Oberlippenbart. Sein Vater war Arzt, seine Mutter hatte am Wörthersee zwei mittlerweile denkmalgeschützte Häuser bauen lassen, die Villa Seewarte und die Villa Seeblick. Nach dem Gymna-sium in Klagenfurt studierte Arthur Lemisch Rechts- und Staatswissenschaften sowie Philosophie in Innsbruck und Graz. Darüber hinaus hatte er sich für ein paar Semester Landwirtschaft an der Hochschule für Bodenkultur in Wien eingeschrieben. Sein Englisch war passabel, so konnten sich die Amerikaner ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers gut mit ihm verständigen. Schon nach wenigen Minuten war Miles klar, dass Lemisch kein Freund der Slowenen war: Er ließ an seiner deutsch-nationalen Einstellung keinen Zweifel aufkommen, sah in der anderssprachigen Volksgruppe nur Aufwiegler, die eine Gefahr für die Einheit Kärntens darstellten.

Fantastische Aussicht

"Look at this," sagte er zu den US-Militärs, erhob sich von seinem Ledersessel und ging zur Bücherwand, aus der er eine Dokumentenmappe zog. "Hier sind die Zahlen der Volkszählung von 1880: Damals gab es in Velden am Wörther See 15,2 Prozent, in Pörtschach 17,4 Prozent und in Maria Wörth sogar nur 2,1 Prozent d e u t s c h sprachige Bewohner. Rund 30 Prozent gaben sich zu der Zeit im gesamten Land als Slowenen aus. 1890 waren es dann nur noch 25 Prozent, und 1900 wieder weniger, nämlich 21 Prozent. Also, ich habe keinen Zweifel, dass Kärnten deutsch bleiben wird und deutsch bleiben muss!"

Bei ihrem dreiwöchigen Aufenthalt im Winter 1919 machte sich die US-Militär-Abordnung nicht nur ein Bild von der möglichen Grenzziehung, sondern studierte auch die Haltung der Kärntner Slowenen. Von deutscher Seite war immer wieder betont worden, dass diese unter dem Einfluss der jugoslawischen Truppen standen. Doch zu Beginn war an eine Erkundungsfahrt nicht zu denken: Jeden Tag kam neuer Schnee hinzu, eine Fahrt außerhalb Klagenfurts war unmöglich. Als sich das Wetter endlich besserte, unternahmen die Amerikaner zuerst einen Spaziergang auf das Kreuzbergl, wo zu Ehren von Kaiser Franz-Joseph ein neuer Aussichtsturm errichtet worden war.

Nachdem sie die 200 Stufen nach oben erklommen hatten, bot sich ihnen eine fantastische Aussicht: Im Westen lag der zugefrorene Wörthersee, umrandet von schneebedeckten Hügeln. Vor allem beeindruckt waren sie aber von der gebirgigen Landschaft im Süden mit den gezackten Gipfeln der Karawanken und der Steiner Alpen. Noch ahnten sie nicht, dass das jener Gebirgszug sein würde, den sie in ihren Überlegungen als natürliche Grenze Kärntens zu Jugoslawien vorschlagen würden. Denn so weit waren sie noch nicht.

In ihrem Papier, das sie am Ende der Erkundungsreise fertigstellte, kam die Delegation jedenfalls zum Schluss, dass "der nördliche Rand der slowenischen Bevölkerung so sehr germanisiert worden ist, dass sie nicht von Österreich getrennt werden möchte". Die Jugoslawen würden jedoch behaupten, "dass diese Germanisierung künstlich sei und hauptsächlich durch politische und soziale Unterdrückung ausgelöst wurde. Die Deutschen wiederum argumentieren, dass dies das natürliche Ergebnis jener Vorteile sei, die die Slowenen aus deutscher Wirtschaft und Bildung gezogen hätten." "Für uns", so kommen die US-Beobachter zum Schluss, "erscheint es nicht logisch, dass ein Volk, welches sich der Vorteile eines höher entwickelten wirtschaftlichen Lebens erfreut und damit ihrem Wunsch Ausdruck verleibt, Österreicher zu bleiben, gezwungen wird, sich dem jugoslawischen Staat anzuschließen."

Immer wieder behauptete die SHS-Seite, die Kärntner Slowenen würden von den Deutschen terrorisiert. Diesen Vorwurf wiesen die Amerikaner als "völlig ohne jede Grundlage" zurück. Je weiter man sich in die Papiere aus jener Zeit vertieft, desto deutlicher wird, dass die Gebietsforderungen der jugoslawischen Seite kaum eine Grenze kannten - oder besser: Dass diese Grenze, wie in den US-Papieren zu lesen ist, dort endet, "wo der letzte Slawe auf österreichischem Territorium lebt". Selbst die Umgangssprache der Menschen sei nach US-Ansicht kein alleiniger und damit brauchbarer Gradmesser für deren Wunsch, sich der einen oder anderen Seite anzuschließen.

Kein Schnitt durchs Herz

Sollte die Grenze am nördlichen Rand der slowenischen Bevölkerung gezogen werden, so schlossen die US-Militärbeobachter mit einem Blick auf die Landkarte, dass damit das Klagenfurter Becken ("The heart of Carinthia") durchschnitten und das Leben aller Kärntner leiden würde. Es musste eine andere Lösung gefunden werden. Nach drei Wochen zwischen Jauntal, Rosental, Drau- und Gailtal, nach unzähligen Gesprächen mit deutsch- und slowenisch-sprachigen Bewohnern, und nachdem sie immer wieder von den schroff vor ihnen stehenden Karawanken beeindruckt worden waren, kommen sie nicht umhin, folgenden Schluss zu ziehen:

Der Grenzverlauf zwischen Österreich und Slowenien.
© Tschubby

"Wir zählen drei Tatsachen auf, die wir für wahrhaftig und wichtig halten: es gibt viele Slowenen, die nicht an Jugoslawien angeschlossen werden wollen, diese Selbstbestimmung (Einschub: ein Jahr und acht Monate vor der Volksabstimmung) ist nicht das Ergebnis von ‚österreichischem Terrorismus‘; und die Ansprüche Jugoslawiens und Österreichs basieren nicht auf der gleichen Logik oder Berechnung. Wir empfehlen daher eindringlich, dass die endgültige Grenze zwischen Österreich und Jugoslawien in Kärnten an der Wasserscheide der Karawanken gezogen wird. Analog dazu empfehlen wir auch, die Grenze westlich und östlich der Karawanken zu den Karnischen Alpen bzw. dem Bacher Gebirge zu verlängern."

Und fast genau so kam es. Bei der Volksabstimmung, die im Wesentlichen im Bereich südlich der Drau und der Gail abgehalten wurde, stimmten 59 Prozent der dort lebenden Bevölkerung für den Verbleib dieses Gebietes bei Österreich. Die Stimme der USA in den Friedensgesprächen war dafür maßgebend, dass die Grenze Kärntens genau jene wurde, die sich auch die Mehrheit erhofft hatte. Ohne Sherman Miles’ Erkundigungen im Jänner 1919 vor Ort wäre das nicht so leicht zu erzielen gewesen.

Eugen Freund, geboren 1951, aufgewachsen in Kärnten, begann seine
journalistische Karriere mit Berichten über den Ortstafel-Sturm und die
Volksgruppen-Problematik 1972. Langjähriger ORF-Redakteur und Mitglied des Europäischen Parlaments von 2014-2019.